Kossakovsky-Retro: Time Goes Out The Window: Tishe!

Tishe! Kossakovsky

Es ist nur der Blick aus einem Fenster in St. Petersburg. Aus dieser scheinbaren Banalität filtert Victor Kossakovsky in seinem Tishe! fast alles, was das Kino auszeichnen kann: Beobachtung, Reflektion, Geschwindigkeit, Zeit, kleine Augenblicke, große Dramen, Humor, Gewalt, Wiederholung, Überraschung, Bewegung, Stillstand, Menschen, Dinge, Tiere, Form, Abstraktion, Freiheit, Subversion… So überraschend ist das allerdings nicht, denn der Blick aus dem Fenster ist ein ganz eigenes Genre, das vielleicht am Anfang und Ende des Kinos stehen muss.

Tishe! Kossakovsky

Inspiriert war der Regisseur laut eigenen Angaben allerdings von der Literatur und der Fotografie. E.T.A. Hoffmanns Kurzgeschichte Des Vetters Eckfenster hat ihn genauso beeinflusst, wie jenes, um 1826 entstandene, (wohl) erste Foto der Fotografiegeschichte, Point de vue du Gras von Nicéphore Niépce, ein Blick auf das, was wir jeden Tag sehen könnten, aber transformiert und mit der subjektiven Wahrnehmung eines Mediums beseelt. Diese Geschichte lässt sich fortsetzen. Man sollte nicht nur an Alfred Hitchcocks Rear Window denken, sondern auch und insbesondere an Amator von Krzysztof Kieślowski. Dort entdeckt der Protagonist seine Leidenschaft für das Kino auch mit Blicken aus seinem Fenster. Er filmt, was dort passiert, die ganz einfachen Dinge, die relevanten Dinge, den Zufall. Einen erstaunlichen Beitrag zum Genre hat auch Lav Diaz mit seinem Kurzfilm The Firefly geliefert, der für das Filmfestival in Venedig entstanden ist. Dort erkennen wir erst nach einigen Momenten, dass es sich um den Blick aus einem Fenster handelt. Einen solchen Blick kann man auch nie vergessen, wenn man sich mit den Filmen von Jonas Mekas befasst hat. Immer wieder betrachtet er den Schnee, den Regen, die Menschen, das Licht aus seiner Wohnung in New York. Schließlich wäre da noch Su Friedrich zu nennen. In ihrem Gut Renovation betrachtet sie wehrlos die Zerstörung ihrer Heimat aus den eigenen vier Wänden. Dieser Film ist gewissermaßen eine Aneignung der digitalen Filmkunst für eine persönliche Sprache ganz analog zu den Bolex-Verschmelzungen von Mekas, die Filme nicht aus den Köpfen, sondern den Herzen und Händen entstehen lassen, direkt und reagierend. Diese Möglichkeit des Kinos hat sich heutzutage leider in schlimmen Auswüchsen in das Internet verlegt, denn die Begierde am scheinbar Persönlichen hat lange schon die Begierde an der Kunst im Persönlichen abgelöst. Es ist auch ironisch, dass der Fensterfilm schon immer auch ein Spiegelfilm war. Denn der Blick aus dem Fenster war immer auch ein Blick in die Seele, da er immer etwas von der ersten Person in sich trägt und im Zuseher eine Neugier nach dem Blickenden bewirkt. Nur im Gegensatz zu den grausamen Mutationen des Genres reflektiert Tishe! diese Gedanken und ermöglicht so eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Welt.

Kossakovsky vermag es zunächst einen sehr beiläufigen und lockeren Ton in seine Beobachtungen zu legen. Strukturgebend für den ganzen Film sind eine etwas zu nette Klimpermusik und die absurden Straßenarbeiten direkt unter der Wohnung. Da wird ein Loch gebohrt und dieses Loch wird dann über einen sehr langen Zeitraum nicht völlig geschlossen. Es gibt Schwierigkeiten mit Überschwemmungen, der Straßenbeschaffenheit und der Arbeitsdisziplin. Immer wieder beginnt die Arbeit von vorne. Menschen bohren, Menschen asphaltieren, sie klettern in die Kanalisation, verlegen Rohre und so weiter. Zusammenhänge werden nicht immer klar, aber alles wirkt zusammenhängend. Ein Treiben, das aus der Fensterperspektive und durch die Montage von Kossakovsky zur völligen Absurdität verkommt. Dabei spielt der Filmemacher auch immer wieder mit der Geschwindigkeit. Er verwendet Zeitrafferaufnahmen und die Einfachheit dieses Stilmittels sowie die unschuldige Faszination, die dabei entsteht, erinnern stark an das Kino der Lumière-Brüder. Tishe! ist auch ein Film über die manipulative Macht von Film. Damit einher, geht auch jenes voyeuristische Element, das vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die Kamera sich auf intime oder romantische Momente fokussiert. So beobachten wir einmal einen jungen Mann, der mit einem Blumenstrauß auf seine Angebetete wartet und ein anderes Mal ein Paar, das sich umschlingend auf der überfluteten Straße wälzt. Die Gefahr spürt man allerdings nur, als man plötzlich Zeuge eines gewaltvollen Polizeieinsatzes wird und die Kamera spürbar mehr wackelt und sich etwas hinter dem Vorhang versteckt. Die moralischen Bedenken, die man dabei haben könnte, wischt Kossakovsky mit einer bemerkenswerten Szene weg. In einer Nacht sehen wir plötzlich in einem warmen Licht seinen Kopf in einer Reflektion. Er wirkt wie ein baudelairescher Teufel, ein Voyeur und er macht den Blick aus dem Fenster damit zu einer Fiktion, da er uns den Blick und den Blickenden selbst bewusst macht. So könnte man Tishe! als eine Ode an den Voyeurismus begreifen, eine Ode an das Kino, in der das Ich des Filmenden eben tatsächlich eine Reflektion bleibt, statt zum Hauptinteresse zu verkommen.

Tishe! Kossakovsky

Die Montage des Films ist auf einem unfassbaren Niveau. Sie ist deshalb so wichtig für den Film, weil sie der Zufälligkeit eine Ordnung verpasst und weil sie der natürlichen räumlichen Begrenzung eine zeitliche Dimension hinzufügen kann. Nun ist Kossakovsky aber gar nicht zu sehr an diesen strukturellen Eigenschaften der Montage interessiert, sondern weitaus mehr an ihrem poetischen Potenzial. Und das passt insofern zum Film, da der Blick aus Kossakovskys Fenster einer Lehrstunde in Sachen Wahrnehmung ist. Wie Chaplin, schneidet er mit den inneren Bewegungen seiner Bilder, die uns dadurch erst im Schnitt bewusst werden. Besonders fließend wird es immer dann, wenn der Schnitt assoziativ durch seinen Film treibt: Ein Laubblatt bewegt sich in dieselbe Richtung wie der Schnee, ein Fußgänger… manchmal erzeugt Tishe! dadurch einen Sog aus peinlichen Berührungen, kurzen Schrecksekunden, erstaunten Gesten, die einen unweigerlich zum Lachen, oder besser, gurgelnden Schmunzeln bringen, obwohl man gar nicht weiß, was dort genau vor sich geht. Man muss sich schon fragen, wie ein einzelner Mann mit seiner Kamera derart viel sehen kann. Es scheint als wäre alles bei Kossakovsky Film. So findet er in dieser Zurückhaltung und scheinbaren Fokussierung auf die banalste Realität dann auch abstrakte Schönheit. Immer wieder sind es Nahaufnahmen von Wassertropfen, dem trocknenden Asphalt, dem Putz an den Mauern oder aber jene verschleiernden Elemente des Alltags, die einen Blick provozieren und bei denen man sich immer fragt, ob man das schön findet, was sie sind, was sie tun oder was sie verbergen. Damit ist der Dampf gemeint, der die Straße unter dem Fenster umhüllt, wenn der Asphalt geglättet wird, die Formen und Spiele des Regens auf dem Boden, die Flammen, der Schnee, das zirkulierende Laub, mysteriöser Rauch, der aus dem Boden dringt, als würde dieser Ort leben, als wäre dort etwas unter uns, was wir nicht verstehen können. Dieses ganze Treiben hat bei aller Schönheit etwas Ermüdendes. Man fragt sich, warum die Dinge nicht einfach stillstehen können. In der letzten Szene des Films gibt Tishe! darauf eine beunruhigende Antwort, die unsere Wahrnehmung nochmal hinterfragt, die uns ganz klar daran erinnert, dass wir bei aller Romantik des Blicks nicht alleine auf das schauen, was passiert. Nur die Erinnerung, der Nebel, das Mysteriöse, das Kino… die gehören uns.