Von Filmen schreiben aber wie?

Gedanken zum Filmkritik-Workshop bei der 47. Duisburger Filmwoche

Im Rahmen der 47. Duisburger Filmwoche fand zum ersten Mal ein gemeinsam vom Festival und Jugend ohne Film organisierter Filmkritik-Workshop statt. Fünf Teilnehmende (Anna Stocker, Christopher Dörr, Derya Satır, Leonie Jenning und Valentin Herleth) wurden für fünf Tage nach Duisburg eingeladen. Dort setzten sie sich unter Anleitung von Eh-Jae Kim und Patrick Holzapfel mit dem Filmprogramm auseinander, diskutierten, schrieben Kurztexte, spazierten durch die Stadt und erarbeiteten im Anschluss an das Festival jeweils einen Text zu La Empresa von André Siegers. Außerdem gab es in gesonderten Treffen Gespräche mit der Filmkritikerin und auf dem Festival unter anderem als Protokollantin arbeitenden Maxi Braun, dem Filmkritiker Fabian Tietke und den Filmemachern André Siegers und Simon Quack.

Der Titel des Workshops „Von Filmen schreiben“ verweist dabei auf ein dezidiert von der Duisburger Filmwoche und Jugend ohne Film geteiltes Verlangen bezüglich des Schreibens über Filme: Nicht ein bewertendes, journalistisches Abarbeiten einzelner Dokumentarfilme sollte im Zentrum des Workshops stehen, sondern ein freierer, essayistischer Zugang, der Filme als Ausgangspunkt für ein kritisches, ästhetisches Denken versteht. Dieses der herkömmlichen Filmkritik aus diversen Gründen mehrheitlich abhandengekommene Schreiben würde sich beispielsweise im Einbeziehen der in Duisburg sehr speziellen Sichtungs- und Diskurssituation, dem Mit-Reflektieren eines eigenen Ichs, der Stadt, des Festivals oder durch außerfilmische Assoziationen äußern.

Im Lauf der Woche merkten wir immer wieder, wie schwer ein solches Ausbrechen aus vorgefertigten Mustern tatsächlich ist. Zum einen, weil die Teilnehmenden oftmals akademischen Kontexten entstammen, die eine bestimmte Form des normierten Schreibens prägen. Dieses äußert sich in der betonten Bedeutung bestimmter Begriffsdefinitionen und läuft zeitweise Gefahr, die gesehenen Filme zu sehr mit theoretischen Diskursen abzugleichen. Zum anderen, weil in der kurzen Atemlosigkeit einer reiz- und themenüberflutenden Filmwoche zunächst gilt, über wichtige Fragen des Dokumentarischen (seien es ethische, politische, ästhetische, festivalspezifische oder filmhandwerkliche Fragen) ins Grübeln zu kommen, bevor man in einem zweiten Schritt auch noch über das Schreiben nachdenken muss. Dass das unseren Teilnehmenden in wenigen Tagen mit einem fürs Schreiben unerlässlichem Mut zum Scheitern gelungen ist, gibt, so pathetisch das klingen mag, Hoffnung.

In den gemeinsamen Sitzungen mit den Teilnehmenden, vor allem jenen mit Maxi Braun und Fabian Tietke, trafen immer wieder die vorherrschenden Wirklichkeiten des Filmkritiker:innendaseins auf die eigentliche Lust am Sehen, Diskutieren und am Text. Es stimmt nachdenklich, dass das Vermitteln beruflicher Gegebenheiten so stark auseinanderdriftet mit den Wünschen, die man ans Schreiben über Filme legt. Für jeden Gedanken, den wir an das Sehen, die Wahrnehmung, das Fühlen richteten, tauchte ein anderer auf, der von fehlender Zeit, ökonomischen Wirklichkeiten und einem daraus folgendem Pragmatismus erzählte. Die von Valentin Herleth in seinem Text beschworene Gleichzeitigkeit aus Melancholie und Absurdität ist demnach nicht nur eine Sache von La Empresa, sie entwächst einer Wirklichkeit der Filmkultur.

Da das Festival mit seiner auf Debatten ausgelegten Struktur besonders stimulierend auf kritische Impulse wirkt, ermöglicht es Räume, die den Potenzialen filmkritischen Denkens Auftrieb verleihen. Ein solcher Workshop ist auch eine Simulation, eben eine solche, wie La Empresa, über den Leonie Jenning in ihrem Text schreibt:

Eine Simulation ist insofern jederzeit eine Grenzerfahrung. Sie bildet die Schnittstelle zwischen dem Simulierten, der Wirklichkeit, und sich selbst, der Simulation.

Was damit gemeint ist, zeigte sich beispielsweise in der Begegnung der Teilnehmenden mit den Filmschaffenden, über deren Film sie schreiben würden. Die möglichen Ansatzpunkte einer Kritik drohen in solchen menschlichen Begegnungen für gewöhnlich verloren zu gehen. Filme lassen sich eben leichter kritisieren als Menschen. Gleichzeitig sollte Kritik über persönlichen Konflikten stehen. Sie ist bestenfalls eine unabhängige Form des Dialogs, des gemeinsamen Nachdenkens. Wenn also Anna Stocker in ihrem Text bemerkt: Es bleibt eine Unsicherheit darüber, ob diese distanzierte Ironie vielleicht auch bequem ist und Christopher Dörr sein Sinnieren über La Empresa just an dem aufhängt, was der Film ausspart, dann sind das keine urteilenden Abwertungen des Gesehenen, sondern ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem, was ein Film auch über seine eigenen Grenzen hinaus in sich trägt. 

In diesem Zusammenhang ist eine geäußerte Verunsicherung, wie jene im Text von Derya Satır, als sie von einem Zwiespalt zwischen Unglauben und Neugier schreibt, besonders relevant. Das Entstehen solcher Texte entspringt bestenfalls einer Irritation. Was man schon weiß, bewirkt selten wirkliche Lust am Schreiben. Wie also Wörter finden, für etwas, dass wir mit jedem neuen Sehen bestenfalls auch neu verstehen müssen? In dieser Hinsicht spiegelt die Erfahrung des Workshops und auch jene der Diskussionen innerhalb der Gruppe die Gespräche, denen man in den offiziellen und inoffiziellen Räumlichkeiten während der Filmwoche beiwohnen darf. Es ist eine Erfahrung, die einen stark mit den eigenen und den generellen Schwierigkeiten des filmischen Diskurses konfrontiert und die gerade deshalb produktiv und wichtig ist.

La Empresa über la empresa von El Alberto (Anna Stocker)

La Empresa – Und Ich? (Christopher Doerr)

Dank Ernesto, wenn überhaupt (Derya Satir)

DER AUSNAHMEZUSTAND für umgerechnet 18,50 Euro (Leonie Jenning)

Werbung: Der Dokumentarfilm „La Empresa“ (keine echte Werbung) (Valentin Herleth)

Duisburger Filmwoche 2022: EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR von Jan Peters

Wenn ein Monat zu dreien wird. Drei Minuten, manchmal zu fünf. Und Alltag plötzlich zum Film. Wie in einem Videotagebuch versucht der Filmemacher Jan Peters seinen persön lichen Januar analog auf Super-8-Film einzufangen. Eine Struktur, die bedarf, gebrochen zu werden. So fügen sich am Ende zwar 31 Filmausschnitte zusammen, jedoch entstehen diese weit über den bedachten Monat hinaus. Wesentlich ist das aber nicht, denn Blick und Linse liegen hierbei genau auf dem vermeintlich Unwesentlichen.


Ein Film bestehend aus vielen kleinen Filmen. Jan Peters nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine Alltagsmomente, die sich in ihrer Mischung aus Trivialität und Besonderheit zu einem bunten Mosaik zusammenfügen. Nach seinen zwei Projekten NOVEMBER, 1-30 und DEZEMBER, 1-31 war es für den Filmemacher an der Zeit, erneut den Versuch zu starten, einen Monat lang, jeden Tag eine dreiminütige Filmrolle, wie ein Tagebuch mit Erinnerungen zu füllen.

Der Name ist Programm. Denn Peters „eigentlicher Januar!“ wird erst durch weitere Aufnahmen der Monate Februar und März zum letztlich dokumentierten Januar. Anspielend auf genau dieses Prinzip der Zeitlichkeit eröffnet der Moderator das Gespräch mit der Frage nach dem Regelbruch innerhalb der geplanten Chronologie. Sehr unkompliziert und offen gibt der Filmemacher zu, dass er es sowohl bei diesem als auch bei seinen zwei Vorgänger-Filmen einfach nicht geschafft habe, täglich zu filmen und sich der Dreh deshalb über einen längeren Zeitraum erstrecken musste. Eine authentische Antwort, die im Publikum für Sympathiepunkte sorgt, von denen Peters bereits einige mit seiner im Film zur Schau gestellten und unendlich wachsenden To-do-Liste sammeln konnte. Auf die Frage, warum er es denn trotzdem immer wieder versuchen würde, dieses Format erneut aufzugreifen, antwortete Peters ziemlich schlagfertig mit dem Zitat „a picture a day keeps the doctor away”. Bezüglich seines Spiels mit den 31 Filmrollen, die mitten im flüsternden Voice-Over abbrechen, erklärt er seine Struktur in genauso simpler Manier: „Ich habe 31 verschiedene Rollen und die füge ich am Ende einfach zusammen”.

Wenn man jedoch seinen 100-minütigen Film anschaut, wird einem schnell bewusst, dass sich der Filmemacher an dieser Stelle durchaus zu bescheiden gibt. Denn obwohl die eingefangen Momente relativ willkürlich erscheinen, steckt lange Arbeit hinter den künstlerischen Aufnahmen und ihrem Prozess der Entwicklung.

Ein simples Regelwerk bildet den Rahmen des Filmes, welcher seine Dynamik aber dadurch behält, dass die eigens auferlegten Regeln an vielen Stellen bewusst gebrochen werden und Sequenzen mal länger, mal kürzer andauern. Der Moderator erkennt die Thematik von analogen Fotos als möglichen roten Faden des Filmes. Wir sehen Bilder über Bilder. Darunter sind heimatlose und fremde Fotos, gefunden auf der Straße nach Neujahr, wie auch intime Aufnahmen aus dem eigenen Familienalbum.

Während des Gesprächs erhält Peters einiges an positiver Resonanz. Doch äußerten sich auch ein paar Stimmen, die auf eine gewisse Überforderung durch Reizüberflutung aufmerksam machten, welche sich durch die schnell wechselnden Aufnahmen in Kombination mit der gesteigerten Sprechgeschwindigkeit des Voice-Overs entstand. Demnach fühlten sich manche aus dem Publikum entweder hellwach oder ziemlich ermüdet nach dem Film. Allerdings empfindet Peters beide Reaktionen als völlig legitim. Denn genau diese Einheitlichkeit der Struktur mit den uneinheitlichen Aufnahmen erlaube es einem innerhalb der drei Minuten auch mal „abzudriften!”, um sich dann in einem neuen Januartag wiederzufinden. Die Überforderung des Textes und der Bilderflut würde zudem nur noch mehr dazu einladen, den Film ein zweites oder sogar drittes Mal zu sehen, wie eine Stimme aus dem Publikum feststellt und somit das beklatschte Schlusswort bildet.

Von Sina Wohnhaas

Duisburger Filmwoche 2022: 5 Dreamers and a Horse von Vahagn Khachtryan

Träume. Werden sie in Erfüllung gehen oder zerfallen? Während sich ein junger Mann in einer abgeschiedenen Gegend Armeniens nach einer Partnerin sehnt, kämpfen am anderen Ende des Landes zwei junge Frauen für eine gendergerechte Zukunft. Die Fahrstuhlführerin hingegen träumt von den Sternen.

Der Beginn des Filmes 5 DREAMERS AND A HORSE scheint Mischa Hedinger auch passend als Einleitung für das Gespräch mit dem Filmemacher Vahagn Khachtryan und dem Editor Federico Delpero Bejar zu sein. Der Reiter, der mit seinem Pferd durch die weiße Weite galoppiert, erscheint wie ein Traum. Doch plötzlich fällt das Pferd und wir erwachen. Es ist ein Film über Träume, aber auch über die Realitäten unterschiedlicher Generationen, der Gesellschaft Armeniens, in der Frauen noch immer für die Ehe gekidnappt werden können. Es ist kein Frieden für die LGBTQ+-Community in Sicht. Hedinger erkennt unterschiedliche Vorstellungen der Träumenden, sowie des Regisseurs und der Zukunft, aber auch das Gefühl der Stagnation.

Die Frage, wie viel Fiktives in dem Dokumentarfilm steckt, kann auch Khachtryan nicht beantworten. Er selbst arbeitet mit Menschen, um ihren Wirklichkeiten einen Raum zu geben. Die darstellenden Personen wurden im Laufe des Filmes selbst zu Regisseur:innen. Wie viel Fiktion also im Kaffeesatzlesen der alten Dame oder im Kartenspiel der Mädchen ist, muss das Publikum sich selbst beantworten.

Das Konzept des Films scheint sehr natürlich entstanden zu sein. Seine Arbeit begann vor einigen Jahren mit seinem Neffen, der damals unbedingt ein Pferd haben wollte, das sich die Familie aber nicht leisten konnte. Als Khachtryan einige Jahre später nach Armenien wiederkehrte, hatte sein Neffe zwar ein Pferd, aber wollte nun eine Frau. Im selben Jahr, 2017, traf er den Co-Regisseur Aren Malakyan. Sie fingen an, über die Träume verschiedener Generationen zu sprechen und suchten nach Charakteren, die nach den Träumen ihrer Kindheit strebten, erklärt Khachtryan nach einer Publikumsfrage.

Der filmische Prozess scheint, genau wie das Konzept, einen organischen Vorgang zu haben. Khachtryan ist nicht nur Regisseur, sondern auch Kameramann und Freund – es war eine Entwicklung in jeder Hinsicht. Das Gefühl sollte stimmen und so entstand auch ein Gefühl für die verschiedenen Kamera-Positionen, Bewegungen und Charaktere.

Wie kam es aber dazu, dass man nur drei anstelle der fünf Personen, wie im Filmtitel beschrieben, zu sehen bekommen hat? Federico Delpero Bejar erklärt, dass es schwierig war, alle Geschichten auf eine natürliche Art und Weise zu verbinden. Sie seien alle interessant, aber am Ende sei eben ein Fluss aus dem Schweben, Aushalten und Bewegen entstanden, welcher die Generationen und Personen auf natürliche Weise verbinde. Der Reiter beispielsweise sollte die Darstellung von Tradition wiedergeben und das Gefühl der Weite erwecken. Die Frau im Aufzug hingegen sei eingesperrt und isoliert, weswegen sie nach Weite strebe, ergänzt der Regisseur.

Hedinger wundert sich, warum am Ende die Häuser, fremde Menschen, Explosionen und die große Demonstration mit tausenden von Menschen gezeigt werden. Khachtryan entpuppt sich selbst als einer der Träumenden, dessen Wünsche eben 2020 durch den Krieg gestorben sind.

Durch die Explosionen und die Darstellung der Massendemonstration stellt sich das Publikum auch die Frage, wie der Film in Armenien selbst angekommen ist und ob dieser überhaupt gezeigt werden durfte. Der Film wurde in Armenien staatlich gefördert und dort schon zweimal gezeigt. Bei der Premiere selbst wären auch die Darsteller:innen, zum Teil mit Frau und Kind, gekommen. Manche Träume erfüllen sich, während andere sterben. Khachtryan gesteht, dass er Angst vor der internationalen Reaktion hatte, aber irgendwie habe jede:r den Film am Ende gefühlt und verstanden. Der Traum ist am Ende also auch das Träumen selbst. Doch Träume scheinen sich vor allem dann zu erfüllen, wenn man auf dem Weg dorthin nicht allein ist.

Von Fabia Suhl

Duisburger Filmwoche 2022: Aşk, Mark ve Ölüm von Cem Kaya

Als türkische Arbeitsmigrant:innen in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland kommen, werden sie für den Wohlstandserhalt gebraucht, aber von vielen Bundesbürger:innen nicht gewollt. Um Ausgrenzung und Heimweh zu entfliehen, retten sich viele in die Kultur der Heimat und lassen einen riesigen türkischsprachigen Musikmarkt entstehen. Aşk, Mark ve Ölüm dokumentiert diese an der Mehrheitsgesellschaft vorbeigegangene Geschichte mithilfe von Musiker:innen, Fans und Zeitzeug:innen.

Als das Licht nach dem Film angeht, hat man das Gefühl, am dritten Festivaltag einen ersten Publikumsliebling gesehen zu haben. Im Kino gibt es viele grinsende Gesichter und die positive Stimmung überträgt sich auch auf die anschließende Diskussion im naheliegenden Saal. Regisseur Cem Kaya macht mit dem Smartphone Fotos von den Menschen, die hier sitzen und zum großen Teil auch stehen. So voll wie nach seinem Film, war der Diskussionraum nie wieder. Bei der Begrüßung wird überschwänglich applaudiert.

„Was ein Knaller.“, leitet Moderatorin Nesrin Tanç die Gesprächsrunde über den Film ein und bedankt sich gleichzeitig beim Regisseur, dass endlich die Musikkultur türkischer Migrant:innen in der Bundesrepublik Deutschland thematisiert wird.

Anders als der Film ist der Beginn des Gesprächs etwas trocken und es geht hauptsächlich um die Arbeit mit Archivmaterial. Ein Großteil davon sind Mitschnitte aus dem bundesdeutschen Fernsehen, Musikvideos migrantischer Künstler:innen und Familienaufnahmen türkischer Hochzeiten in Deutschland. Vieles hatte sich schon durch die Vorgängerfilme Kayas über die türkische Popkultur angesammelt, so auch einige Interviews, die teilweise bereits 2011 geführt wurden. Die Recherche, Sichtung und Sortierung von Archivmaterial nahmen einen großen Teil der Arbeit ein und laut Kaya ging es immer wieder darum, aus der Masse besonders exemplarische Elemente zu finden. Als Beispiel nennt er einen Ausschnitt aus einer Fernsehshow mit Rudi Carrell, in dem sogenannte „Gastarbeiter“ mit aufgeklebten Bärten zu sehen sind und der eindrücklich erkennbar macht, wie die angeworbenen Migrant:innen dargestellt und wahrgenommen wurden.

Dann spricht Tanç an, was den Film wohl so beliebt macht. Die „catchy“ Inszenierung Kayas, die eindeutig seine Handschrift trägt und der wohl zuträglich ist, dass er Werbe- und Musikvideos dreht. Er selbst wollte seinen Film „bigger-than-life“ wirken lassen und nutzte dazu unter anderem Weitwinkelkameras in den Interviews, um neben den Talking-Heads auch deren Umgebung zu zeigen und auf diese Weise viele Bilder für die Zuschauer:innen bereitzustellen. Er bemerkt außerdem, dass es sich um einen Essayfilm handelt, der die Kollektivgeschichte aus seinem subjektiven Blick erzählt.

Tanç betont noch einmal, wie dankbar sie für den Film ist, da er auch einen Teil ihrer Geschichte zeigt, den sie nie teilen konnte und der für die Mehrheitsgesellschaft immer noch unsichtbar ist. In ihrer spürbaren Euphorie reißt sie die Diskussion aber etwas an sich und lässt zunächst wenig Platz für die Fragen und Anmerkungen der Zuschauer:innen. Erst nach einer Intervention des Regisseurs kommen Meldungen aus dem Publikum. Und hier wird schnell deutlich, dass auch dieses dankbar für den Film ist, da es zum großen Teil die Mehrheitsgesellschaft widerspiegelt, die keine Ahnung von der migrantischen Musikkultur hatte und nun endlich einen Einblick bekam.

Eine Zuschauerin lobt, wie mühelos der Film es schafft, zwischen Türkisch und Deutsch, in der gesprochenen Sprache wie in den Untertiteln, zu rotieren. Kaya erklärt dazu, dass er es seinen Protagonist:innen überlassen hat, in welcher Sprache sie sprechen wollen. Er merkt außerdem an, dass am Anfang des Films viel Türkisch und im weiteren Verlauf immer mehr Deutsch gesprochen wird, was seiner Meinung nach auch die Entwicklung der Generationen der Deutsch-Türken widerspiegelt.

Mit „Ey, die haben doch auch GEZ bezahlt, verdammte Scheiße“ bringt ein Zuschauer seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass die Migrant:innen nicht nur mit Ihrer Musik so wenig in den deutschen Medien vorkamen.

Auf die Frage, warum der Film dort endet, wo er endet, antwortet Kaya, dass er dort aufhören wollte, wo das Internet anfängt. Mit der Möglichkeit von YouTube und Ähnlichem wären die Schranken für die Sichtbarkeit von migrantischen Künstler:innen deutlich gefallen.

Zum Ende redet Kaya noch einmal euphorisch über die Arbeit mit dem Archiv und darüber, was es nicht in den Film geschafft hat. So hat er einen Abschnitt über politische kurdische Musik ausgelassen, da er selbst nicht mit dem Thema vertraut ist und sich dieses nicht aneignen wollte. Das Publikum entlässt den Filmemacher mit ebenso viel Applaus, wie es ihn empfangen hat. Auch nach einer Stunde Redebeiträgen ist wenig von der Begeisterung für Aşk, Mark ve Ölüm verloren gegangen.

Von Christopher Groß

Duisburger Filmwoche 2022: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien von Constantin Wulff

Die Wiener Arbeiterkammer ist eine geschäftige Institution, selbst wenn die Corona-Pandemie ihre Hallen leert und die Menschen in den Onlinebetrieb zwingt. In, mit der Kamera begleiteten, Beratungsgesprächen offenbaren sich die vielfältigen Probleme und Ausbeutungsstrategien am Arbeitsmarkt und zugleich die Arbeit einer Organisation, die all dem entgegenwirkt und versucht, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Eingangs schildert Moderator Mischa Hedinger seine Seheindrücke. Nach seinem ersten Gefühl sei der Film sehr nah an den Menschen und ihren Ausbeutungserfahrungen gewesen, öffne sich dann aber plötzlich und der Ort und die Institution rücken in den Fokus. Er betont die Vielschichtigkeit und lobt den doppelten Blick auf die Arbeit der Institution, einmal von der Institution aus, aber auch von den Arbeitnehmenden.

Wulff bedankt sich für das Lob und beantwortet die erste Frage nach der Arbeitsmethode und dem Verhältnis zu Frederick Wiseman, der bekannt ist für seine Institutionenporträts. Mit Wiseman stehe er in freundschaftlichem Austausch und schicke Wiseman seine Filme vor der Veröffentlichung. Sie unterschieden sich jedoch in der Arbeitsweise, da Wulffs Film eine knapp einjährige Recherchephase vorausgegangen sei. Daraus sei das besondere Interesse an den Beratungsgesprächen hervorgegangen. Wulff interessiere sich weniger für die individuellen Schicksale, als für ein Bewusstsein der Strukturen. Diese ergeben sich im Film aus häufig vertretenen Berufen und auch deshalb habe er sich entschieden, die Szene über Bauhaftung im Film aufzunehmen.

An die Strukturen knüpft eine spätere Fragestellerin an. Sie hätte gerne erfahren, wo die Arbeiterkammer scheitert. Wulff entgegnet, die Zahl sei sicher hoch, sein Interesse habe aber nicht den Einzelfällen, sondern der Institution Arbeiterkammer gegolten, die bereits durch ihre Existenz die Situation auf dem Arbeitsmarkt immens verbessert habe. Anmerkend dazu wird im Publikum auf den Titel Für die Vielen anstatt „Für Alle“ verwiesen.

Ein Zuschauer lobt die Werbefilmszene und erklärt sich zum Fan des Werbefilms, woraufhin kurzes Gelächter ausbricht. In seiner Lächerlichkeit vermittle die Szene doch auf eine rührende Weise die emotionale Bindung zum Thema Gerechtigkeit. Wulff ergänzt, er finde die Szene auch spannend, da sie viel über das Selbstverständnis der Institution verrate.

Die nächste Frage dreht sich um die Pandemie, woraufhin Wulff eifrig unterbricht, um die Antwort „vorwegzunehmen“. Corona habe ihn „null interessiert“, ließe sich aber durch den beobachtenden Blick, den der Film einnimmt, nicht ausblenden. Ein offenkundig betrunkener Mann unterbricht das Gespräch aus der ersten Reihe und gibt einige wenig verständliche Worte von sich, welche sich lose auf das Thema Pandemie beziehen. Er hört nicht auf zu reden und allgemeine Unruhe bricht im Saal aus. Es gibt Zwischenrufe, „Wir wollen über den Film reden!“, bis schließlich ein Mann das Wort ergreift und einfach laut über den Film spricht. Der Saal beruhigt sich wieder. Während der Pandemie, welche die Form der Arbeit verändert hat, stellte sich die Arbeiterkammer als wichtige Institution heraus, die auch politische Arbeit leistete. Wulff zeigt sich glücklich, durch die Vernetzung in der Kammer auf die Maskenaffäre (österreichische Firmen hatten chinesische Masken importiert und diese als „Made in Austria“ umetikettiert) aufmerksam geworden zu sein.                                                   

Die Fragerunde öffnet mit der Frage nach der rechtlichen Grundlage der Firmennennungen im Film. Wulff erklärt, sowohl mit der Institution als auch juristisch genau geklärt zu haben, dass es möglich sei, die Namen der Firmen zu gebrauchen. Dies diene der Arbeiterkammer sogar als Prävention, denn viele Firmen tauchen immer wieder in der Arbeit der Kammer auf.

Die Rezeption des Films sei in Deutschland überraschend positiv, in Österreich gebe es von der Linken eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber der Kammer, die in ihrer Gründung fußt, sich jedoch in den letzten Jahren gelegt habe. Worauf diese Voreingenommenheit fußt, bleibt in der Diskussion unklar. Einige Linke kritisieren beispielsweise, dass der starre Fokus auf Arbeiter andere soziale Gruppen ausblende, oder werfen ihr eine zu enge Beziehung zur Sozialdemokratischen Partei Österreichs vor.

Danach gefragt, wie es Wulff gelinge, bei so einem langen Dreh die kritische Distanz zu wahren, antwortet er, die Grundregel sei, dass die Institution vertraglich keinen Einfluss auf den Schnitt nehme. Ein gewisses Vertrauen der Mitarbeiter sei natürlich nötig, er wiederhole jedoch keine Szenen und interveniere nie in den Arbeitsvorgang. Anschließend finde im Schnitt eine „kalte Analyse“ des Materials statt, die die nötige Distanz gewährleiste.             

Kritisch wird dann die Schlussszene, in der der Film von der Arbeiterkammer in die ruhigen Straßen Wiens wechselt, diskutiert. Auf einige Zuschauer wirkt sie leer, auch Hedinger stellt in Frage, ob es der bestmögliche Schluss sei. Die Szene sei in ihrer Bedeutung zu vielschichtig und lüde uns zu sehr ein, über die Häuser und deren Einwohner zu spekulieren. Wulff verteidigt sie als Rückbezug zum Anfang, sowie von der Institution zu den Arbeitern, ihm gefalle die Offenheit der Szene.

Zum Schluss wird noch über das Verhältnis zu den abgebildeten Menschen gesprochen. Wulff erläutert, alle hätten eine Einverständniserklärung unterschrieben und durch die lange Wartezeit konnte er das Projekt meist gut erklären. Das Team sei mit der Kamera immer sehr präsent gewesen, das Gegenteil zu einer „unsichtbaren Kamera“, die Wulff scharf als „Überwachungskamera“ kritisiert.

Die Diskussion beleuchtet die respektvolle und zugleich interessiert-distanzierte Haltung, mit der in Für die Vielen eine Institution betrachtet wird. Die Arbeiterkammer erschließt sich dem deutschen Zuschauer, trotz eines fehlenden deutschen Pendants, durch reines Beobachten der Arbeitsschritte.

Von Luk Polleit

Reden ist Gold: Gedanken zur Duisburger Filmwoche

Die Duisburger Filmwoche ist unlängst zu Ende gegangen, buchstäblich und in einem übertragenen Sinn. Denn die 42. Ausgabe des renommierten Festivals des deutschsprachigen Dokumentarfilms war zugleich die letzte unter der Leitung von Langzeitintendant Werner Ružicka. Dieser ist, wie man so sagt, ein Unikat. Davon zeugt zum Beispiel, dass er mir schon lange, bevor ich seinen Namen kannte, bei anderen Filmveranstaltungen aufgefallen ist. Seine unverwechselbare weiße Struwweltolle, sein eigentümlicher, sanft-aber-hastig tapsender Sprachduktus, seine mal wunderlichen, mal ironischen, mal präzise sezierenden Fragen und Kommentare bei Q&As.

Kennengelernt habe ich Ružicka abseits eines einzigen Interviews nie, doch wenn mir Leute sagen, dass seine Persönlichkeit prägend für Duisburg war, glaube ich das gerne. Aus der Distanz wirkt er auf mich wie ein Vertreter jener Kulturvermittlergeneration, zu der auch Leute wie Hans Hurch gehörten; eigenwillige und strittige Charakterköpfe, die nun langsam etwas glatteren Galionsfiguren zu weichen scheinen. Ob das irgendwas bedeutet, sei dahingestellt – jedenfalls halte ich es nicht für unangemessen, diesen kurzen Duisburg-Abriss (no pun intended) mit einem Vermerk zum Abgang Ružickas einzuleiten.

Duisburger Filmwoche

Meine Filmwoche war freilich keine Woche, sondern ein Dreitagesausflug – in Duisburg war ich am Wochenende vom 9. bis zum 11. November, rechtzeitig zum Ausklang des Festivals. Es war erst mein zweiter Besuch: Das letzte Mal war ich vor zwei Jahren dort. Duisburg ist ein Festival mit Profil. Das heißt, dass es sich nicht nur durch sein Programm oder seinen Schauplatz auszeichnet, sondern auch dadurch, dass dort dank bestimmter Strukturen Stimmungen und Erfahrungen generiert werden, die in dieser spezifischen Form anderswo unwahrscheinlich sind.

Alle Filme werden an einem Ort präsentiert – namentlich im Filmforum, dem ältesten kommunalen Kino Deutschlands. Screening-Überlappungen gibt es nicht – theoretisch besteht für jeden Festivalbesucher die Möglichkeit, jeden einzelnen Programmbeitrag auf der Leinwand zu sichten. Nach den Vorführungen wandert, wer will, durch eine Tür nahtlos hinüber ins Nebengebäude, das Kulturhaus Grammatikoff. Dort befindet sich im zweiten Stock ein Mehrzwecksaal, wo Stuhlreihen und eine kleine Bühne der Besetzung harren.

Ein altgedientes Diskussions-Dispositiv: Filmemacherinnen und Filmemacher, deren Arbeiten nach Duisburg geladen werden, sind seit jeher (i.e. 1977) dazu angehalten, auch sich selbst mitzunehmen und für ein zumeist einstündiges Konversatorium zur Verfügung zu stellen. Diese verlaufen (in der Regel bzw. in meiner beschränkten Erfahrung) so, dass zunächst ein/e Moderator/in einleitende Worte mit den Gästen wechselt und hernach das Publikum um Einlassungen bittet. Sämtliche Erörterungen werden von wechselnden Schriftführerinnen und Schriftführern protokolliert und kurz darauf öffentlich gemacht.

Filmforum

Das Online-Archiv dieser Überlieferung lässt sich hier einsehen: http://www.protokult.de/ Die Beschaffenheit der Protokolle variiert, ist aber so gut wie nie im trockenen Gerichtsschreiber-Stil gehalten, sondern zumeist mit Anmerkungen, Kommentaren, Interpretationen und Aperçus gespickt. Hier ein aktuelles Beispielexzerpt:

„Die Diskussionen in Duisburg können vieles sein: anregend, kontrovers, kitschig, unbequem, wortkarg, wirsch, streitlustig, quasselig – manchmal aber auch einfach sehr amüsant. So auch in weiten Teilen der Austausch zwischen Rainer Komers, Werner Ružička und dem Publikum im Anschluss an das Screening von Komers’ Film BARSTOW, CALIFORNIA. Die Antworten des Regisseurs sind mithin eigenwillig und folgen nicht unbedingt der durch die Fragen vorgegeben Richtung. Sprunghaft unterbreitet Komers Anekdoten in Form fragmentarischer Halbsätze und das Auditorium genießt die erheiternde Stimmung hörbar. Das Komische liegt mithin in der Inkongruenz von Form und Inhalt. Obwohl Komers eine gewisse stoische Bedächtigkeit an den Tag legt, schiebt er ganz nebenbei immer wieder ziselierte bis kauzige Erläuterungen ein.”

Die Diskussionen und ihre zugehörigen Protokolle sind das zentrale Alleinstellungsmerkmal Duisburgs. Das Programm ist zwar relativ klar konturiert, aber es bietet kaum Arbeiten, die man nicht schon auf anderen Festivals sehen konnte. Der Reiz der Veranstaltung liegt in der intimen Atmosphäre, im kleinen Rahmen, der sich hauptsächlich mit Leuten füllt, die weder zufällig reingestolpert noch den Weisungen eines Eventkalenders oder Abendgestaltungsbedürfnisses gefolgt sind, sondern vom ausdrücklichen Interesse geleitet werden, sich mit den gezeigten Filmen zu beschäftigen. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um Spezialisten, aber Duisburg ist kein „Publikumsfestival” im klassischen Sinne. Kurz vor meiner Ankunft im Filmforum bin ich bei einem Friseur um die Ecke. Er fragt mich, warum ich als Österreicher hier bin. Als ich ihm von der Filmwoche erzähle, weiß er nicht, wovon ich rede. Die Bedeutung als lokales Kulturevent soll dem Festival mit dieser Anekdote keinesfalls abgesprochen werden; sie scheint mir nur ein Indikator seiner relativen Nischigkeit zu sein. Zum Teil durchaus im Wortsinn: Die Zentren der Filmveranstaltung sind im Weichbild der Stadt nicht wirklich exponiert.

Aggregat von Marie Wilke

Was hat es nun auf sich mit der sagenumwobenen Duisburger Diskussionskultur? Ich werde versuchen, zu beschreiben, wie ich sie in ihrer gegenwärtigen Ausprägung und im Zuge meiner knappen Einblicke erlebt habe. Die räumliche Ordnung des Grammatikoff-Saals schafft von Vornherein eine leicht gespannte, aber im Grunde gesittete Atmosphäre. Gäste und Moderatoren sitzen erhöht, im Offenen und dem Publikum zugewandt hinter einem Podium. Wasserflaschen und Tischmikrofone gemahnen an die erwartungsvolle Aura von Pressekonferenzen, nur ohne lautstarken Medienrummel. Heuer hatte das Podium eine mit rosa Kacheln verkleidete Front, vor denen große, dunkelrote 3D-Lettern das aktuelle Festivalmotto ausbuchstabierten: „Handeln”. Die Ironie, dass man hier in erster Linie zum Reden war, dürfte niemandem entgangen sein.

Der erste Teil der meisten Diskussionen, denen ich bei meinen zwei bisherigen Duisburg-Besuchen beiwohnen durfte, unterschied sich in meinen Augen kaum von konventionellen Publikumsgesprächen bei anderen Festivals. Die Moderatoren stellen ein paar allgemeine, nie zu offensive oder fordernde Fragen zu Ursachen und Konzepten, die von den Filmemachern auf die ihnen jeweils eigene Art beantwortet werden. Das dauert für gewöhnlich etwa 20 Minuten. Danach wird das Publikum eingeladen, sich zu Wort zu melden. Jemand zeigt auf, bekommt ein Mikro ausgehändigt und spricht.

Die Differenz liegt im Detail. Zum einen erzeugen die bescheidene Größe des Saals und das Bewusstsein, dass man ihn sich über weite Strecken immer wieder mit denselben Leuten teilt, ein Gefühl der Nähe, das gewisse Grundhemmungen löst. Die Fragen, die gestellt werden, scheinen sich nicht mehr nur an die Gäste zu richten, sondern an alle im Raum. Der zweite Faktor ist Zeit: Das Wissen um die potenzielle Ein- und in manchen Ausnahmefällen auch Mehrstündigkeit der Diskussionen ermutigt Gäste, sich bei Bedarf ausführlicher zu äußern – und Besucher, im Zweifelsfall nachzuhaken. Während anderswo oft Frage für Frage „Themen” abgeklappert werden, kommt hier öfter vor, dass ein bestimmter Aspekt genauer ausklamüsert wird.

Aggregat von Marie Wilke

Zuweilen geht es dabei sicher, wie oben vom Protokollanten beschrieben, „wirsch”, „amüsant” und „unbequem” zu, aber nur selten wirklich wild – dafür gebietet das bei aller Intimität immer noch einigermaßen offiziöse Ambiente schlichtweg zu viel Respektsabstand vor allen Anwesenden. Im Übrigen wird dieser automatisch (und verständlicherweise) verstärkt, wenn Darsteller der Dokumentarwerke neben den Filmemachern sitzen. Im Gegenzug verringert die ausnahmsweise Abwesenheit eines geladenen Gastes die Zurückhaltung der Diskutanten. Die einzige Eskalation, die ich bislang in Duisburg miterlebte, war nach einem Screening von Ulrich Seidls Safari. Der Regisseur hatte sich aus Termingründen entschuldigt, die Besprechung seines Films fand ohne ihn statt. Binnen kurzer Zeit waren Pro-Kontra-Fronten verhärtet, die Stimmung aufgeheizt und der Wutpegel hoch.

So in etwa ging es in Duisburg „früher” des Öfteren zu, heißt es hin und wieder. Festivalveteranen munkeln von energischen, tiefschürfenden Schlagabtäuschen, Filmemacher von Tränen- und Angstschweißausbrüchen. Ein Narrativ rund um diese Legenden besagt, dass das bessere Zeiten waren: Produktive Streitkultur und so, politisch und unverstellt. Als – full disclosure – Mitgestalter eines Kinodiskussionsformats, dass selbst auf den Abbau von Gesprächshierarchien und übermäßiger Vorsicht sowie auf die Umgehung ritualisierter Drechslerei von Stehsätzen abzielt, bin ich diesem Mythos durchaus zugetan. Gleichzeitig fällt es mir schwer, ihn als Idealbild zu akzeptieren. Dass dort, wo lauter geschrien und tiefer geschnitten wird, bei weitem nicht immer mehr emotionale/intellektuelle Erkentnisse/Verständnisse entstehen, scheint mir heutzutage allzu offenkundig. Von einer „Debatte” im Sinne eines konstruktiven Konflikt-Spiels konnte im Safari-Fall jedenfalls keine Rede sein.

Aggregat von Marie Wilke

Nachvollziehbar ist die Sehnsucht nach enthemmendem Radau und heftiger Direktkritik (samt gleichermaßen heftiger Replik) durchaus. Eine der zentralen Frustrationen der Duisburger Diskurse für Filmemacher und Zuschauer, die sich bereits intensiv mit diversen ethischen, formalästhetischen und anderweitigen Fragestellungen des (dokumentarischen) Kinos beschäftigt haben, und in deren Genuss man selbst dann kommt, wenn man nur einer einzigen Ausgabe des Festivals beiwohnt, ist die zyklische Verhedderung in immergleichen Argumentations- und Gegenargumentationsschleifen, deren Auflösung gemeinsame Basisarbeit erfordern würde, für die selbst eine Stunde nicht reicht. Wurden die Gefilmten ausgebeutet? Wird einem ein Blickpunkt aufoktroyiert? Warum wurde dies und das nicht gezeigt, aber das und dies schon? Zuviel Distanz! Zu wenig Distanz! Berührend? Manipulativ! Nicht genug Information? Zu viel Off-Kommentar! Man könnte diese Liste ewig weiterführen.

Nicht immer, aber allzu oft werden diese Anmerkungen in (mehr oder weniger subtil) forderndem oder vorwurfsvollem Ton eingebracht. Im Gegenzug reagieren Filmemacher (verständlicherweise) pikiert, achselzuckend oder ausweichend. Dass hierbei bei Einigen das Bedürfnis aufkommt, rein- under drüberzufahren, weil „nichts weitergeht” oder weil man den Eindruck hat, dass die Gespräche oberflächlich bleiben, wundert nicht. Ich kenne das Gefühl nur zu gut. Doch genau die scheinbar so unnötigen, repetitiven Fragen – das begreift man in Duisburg früher oder später unweigerlich – bilden das Substrat des Festivals. Denn alles, was von ihnen mal geschickter, mal weniger geschickt angestoßen wird, muss tatsächlich regelmäßig nachjustiert und frisch austariert werden. Weil sich immer etwas ändert: Die Filme, der Kontext, die Zeit, der „Wissensstand” der Fragenden, die Haltung der Filmemacher, etc. Duisburg bietet dafür eine Plattform, deren Umgangsformen (mittlerweile) ebenso zurückhaltend und differenziert sind wie die Zugänge der meisten Filme, die dort laufen. Dieses Klima lässt natürlich etwas vermissen – ein gewisses Brodeln, eine Artikulationskraft, das groß affichierte „Handeln” und das Gefühl eines Durchbruchs nach Diskussionen. Doch die Balance aus impulsiver Aussprache und Rücksicht, die Wahrung von Rahmenbedingungen für ein abwägendes Herantasten, das manchmal ins Nichts führt und manchmal zum Absturz, zeichnen die Veranstaltung aus. Nicht im Gegenteil zu anderen Formaten – nur im Vergleich. Wie das klobige, komplexe, leider labile, glücklicherweise unvollkommene Konstrukt der Demokratie, dem Marie Wilkes Film Aggregat ein Versatzstück-Porträt widmet, muss das Kino immer wieder neu verhandelt werden. Duisburg bietet einen Ort dafür, eine Option. Man darf gespannt sein, wie es mit dem Festival weitergeht.

Aggregat von Marie Wilke