Reden Über: Safari und die Ethik des Ringblitzes

Ulrich Seidls Safari und Ethik im Dokumentarfilm standen im Zentrum des zweiten Gesprächs von Katharina Müller, Alejandro Bachmann und Patrick Holzapfel.

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Patrick Holzapfel: Wir haben ja gesagt, dass wir uns unter dem großen Begriff Ethik im Dokumentarfilm ein wenig über Safari von Ulrich Seidl unterhalten wollen und dabei, wenn es sich anbietet, auch auf andere jüngere Beispiele im deutschsprachigen Kino wie Brüder der Nacht von Patrik Chiha eingehen. Ich würde das Gespräch auch gerne mit Seidl beginnen, einem Filmemacher, der ja immer an der Grenze des Darstellbaren arbeitet … was er zeigt, wie er es zeigt, das moralisch Vertretbare wird da immer ausgetestet. Ich wollte euch einfach fragen wie es euch mit Safari ging in dieser Hinsicht. Hat der Film euch provoziert, irritiert?

Alejandro Bachmann: Als ich Safari gesehen habe – die hell ausgeleuchteten Tableaus, die übermäßige Sichtbarkeit von Jedem und Allem musste ich an ein Zitat von Pedro Costa denken, der mal gesagt hat, dass seine Art der Raumausleuchtung damit zu tun hat, den Figuren irgendeine Art von Schutzraum zu geben. Das Interessante bei Safari und generell bei Seidl ist natürlich irgendwie auch die Form der Ausleuchtung. Man  könnte fast sagen, dass das ein wenig das Gegenteil von Costa ist, denn bei Seidl ist immer alles vollständig ausgeleuchtet. Und das trifft sich auch immer mit Figuren, die scheinbar alles von sich preisgeben. Das ist ja auch dieses komische Gefühl, dass man manchmal bei Seidl hat, wenn man sich fragt: Warum diese übermäßige Deutlichkeit in allem, warum diese brachiale Sichtbarkeit aller Details, ein wenig auch wie in den Fotografien von Martin Parr, der das mit einem Ringblitz erzeugt? Jetzt hast du gefragt, ob mich das in Safari provoziert hat. Nein, mich hat es nicht provoziert und ich habe witzigerweise mit Leuten gesprochen, die meinten, dass der Film ja auch nur Sachen erzählen würde, die wir sowieso schon wissen. Ich muss aber sagen, dass es was anderes ist, eine Sache zu wissen, als eine Sache zu sehen. Für mich war dann eigentlich nicht Seidls Form schockierend, sondern was ich darin sehe und zu sehen welche Funktion dieses Jagen für die Leute hat. Das war für mich schockierend. Der dokumentarische Ansatz von Seidl ist einem so vertraut, dass er kaum noch schockieren kann und in diesem Film fand ich ihn auch sehr passend. Das Thema und die Art und Weise sich damit zu beschäftigen, hat sich für mich in diesem Fall sehr, sehr gut ineinander gefügt.

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P.H.: Wenn ich dich da gleich noch etwas fragen darf: Es hängt ja mehr an der Feststellung von Costa, als die von dir beschriebene Raumausleuchtung allein. Das Licht ist ja nur ein Ausdruck einer Gesamthaltung. Man hat das bei Costa ja demokratisch genannt, also ein demokratisches Arbeiten mit den Leuten, die man filmt. Deshalb ist ja Brüder der Nacht auch so ein super Beispiel, wo eben auch Geschichten von den Figuren selbst kommen und nicht unbedingt vom Filmemacher. Außerdem gehört dazu neben dem Licht auch das Framing. Ich habe das Gefühl, dass Seidl immer sehr frontal draufhält, während es bei Costa oft allein schon durch die Kadrierung Dinge im Verborgenen gibt. Das könnte man ja auch kritisieren, also dass dieses Licht eine Form der Ästhetisierung darstellt. Dann kommt bei Costa noch eine Vorliebe für enorme Untersicht mit rein, die Figuren werden erhöht und die Kamera gibt ihnen eine gewisse Würde. Ich glaube die Frage, die mir da im Kopf herumschwirrt ist: Wenn Menschen wie die, die Seidl da filmt moralisch fragwürdig handeln, ist das dann für den Filmemacher ein Go, sie auch  moralisch fragwürdig zu filmen? Oder müsste er uns eigentlich etwas anderes zeigen, als das, was du vorhin erwähnt hast, also das, was wir vielleicht sowieso schon wissen?

Katharina Müller: Da stellen sich für mich gleich zwei Fragen. Zum einen: Was meinen wir, wenn wir von „moralisch fragwürdig“ sprechen? Ich kenne niemanden, der das nicht wäre. Das müsste man sehr genau definieren. Und ich würde gerne noch einen Begriff zum Formalen ergänzen. Du hattest von Ästhetisierung gesprochen, die ich auch bei Seidl sehe. Ein Begriff, den ich jetzt zumindest im Diskurs um Seidl angemessen finde, wäre der der Tableauisierung. Ich finde, dass dieser Begriff gerade in Bezug auf den angesprochenen Schutzraum auch jenseits der Fragen nach der moralischen Vertretbarkeit eine entscheidende Rolle spielt. Das sind, ich will jetzt nicht sagen „schöne Bilder“, aber ästhetisiert ist sicher ein Wort, das sind vor allem Bilder in einem Tableau-Sinne. Ein bisschen erinnert mich das ja an die unglaublich vielen Selfies im Social-Media-Bereich, wo sich Menschen zum Teil mit absoluten Fratzen zeigen und das fällt denen selbst gar nicht auf. Also auch mit so einer komischen Untersicht, wo irgendwelche Typen hinter ihrem Bart verschwinden und irgendwie grimmig schauen und sich dabei selbst als repräsentationswürdig erachten. Da liegt dann aber ein Filter darüber und da gibt es so ein bestimmtes Framing und das erinnert mich so ein bisschen an das, was Seidl da macht…

P.H.: Wenn ich da kurz einhaken darf…wenn du jetzt so ein Tableau von Seidl siehst, zum Beispiel in Safari und diese Menschen sitzen dort unter den ausgestopften Tieren, ist das für dich dann ein Bild, das sozusagen von den Figuren eingerichtet ist im Sinne davon, dass es zum einen an diesen Orten einfach so aussieht, also die haben wirklich diese Räume und dort präsentieren sie sich für den Film oder ist das etwas, wo du das Gefühl hast, dass Seidl diese Figuren in seine Tableaus setzt? Das ist vielleicht aus mancher Perspektive kein großer Unterschied, aber insbesondere in einer ethischen Diskussion würde ich meinen, dass das sehr relevant ist.

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K.M.: Ich habe dort beide Bilder gesehen. Ich habe das von ihm eingerichtete Bild gesehen, aber auch die Einrichtung der Figuren in diesem Bild. Ich glaube, dass er ein Framing macht, so ein bisschen wie ein Selfie, ein Selbstportrait. Ich habe dort eigentlich so eine Art mise-en-abyme gesehen, die diese „moralische Frage“ ambivalent genug erscheinen lässt, sodass es sehr schwierig ist, ein Urteil zu finden, das sich über diesen Gnadenhumanismus stellt. Ich habe beides gesehen.

A.B.: Ich finde das, was du sagst, also den Wunsch nach Repräsentation und Selbstrepräsentation sehr spannend. Das unterscheidet ja zum Beispiel auch Brüder der Nacht sehr stark von Safari. Bei Safari hast du Leute, die sich zumindest von ihrem sozioökonomischen Status her in Gesellschaften bewegen, in denen Repräsentation und Selbstdarstellung, das Verkaufen und Repräsentieren eines bestimmten Bildes in diesem  Kontext sehr wichtig und deswegen eingeübt sind. Deswegen finde ich Safari auch viel weniger „problematisch“ als viele andere Seidl-Filme, weil es sich hier um Leute handelt, die explizit daran arbeiten, ein Bild von sich zu erzeugen. Das sieht man eben an der Haus-Einrichtung, die etwas ausdrücken soll.. Das sieht man an der Art der Kleidung, diese Art Safari-Outfit aus dem High-End-Katalog. Da trifft der Film auch irgendwie Models. Das war ja auch ein Film über Leute, die  sowieso das Bedürfnis haben, abgelichtet zu werden. Und das andere an Safari, was ich in dieser Hinsicht sehr interessant finde, ist, dass diese Jäger ja am Ende immer ihre Kamera aufstellen, um sich mit dem erlegten Tier zu zeigen. Und da gibt es im Film meiner Meinung nach auch einen Kommentar darauf, in dem Seidl seine eigene Position in eine Position zu diesen Bildern setzt. Man sieht nämlich wie die Fotokamera eingerichtet wird aus einer anderen Perspektive und dann gibt es einen harten Schnitt in die Position der Kamera, die der Jäger für sich aufgestellt hat, um ein Bild von sich zu machen. Und das Bemerkenswerte ist, dass der Sprung von der einen in die andere Perspektive kaum spürbar ist. Man merkt es nur anhand der Perspektivverschiebung, man spürt, dass man jetzt aus der Kamera des Jägers auf den Jäger blickt, aber das Bild ist im Endeffekt dasselbe, es verändert sich nicht so groß. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass die „moralische Frage“ bei diesem Film ganz gut aufgeht, wenn man das so sagen möchte.

K.M.: Das ist Kriegstrophäe 2.0. Vielleicht dazu ein Detail, ich wusste das nicht, ich habe das nicht so wahrgenommen, aber Seidl hat das unlängst in einem Interview zu Verstehen gegeben, dass interessanterweise, aber auch für ihn verwunderlicherweise, sowohl Tierschützer als auch Jäger mit dem Film einverstanden waren. Das meinte ich eben mit dieser humanistischen Verdoppelung vom Bild des Selbstbildes.

P.H. Es ist halt auch so, dass der Film in seiner Form und der Art und Weise wie sich Seidl diesen Figuren nähert kein wirkliches Urteil über irgendwen fällt. Das ist ein schmaler Grad, ja, weil es immer irgendeine Form von Haltung gibt und wenn Seidl diese Menschen sich da einfach mal präsentieren lässt und hier und da nachhilft, kann man da insbesondere als Zuseher sehr leicht eine Position dazu beziehen. Und es gibt auch mindestens zwei Szenen in dem Film, in dem Seidl ein wenig aus seiner anvisierten Neutralität kippt, denen habe ich beim Sehen stark widersprochen, weil sie sehr direkt auf meine Emotionalität zielen. Es sind eigentlich zwei kleine Szenen. Das ist einmal als die Kamera beim Sterben der Giraffe kurz auf das sterbende Tier schwenkt, was der Film sonst konsequent vermeidet. Und das ist ein Bild, bei dem niemand im Publikum locker sagen kann: Ach ja, die Giraffe wurde erschossen. Nein, das greift einen an. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Schwenk einfach im Moment passiert ist, das ist ja auch sehr direkt gefilmt. Das zweite Bild scheint mir aber noch eine bewusstere Entscheidung zu sein, denn bei einem der ersten Tiere, die im Film erschossen werden, gibt es einen Zwischenschnitt auf das Blut, das aus dem toten Körper heraus blubbert. Das sind dann zwei Szenen, die diese möglichst urteilsfreie Neutralität des Films aufbrechen in eine Tierempathie. Es haben ja auch viele über den Film geschrieben, dass man mit den Tieren sympathisiert. Am Ende gibt es ja auch diese Giraffen am Horizont, die auf die erschossene Giraffe zu warten scheinen. Da wird der Film für mich schon sehr deutlich zu einem Anti-Jagd-Film und wie gesagt, diese neutrale Haltung des Filmemachers, die wahrscheinlich auch der Grund ist, warum Jäger mit dem Film einverstanden sind, aufbricht.

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A.B.: Wobei die erschossene Giraffe innerhalb des Films ein unglaublich tolles Beispiel dafür ist, wie ambivalent auch ein solches Bild ist, weil ja die Frau, die mit ihrem Mann da unterwegs ist, beginnt zu weinen. Und mir ging es da so, dass ich im Kino saß und mir dachte, ja, das geht also auch an den Leuten nicht vorbei, die sich selber rechtfertigen und erklären, warum das, was sie da tun, in Ordnung ist. Und ich dachte die ganze Zeit: Okay, sie weint, weil sie erschüttert ist, was sie da gerade getan hat. Und dann dreht es sich aber. Dann dreht sich ihr Weinen in ein dankbares Weinen dafür, dass sie endlich eine Giraffe geschossen haben. Zumindest kann man es so lesen, es ist uneindeutig. Und ich kann das vollkommen nachvollziehen, wenn du jemand bist, der die Jagd für etwas Gutes hält, der die Faszination dafür nachvollziehen kann, dann kannst du den Film schauen und fast nichts problematisch darin finden. Der Film sagt auch nicht anderes als: Diese Leute finden, dass das eine gute Sache ist.

K.M.: Was ich da halt auch sehe oder was ich vielleicht in anderen Seidl-Filmen weniger gesehen habe, das ist genau das, was an dieser Agonie der Giraffe aufbricht, nämlich Trauer. Und ein Kollege hat dazu sehr hart gesagt: das war das erste Mal in seinem Leben, dass er „mit einem Vieh Mitleid hatte“. Ich glaube, da ist auch dieses Moment, ich will nicht sagen „neu“, weil es schon immer wieder spürbar ist bei Seidl, aber hier eben in einer größeren Vehemenz. Und zwar findet da eine moralische Versehrtheit ihren Platz durch eben solche Schwenks. Moralische Versehrtheit, aber auch eine Trauer über diese moralische Versehrtheit.

A.B.: Du meinst die moralische Versehrtheit des Zuschauers hat da Platz?

K.M.: Auch die von Seidl sehe ich da drin.

A.B.: Das musst Du mir erklären…

K.M.: Naja, man hat ja zum Beispiel so gegen Ende im Bild, wo „die Schwarzen dort“ frontal aufgenommen essen, vielleicht zum Essen genötigt wurden, zumindest für mein Gefühl eine Regieansage: So jetzt esst mal bitte, zeigt uns mal wie ihr da esst.

A.B.: Für die Kamera…

K.M.: Für die Kamera. Da spürt man ja auch so eine Trotzreaktion drin. So ein „Ich zeig euch jetzt mal meine Position“. Und es gab ja auch immer wieder diese Kritik an Safari, die glaube ich sehr kurz greift, dass so selten Schwarze vorkommen und man immer nur die Perspektive der Weißen sieht und so weiter. Aber es geht ja hier eindeutig nicht darum, einen Ausgleich zu schaffen, sondern eher darum, Verhältnisse darzustellen. Und diese Szene mit den essenden Schwarzen ist da für mich ein ganz prägnanter Moment, indem kein Hehl daraus gemacht wird, aus der Bewusstheit der meinetwegen eigenen weißen Position des Überlegenen, auch vielleicht Exotisten, der da jetzt hinreist und diesen Film macht. Ich sehe ja auch in der Arbeit an diesem Film eine Verlängerung dessen, was er zeigt. 

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P.H.: Wenn ich dich richtig verstehe, dann sind für dich diese Szenen, also die mit den essenden Schwarzen und die mit der Giraffe Momente, in denen Seidl beziehungsweise die Kamera nicht mehr neutral sein kann oder möchte, sondern seine Position wird in diesen Szenen klarer subjektiver und emotionaler als sonst.

K.M.: Genau. An diesen Polen bricht für mich diese Kritik, die man ja auch üben kann und die auch immer wieder geübt wird, nämlich „Der Seidl stellt die Leute aus“, das bricht für mich da zusammen. Im formalen Happening ist da für mich ganz stark ein Zusammenbruch dieser Geste des vermeintlich Objektiven.

P.H.: Aber nun gibt es ja eine gewisse Linie im Dokumentarfilm oder auch Spielfilm, zu der auch Seidl gehört, diese Linie, die nach möglichst großer Objektivität, Neutralität schielt. Sodass wir als Zuseher eine Position zu dem beziehen müssen, was uns da gezeigt wird. Der Filmemacher also möglichst als jemand agiert, der uns einfach etwas zeigt, als Zeuge mit dabei war und uns das dann zeigt. Natürlich eine Utopie, aber ein Bestreben. Für mich hat das immer etwas Wertvolleres als der Filmemacher, der mir deutlich sagt: Jetzt kommt der Moment, in dem ich Mitleid habe. Und wenn ich einen Schwenk auf eine sterbende Giraffe mache, dann kann ich gar nicht anders, ich werde gezwungen etwas relativ Bestimmtes zu fühlen, selbst wenn Alejandro natürlich Recht hat und diese Szene weitergeht und deutlich ambivalenter ist. Nur dieser sehr eindeutig eine Emotion provozierende Moment ist da und die verbreitete Reaktion: Ich habe Mitleid mit einem Vieh, die ist sehr einfach angelegt.

A.B.: Ich bin mir nicht so sicher, ob wir über Neutralität sprechen können. Ich glaube die Frage oder der Diskurs, ob der Dokumentarfilm neutral ist, ist passé. Wenn man sich cinephiles Schreiben über den Dokumentarfilm ansieht, dann wird da eigentlich fast nie über die vermeintlich unfassbare Objektivität von,sagen wir, Frederick Wiseman gesprochen, sondern es wird eigentlich immer über eine Haltung gesprochen. Eine Haltung, die man dem abgefilmten Objekt oder der abgefilmten Welt gegenüber einnimmt. Für mich wäre es also eine Frage nach der je individuellen Haltung und nicht nach einer vermeintlichen Neutralität.

P.H.: So verstehe ich Neutralität ja auch, als eine Haltung. Das ist etwas in der Subjektivität angelegtes. Wir sind uns ja einig, dass es keine Objektivität gibt, aber Neutralität ist eine Entscheidung, ein Bestreben, das man eben sehr wohl bei Leuten wie Frederick Wiseman oder Raymond Depardon sieht, die ja Vorbilder sind von Seidl, offensichtlich. Die sagen, dass sie sich zurücknehmen mit ihrer eigenen Haltung so gut es geht und genau das ist dann ja eine Haltung. Man kann auch eine subjektiv neutrale Haltung einnehmen, finde ich.

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K.M.: Ich kann da nicht so zustimmen. Wir reden ja von einem Dokument der Extreme sozusagen, einer Extremsituation. Wenn man jetzt Vergleichsmomente herholen wollte, wäre es wahrscheinlich sinnvoll, sich Kriegsberichterstattung anzusehen und sich zu überlegen wie das funktioniert. Und um aus diesem Haltungsaspekt herauszukommen, könnte man sich ja fragen, was der Film denn zeigt. Also wenn man sich jetzt auf das Thematische fokussieren will – und ich will das vorsichtig formulieren: Als Grundsetting handelt Safari von moralischer Gefühlslosigkeit. Dann stellt sich die Frage, wie ich das besser rüberbringe: Mache ich einen Film über moralische Gefühlslosigkeit moralisch gefühllos, formal, oder mache ich es deutlich durch den Kontrast mittels eines Bruchs oder zweier Brüche, die wir gesehen haben. Das könnten wir auch Neutralität nennen. Bringe ich Neutralität besser via „Neutralität“ oder bringe ich Neutralität überhaupt erst dadurch zur Sichtbarkeit, dass es Brüche damit gibt?

A.B.: So würde ich das auch sehen und für mich ist der Seidl-Film voller genau solcher Brüche. Zum Beispiel, wenn er sich nach der Großjagd nicht dafür entscheidet, mit den Damen und Herren in den Salon zu gehen und dort anzustoßen, sondern wenn er sich dafür entscheidet, zurückzubleiben und zu zeigen wie die dort lebenden Schwarzafrikaner dieses Tier auseinander nehmen, um zu zeigen, wer die Drecksarbeit macht, dann ist das in keinstem Fall eine Neutralität, sondern der Versuch, in diese Bilder, die von diesen Personen eingenommen werden und denen Seidl ja auch einen gewissen Raum einräumt, Brüche einzufügen. Ich verstehe trotzdem, warum man mit dem Begriff der Neutralität arbeitet, weil Seidl ja selbst in Interviews sagt, dass die moralischen Probleme der Zuschauer eben die moralischen Probleme der Zuschauer sind.  Das habe mit ihm nichts zu tun. Aber das hat natürlich mit ihm zu tun, das hat spätestens mit ihm zu tun, wenn dann plötzlich, wie Patrick vor dem Gespräch schon gesagt hatte, der Ton an einem Jäger so aufgedreht ist, dass ich höre wie er sein Bier verdaut…

P.H.: Wenn der Ton überhaupt so da war…

A.B.: Es gibt einfach immer wieder Stellen, wo man überhaupt nicht von Neutralität sprechen kann. Deswegen würde ich die Frage einer moralischen Position, wenn überhaupt, darin sehen: Wie verhalte ich mich eigentlich zu den Leuten? Wie verhalte ich mich zu dem gesellschaftlichen Diskurs, der um die Leute herum existiert? Das ist für mich keine Neutralität, sondern eine moralische Haltung und das ist auch eine subjektive Haltung. Daher wäre der Vergleich mit Brüder der Nacht ja für mich so interessant. Weil Chiha ja Leute filmt, nämlich junge Männer aus Bulgarien auf dem Schwulenstrich in Wien, also vor allem in einem Lokal. Und das sind Leute, deren gesellschaftlicher Status, also auch deren Zugang zur Eigenrepräsentation und Selbstdarstellung viel kleiner ist als bei den Leuten, die Seidl filmt. Und Chiha wählt einen ganz anderen Ansatz, weil er nicht einmal sagt: Ich möchte neutral sein. Weil er nicht einmal sagt: Ich möchte euch die Sache so zeigen wie sie ist. Sondern der was ganz anderes macht und sagt: Ich lasse die Leute erzählen, aber ich kleide sie visuell in etwas ein, was das ganze auf eine ganz andere Ebene bringt. Nämlich das Sprechen über die sexuellen Akte, über die Perversitäten, die da zwischen Geld und Sexualität stattfinden, also so was wie die Ökonomisierung der Sexualität … diese Dinge bricht er auf, in dem er ihnen einen fast mythischen Status gibt. In einer Reihe der Kinogeschichte mit Genet, Fassbinder …

P.H.: Anger.

A.B.: Genau.

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K.M.: Die Kapitalisierung von Sexualität lässt sich ja bei Seidl durchgehend beobachten. Um da noch mal einen kleinen Kontext aufzumachen. Die Stellungnahmen aus der österreichischen Presse zu Safari, die sich ja da sehr auf dieses Sexthema geworfen haben und gesagt haben, dass die Jagd ausschließlich ein sexuelles Symbol ist.

A.B.: Ein sexueller Akt, ja…

K.M.: Als sexueller Akt erfahrbar, ja. Ich glaube, dass es schon darüber hinausgeht.

A.B.: Aber es ist schon verständlich, dass die Presse darauf anspringt. Das legt er an. Er will, dass wir denken, der Schuss ist der Koitus und die Erleichterung und die Familie findet wieder zueinander.

K.M.: Ja, klar. Natürlich. Ich habe ganz stark immer wieder diese Jagdszene aus La Règle du jeu von Jean Renoir in Seidl gesehen.

A.B.: Wo sie den Hasen jagen?

K.M.: Ja, mehrere Hasen. Und Vögel und alles Mögliche. Der Film ist ja aus dem Jahr 1939, ja? Im Frühjahr sozusagen, wo Renoir sich ja später dann auch geäußert hat und gesagt hat, dass er gespürt hat, dass Krieg kommt, aber er hatte einen Film drehen wollen, der Krieg nicht thematisiert. Und ich finde es bezeichnend aus dem heraus, dass sich die Presse auf Sex einschießt, wo sie sich aber genauso gut, wie sonst in vielen anderen Kategorien derzeit, eben auf Krieg einschießen könnte. Ich finde das ein ganz entscheidendes Moment. Ich glaube es geht hier auch um den Geisteszustand einer Gesellschaft. Das liegt noch mal eine Ebene über moralischen Befindlichkeiten. Da geht es auch um eine universelle Annäherung an einen gesellschaftlichen Geisteszustand. Wir sehen da ja jetzt nicht nur Dinge, die uns so fern sind. Wir drei hier würden jetzt vielleicht nicht da runter fahren und unser Geld verbraten, um Tiere zu erlegen. Wir würden schon allein metasprachlich darüber diskutieren und das Tier würde das ausnützen, um aus unserer Sicht zu verschwinden. Wir würden es schon verfehlen, weil wir darüber reden würden, ob das jetzt ein Tier oder ein „Stück“ ist. Wir wären wahrscheinlich nicht kompetent genug oder „effizient“ genug, ein Tier zu erlegen. Es klingt ein bisschen esoterisch, aber ich sehe da eine Allegorie auf Zustände in dieser Welt. Und das ist ja kein neues Thema, diese Jagd. Das ist auch nicht mehr und auch nie nur das Thema einer Oberschicht gewesen. Das ist auch ein Thema der Mittelschicht, auch ein Thema der Unterschicht. Da ist vielleicht auch noch mal eine Differenz zu Renoir. Weil, was sind das für Leute bei Seidl? Das ist das bürgerliche Publikum, aber auch das „proletarische“ Klientel, das dort sitzt und sich vorlesen lässt, was kostet was, können wir uns das leisten? Die Frage der Klasse ist eine ganz wesentliche Frage auch  hier. Auch das hat Safari unglaublich gut gelöst, weil die erste Assoziation, wenn es darum geht, wer nach Afrika fährt um Tier zu schießen, ist so eine bürgerliche Schicht, aber da gibt es Leute, die da hinfahren und die haben nicht so viel…

P.H.: Wenn ich mich nicht täusche, ich bin mir aber gar nicht sicher, überlegen die sich aber nicht was es kostet, sondern die zählen auf wie viel sie bekommen, wenn sie das oder das erschießen. Wie viel ist ein Reh wert? Und so weiter.

K.M.: Möglich. Meines Erachtens bezieht sich die vorgelesene Liste auf zu entrichtende Abschussgebühren.

P.H.: Aber für mich sind das zwei bürgerliche alte Leute. Zumindest sind sie nicht als Proletariat gekennzeichnet.

A.B.: Das sind auf jeden Fall keine Leute mit einem bürgerlichen Bildungshintergrund.

K.M.: Also nicht Bildungsbürgertum sozusagen.

P.H.: Aber jetzt keine arme Arbeiterklasse.

A.B.: Nein das nicht. Es geht eher um deren kulturelle Bildungsherkunft.

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K.M.: So die „klassischen“ Klassen gibt es vielleicht auch nicht mehr. Vielleicht hier eher eine sich vergrößernde Mittelschicht. Das macht es schwierig, das auf eine Klasse zu schieben. Und das ist ein großes Verdienst dieses Films. Dass du eben nicht mit dem Finger auf „diese anderen dort“ zeigen kannst. Du kannst jetzt grundsätzlich nicht mehr unterscheiden zwischen Aristokratie und Working Class Heroes, und dabei eine sich weitende Mitte auslassen; aber ich glaube zumindest innerösterreichisch, dass sich die hier jeweils dargestellten Milieus voneinander distanzieren würden. 

P.H.: Zur Jagd noch mal etwas, also die ersten Bilder, die es überhaupt gibt, sind ja hauptsächlich Bilder der Jagd, also ich denke da an die Höhlen von Lascaux zum Beispiel.  Daran hängt ja schon diese Idee des Präsentierens dessen, was man da erlebt hat, man zeigt das, man verarbeitet es und hebt es irgendwie auf ein anderes Level und so weiter. Ich wollte das nur anfügen, weil ich finde zwar, dass Renoir ein schönes Beispiel ist, ich verstehe, auf was du hinauswillst, aber Jagd so als Thema oder das Töten von Tieren … also ich meine, man muss ja nur an diesen Edison-Film denken mit dem Elefanten, der da getötet wird … also das ist ja einfach eine Faszination mit diesem Widerspruch aus Anonymität und Erobern, dieses über etwas stehen und so weiter und ich verstehe diese postkoloniale Metaphorik am Ende von Safari auch in diese Richtung.

K.M.: Bei Renoir ging es mir ja einfach um dieses Gefühl kurz vor dem Krieg 1939. Das ist eine Zeit, die zu Recht oder zu Unrecht immer wieder in Analogie gesetzt wird mit dem Jetzt. Da geht es dann ja auch um eine starke Form von Kapitalismuskritik, die es bei Seidl vielleicht nicht so explizit gibt, aber es gibt sie. Und eben auch, weil ich formal eine absolute Ähnlichkeit gesehen habe.

P.H.: Das verstehe ich zum Beispiel nicht.

K.M.: Ich weiß jetzt nicht, ob der Seidl den Film gesehen hat und mal abgesehen davon, dass die Szene bei Renoir eine sehr flinke ist, aber wenn man das in Slow Motion macht…

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A.B.: Das hat ja Godard in seinen Histoire(s) du Cinéma gemacht. Da sieht man ja die Erschießung des Hasen immer in Zeitlupe.

P.H.: Aber genau deswegen frage ich nach, weil du siehst bei Seidl ja nie den Einschuss in das Tier, das ist ja immer Off Screen und du siehst nie eine Einstellung, in der das Tier läuft. Das ist ja genau der Unterschied. Er hat ja auch gesagt, dass es ihm ganz bewusst darum gegangen ist, nicht die Tiere zu filmen, die dort weglaufen, sondern die Menschen, die diese Tiere erschießen.

K.M.: Ich habe das in einem anderen Sinn gemeint, nämlich insofern, als du hinter der Kamera gewissermaßen auch dem Bild hinterher jagst. Es gibt ja noch eine Meta-Jagd. Also die Jagd auf das dargestellte Tier, aber auch die Jagd nach dem „richtigen“ Bild, nach dem Bild der Entsprechung. Außerdem kann man natürlich darüber diskutieren, ob dadurch, dass man diese Tiere nicht laufen sieht, ob man sie dadurch wirklich weniger laufen sieht. Also ich glaube, dass die Aussparung schon einen Effekt hat …

P.H.: Aber formal ist das völlig unterschiedlich. Es ist ja auch eine Handkamera hier und eine statische dort und so weiter.

A.B.: Es geht ja auch nicht um eine formale Ähnlichkeit, sondern es geht darum, dass die Jagd 1939 einen Bezug zur gesellschaftlichen Situation hergestellt hat, den man vielleicht auch in Safari sehen könnte jenseits dessen, was sozusagen die Filmkritik schreibt, dass es nämlich etwas Sexualisiertes ist.

P.H.: Aber wir haben gerade über eine formale Ähnlichkeit gesprochen, die ich nicht sehe und ich finde auch, dass Form und Politik beziehungsweise Form und diese gesellschaftlichen Situationen zusammen gehören.

K.M.: Vielleicht sollten wir einfach kurz reinschauen. Ich finde einfach, dass die Kamera, jetzt mal egal ob statisch oder bewegt, natürlich macht das einen großen Unterschied, aber die Kamera geht sowohl bei Seidl als auch bei Renoir, auch wenn es dort nur eine kleine, emblematische Szene ist, den Jagenden hinterher. Und das gibt es bei Seidl und Renoir. Vielleicht würden mir auch andere Jagdszenen einfallen, aber ich bin eben aus dem gesellschaftspolitischen Kontext auf Renoir gekommen. Die Kamera jagt also sozusagen den Jagenden und das wollte ich mit dem Moralischen verknüpfen. Es gibt ja so eine Rückendeckung der Kamera, ein Mitgehen in den Tötungsakt, auch wenn der Tötungsakt nicht gezeigt wird … ist das so klarer?

P.H.: Ja.

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K.M.: Lascaux finde ich da ein wichtiges Detail, weil es davor schützt, jetzt alles auf Kapitalismus und „die Leute haben zu viel Geld“ zu münzen, aber da gibt es für mich halt schon eine große Parallele. Es ist Krieg, aber Leute vergnügen sich. An anderer Stelle, aber mit kriegerischeren Aktionen sozusagen. Klar, man sieht bei Renoir die Tiere und wie sie getroffen werden, man sieht aber auch bei manchen nur die toten Tiere, also das gibt es auch. Das finde ich schon relevant, auch wenn du vollkommen recht hast und es ein formaler Unterschied ist, wo ich aber dazu tendieren würde zu fragen, ob wenn du den Tötungsakt nicht siehst, er dadurch nicht sogar weniger „neutral“ ist? Was wir nicht sehen, stellen wir uns vor, möglicherweise. Das drängt uns dadurch vielleicht auch in eine andere Form der Mittäterschaft. Ich weiß nicht wie es euch gegangen ist, aber man steht da hinter diesen Leuten und die zielen auf etwas. Was macht man? Man sucht nach dem Tier im Bild, oder?

P.H.: Kommt darauf an. Eher die Reaktion von diesen Leuten. Wie sie da warten, atmen, weinen, sich in die Arme fallen, das ist schon sehr interessant, ich war schon sehr bei den Jägern. Wie sie auch reden in dieser euphemisierenden Jägersprache. Und dieser Moment nach dem Schuss. Der Augenblick vor und nach dem Schuss. Ich war da, dadurch, dass die Kamera da war.

A.B.: Entscheidend scheint mir zu sein, ob sich Seidl für das interessiert, was die Jäger fasziniert oder interessiert sich Seidl für die Jäger? Und ich glaube, er interessiert sich eben für die Jäger. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er deren Faszination für das Jagen teilt und ich würde auch sagen, dass Renoir die nicht geteilt hat. Ich glaube, Renoir ging es um etwas anderes. Ich glaube, Renoir ging es darum zu sagen: es wird Blut fließen. Es werden Lebewesen sterben. Das gibt es vielleicht auch bei Seidl, aber ich glaube, Seidl möchte eigentlich herausfinden, so kam es zumindest mir vor, was fasziniert die Leute, an dem, was sie da tun. Und das, was sie tun, kennen wir alle, deshalb muss man das nicht explizit zeigen, sondern man muss sie zeigen und ihre Reaktionen.

K.M.: Aber da gibt es für mich noch ein Zwischenbild zwischen diesen beiden Formen, zwischen auf die Tiere sehen oder nicht sehen. Im Film gibt es ja auch das Bild, in dem wir als Zuschauer ganz frontal gegenüber diesem Jagdhaus, diesem Hochsitz platziert sind. Wir sehen da keinen Menschen, keine Tiere, wir sehen nur den Schuss, also wir sehen natürlich nicht den Schuss, aber wir sehen wie dieser Hochsitz kurz bebt. Habe ich das richtig empfunden, dass das ein direkter Schuss auf die Kamera ist?

P.H.: Der Lauf des Gewehrs zeigt schon in die Kamerarichtung ungefähr.

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K.M.: Aber wie geht es dir damit, mit diesen Zwischenbildern?

P.H.: Also ob diese Bilder so eine Gewalt im Sinne von „Es wird Blut fließen“ in sich tragen?

K.M.: Oder ganz grundsätzlich … was macht das mit dir? Oder hat das für dich keine Funktion?

P.H.: Für mich funktioniert das ähnlich wie viele andere Zwischenbilder im Film, also dieses Bietrinken, auf der Liege liegen und so weiter.

K.M.: Aber du siehst ja keine Menschen hier.

P.H.: Ja, das ist klar. Aber ich sehe ein Gewehr, das offensichtlich von einem Menschen gehalten wird. Für mich geht es da auch um den Prozess des Jagens. Sowohl die Absurdität davon, als auch die Zeit, die es braucht. Durch so eine Szene spüre ich die Zeit, man wartet, dann gibt es irgendwann einen Schuss. Aber du hast schon Recht. Es greift auch ein bisschen an. Es ist aber spannend, jetzt haben wir gesagt, dass er sich für die Jäger interessiert, aber irgendwie bei Seidl, da stelle ich mir immer irgendwann die Frage: Was sind das für Menschen? Und bei so was wie Brüder der Nacht, da stelle ich mir diese Frage nicht, da sage ich irgendwann einfach: Das sind Menschen. Das ist für mich da immer der Unterschied.

K.M.: Das hatte ich gar nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich viele solcher Leute kenne. Die gehen jetzt vielleicht nicht auf die Jagd, aber die gehen halt zumindest Tiere schauen und fliegen nach Südafrika zum Golfspielen und jagen einem anderen Loch hinterher.

P.H.: Aber sind das Menschen, wenn du über die nachdenkst…

K.M.: Ob ich mich damit identifizieren kann, nein, ich kann mich nicht mit ihnen identifizieren…

P.H.: Nein, ich finde einfach der Ansatzpunkt ist so unterschiedlich. Brüder der Nacht zeigt uns Menschen, von denen wir erst sehr fern scheinen, die dann aber sehr nahe sind mit ihren Sehnsüchten, ihren Problemen. Und bei Seidl habe ich jetzt nicht erwartet, dass diese Menschen sehr fern von mir sind. Natürlich kennen wir solche Leute. Aber irgendwie entfernen die sich immer von mir bei Seidl.

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K.M.: Unbedingt, das teile ich. Zumindest bleibt der Abstand derselbe. Oder es wird ein Bewusstsein über diesen Abstand noch mal virulent. Das Erschreckende, finde ich, ist, dass man diese Menschen kennt und man ist selbst vielleicht gar nicht so weit weg davon.

A.B.: Ich bin mir da nicht so sicher, ehrlich gesagt. Natürlich können wir jetzt sagen, dass sich da keine Nähe entwickelt über einen Seidl-Film …

K.M.: Es gibt schon eine, sonst wäre nicht dieses Schamgefühl da.

A.B.: Und es hängt ja auch wirklich davon ab, wer ich selber bin. Für mich hat das mit dem Film nicht so viel zu tun, ich glaube, dass man sich den Film auch durchaus ansehen kann und sich diesen Leuten nahe fühlen kann oder ihnen auch näher kommt. Und in gewisser Weise muss ich sagen, gibt es einfach einen Unterschied, ob ich glaube etwas verstanden, durchdrungen zu haben oder ob ich es dann sehe. Das erzeugt dann eine gewisse Form der Nähe. Das ist keine Nähe der Empathie oder Sympathie, sondern es ist eine Nähe zumindest mal zu sehen, was die Leute daran reizt. Das ist für mich eine Annäherung an diese Person. Nicht insofern, dass ich dann irgendwann mit denen besser klarkommen werde, aber es ist zumindest … es ist schwierig in Worten zu fassen. Aber, dass das für Leute eine sexuelle Funktion haben kann, dass das für Vater und Sohn die Funktion haben kann, dass sie zueinander finden… ,also es gibt lauter Funktionen, weil da ja lauter so grundsätzliche, nicht direkt mit der Jagd in Verbindung stehende Problematiken sind, das Familiäre, das Sexuelle , die da plötzlich in das Jagen hineinkommen, kommen mir die Leute plötzlich näher. Das bedeutet nicht, dass ich das gleiche Ventil wählen würde. Interessant ist aber trotzdem, dass diese Dinge darin verhandelt werden. Ich habe mich davor nicht mit Jagd beschäftigt, aber das war für mich interessant zu erkennen, also dieses „Warum machen die das eigentlich?“. Und dieses „Warum?“ nicht in so einem trivialen Sinne, sondern „Was holen sie sich da raus?“. Das war für mich eine Erkenntnis und so verstehe ich diese Menschen vielleicht etwas besser.

K.M.: Wo es in diesem Kontext ja auch so eine perfide Annäherung gab oder so eine Analogisierung war zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Eben zum Beispiel bei diesen Verdauungsgeräuschen … das hat ja etwas …

A.B.: …kreatürliches…

K.M.: Ja, genau. Da entsteht aber auch ein Teil dieser Ambivalenz. Wenn das Jagende dem Gejagten angenähert wird. Da gibt es ein paar Momente. Eben auch mit den Menschen, die dann fast kannibalisch das Ausgenommene verzehren. Das ist ja eine Aufbereitung ganz ähnlich, ich weiß nicht, ich habe immer an „die Menschenfresser“ denken müssen.

P.H.: Und diese Doppelung der Jagd, von der Katharina gesprochen hat mit Kamera und Gewehr, die wird dadurch sehr deutlich. Diese tierischen Menschen sitzen da ja auch im Bild, also dieses Kittler-Argument, die Kamera als Schussgerät. Ich verstehe ja die Ambivalenzen, von denen ihr sprecht, ich bekomme die auch, aber ich habe trotzdem zu sehr das Gefühl, dass da Menschen vor dieser Flinte der Kamera sind und mir fehlt da irgendwas, was dazwischen geschoben wird, wie zum Beispiel das Licht, über das wir am Anfang gesprochen haben. Oder auch das Spiel, die Chance auf einen Ausbruch…

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A.B.: Es ist Dir zu direkt?

K.M.: Oder im Sinne einer Erlösung? Weil der Begriff „Erlösung“ kommt ja immer wieder vor interessanterweise. Da sagt glaube ich die Tochter: „Es ist ja immer eine Erlösung für die Tiere.“ Da gibt es dann diese Rechtfertigung, die dann wieder negiert wird von einer anderen Figur. Meinst du Ausbruch im Sinne einer Erlösung?

P.H.: Es war schon eher auf das Direkte bezogen. Wang Bing ist ein Filmemacher, der da für mich ein gutes Beispiel ist. Der ist bei mir immer entweder viel zu direkt oder genau richtig. Manchmal scheint er einfach draufzuhalten mit der Kamera, um mir die ganze Gewalt, das ganze Leid von Menschen und Situationen zu zeigen und natürlich ist das relevant, aber mir fehlt da was. Und dann gibt es Filme wie einen seiner neueren, Ta‘ang, in dem es um Flüchtlinge aus Myanmar geht und er folgt denen. Und da gibt es eine lange Sequenz, in der einige Menschen am Lagerfeuer miteinander sprechen und er filmt das durch das Feuer hindurch und zeigt uns eigentlich, dass das die Helden unserer Zeit sind, das sind die großen Geschichten, die Träume. Und weil wir den Begriff vorher schon mal hatten: Ich sehe darin mehr Haltung. Das ist so ein schmaler Grad zwischen dem Ausstellen und diesem Gewissen in der Kamera. Und wir haben ja diskutiert, dass Seidl dieses Gewissen schon hat, ich bleibe auch dabei, dass es ein möglichst neutrales Gewissen gibt, aber er zeigt uns das eigentlich weniger in den einzelnen Bildern, sondern er macht das in der Montage, in der Entscheidung, etwas nicht zu zeigen, aber in den einzelnen Bildern zeigt er mir immer sehr frontal, ja fast obszön etwas. 

K.M.: Aber ist es deshalb kein Gewissen?

P.H.: Nein, nein, ich glaube ihr wisst schon, was ich ungefähr sagen will …

K.M.: Aber wir haben uns ja schon darauf geeinigt, dass der Film moralisch, formal vertretbar ist. Vielleicht vertretbarer als manche Filme davor von Seidl.

A.B.: Das hätten wir vielleicht einfach auch am Anfang dieses Gesprächs festhalten müssen, dass es ein gigantischer Unterschied ist, ob du über sehr wohlhabende Österreicher und Deutsche in Afrika einen Film machst oder ob du über bulgarische Arbeitsmigranten in Österreich einen Film machst. Das ist eine völlig andere Position. Das war vielleicht das einzig wirklich Intelligente, was sie einem an der Journalistenschule mitgegeben haben: Die Wahl der Waffen richtet sich auch immer nach dem, auf was man schießen will, um mal im Jagdjargon zu bleiben. Da könnte man jetzt sehr einfach sagen: Wenn ich über sehr gut situierte Menschen, die  gesamtgesellschaftlich betrachtet in relativ mächtigen Positionen sind, einen Film mache, gehe ich mit anderen Werkzeugen da ran, als an jemanden, der gesellschaftlich völlig marginalisiert ist, der wirklich in den Schatten lebt und der überhaupt keine Instanz hat, die ihn repräsentieren kann. Da gehe ich natürlich viel vorsichtiger und viel sensibler ran, als wenn ich an reiche, selbstverliebte Leute rangehe.

K.M.: Man könnte da natürlich fragen, was es Verwerfliches an dem Ausstellen gäbe? Das Verwerfliche ist vielleicht, dass die im Sich-selber-Sehen etwas an sich selber nicht sehen.

P.H.: Ich tue mir schwer, weil ich das Ideal halten will, dass das alles Menschen sind. Egal ob arm oder reich. Und Seidl scheint mir nicht so viel Unterschied zu machen mit den Waffen in seiner Filmographie. Und gerade, wenn so jemand wie Renoir als Beispiel im Raum steht, jemand, der in meinen Augen arm und reich immer sehr gleich behandelt hat, gleich gefilmt hat. Ich verstehe ja, dass die Waffen womöglich andere sind, wenn man reiche Leute filmt, aber mein Ideal ist, dass ich erst mal den Menschen dort sehe, nicht, dass er reich ist.

A.B.: Da müsste man dann ja eigentlich über ganz andere dokumentarische Positionen auch sprechen.  Helga Reidemeister fällt mir da ein, die  ja immer wieder Filme macht über Leute, die  innerhalb ihres Weltbildes nicht unbedingt die positivst konotierte Position haben. Wenn sie zum Beispiel einen Film über die Münchner Schickeria anhand ihrer Schwester, die Model ist, macht und so weiter. Dass Interessante ist aber, dass diese Filme den Prozess dokumentieren, wie sie erkennen muss, dass ihre Vorurteile und die Klischees, die sie über die Münchner Schickeria hatte zumindest in Ansätzen nicht korrekt sind.. Das ist aber eine ganz andere Art des Filmemachens, wo es tatsächlich darum geht, zuzusehen, wie der Filmemacher im Laufe des Films eine neue Position einnimmt. Seidl versucht, glaube ich, tendenziell nicht zu markieren, was das mit ihm macht. Und Brüder der Nacht ist dann ein Film, der von der ersten Einstellung an markiert, dass es nicht um die Realität geht, es geht nicht um diese Leute, sondern um das, was diese Leute in jemandem wachrufen, der aus dem Kino kommt, der mit Ikonographien der Queer-Ikonen vertraut ist und der dann auf diese Leute trifft. Da geht es mindestens genauso stark um den Blick des Filmemachers wie es um die Personen geht und bei Seidl ist es halt eine radikale Direktheit…

K.M.: … die für mich nicht nur markiert, sondern eine Form von Einsicht ist.

A.B.: Da sind wir dann wieder beim Licht. Da kannst du jedes Detail sehen auf dieser Bühne bei Seidl. Wie in der Fotografie mit den Ringblitzen, um einfach jedes Detail im Gesicht noch hervorzuheben und jegliche Spur eines Schattens aus dem Bild zu verbannen. Und natürlich kommen da immer schreckliche Bilder raus.

K.M.: Ein Wort dafür wäre eben Einsicht. Ich finde, dass das Ausstellen nicht gelöst zu denken ist vom Einsehen.

Diagonale-Dialog 4: Labern über die Unendlichkeit

Shops around the corner von Jörg Kalt

Am Tag nach der Diagonale-Abschlussfeier raffen sich Patrick und Rainer auf, um sich ein letztes Mal gegenseitig den Bauch zu pinseln (der Tonfall dieses Jahr ist tatsächlich weniger aggressiv als in früheren Ausgaben). Was lange währt ist endlich gut, es beginnt mit Albert Camus und endet im wahrscheinlich kürzesten, aber dennoch einem der mächtigsten Filme des Festivals.

Rainer: Ich würde unser heutiges Gespräch gerne mit ein paar Worten zu Albert Camus beginnen. Da ich ungern Zeit untätig verstreichen lasse und es hasse zu warten, trage ich fast immer ein Buch mit mir herum. Während der Diagonale war das ein Sammelband mit Erzählungen von Camus. Während ich also immer wieder in der Straßenbahn oder beim Warten auf das nächste Screening darin gelesen habe, ist mir klar geworden, dass ich eine sehr konkrete Sache an Camus besonders schätze und das ist die Stringenz und Präzision in der Artikulation seines philosophischen Programms in seinen Romanen und Erzählungen. Seine Agenda zieht sich wie ein roter Faden deutlich durch sein Werk – alles ist sehr konzis und klar artikuliert – diese Konsequenz in der Wahl der Methode bewundere ich auch bei vielen Filmemachern, oder mehr noch, geht mir ab, wenn sie nicht da ist.

Patrick: Das ist interessant, weil Camus mal gesagt hat, dass er Autoren nur am Gesamtwerk beurteilt, nie an einzelnen Werken. Ich bin mir da nicht ganz sicher, weil wenn ich wie bei Pedro Costa eine Entwicklung entdecken kann, die auseinander hervorgeht, dann ist das auch stimmig.

Rainer: Ich glaube auch nicht, dass es der einzige Weg ist, aber es fehlt mir oft die Konsequenz im Kino. Wir leben in einer gefährlichen Zeit, in der sich Künstler und Kunstwerke oft in Beliebigkeit verlieren, da schätze ich eine gewisse Zielstrebigkeit und Deutlichkeit in der Artikulation, egal ob im Großen oder im Kleinen. Das ist der Grund weshalb ich Einer von uns von Stephan Richter besser fand, als ich es erwartet hatte: Er beschränkt sich geographisch auf einen Schauplatz, er versucht seine Figuren zu verstehen und dieses Verständnis ans Publikum weiterzugeben, das ist alles sehr solide im Gegensatz zu einem Film wie beispielsweise Agonie von David Clay Diaz, der sich eben nicht festlegen kann und/oder will.

Patrick: Also die Konsequenz in der Wahl der Methode im Bezug zum Stoff, den man filmt oder als allgemeines ästhetisches Programm, als politische Idee? Finde deinen Weg von Camus zu Stephan Richter sehr kurz.

Rainer: Die politische Idee beziehungsweise das ästhetische Programm (ist ja nicht immer so einfach das zu trennen) bedingen doch die Entscheidungen in der Praxis, oder nicht? Das Ganze ist auch kein zu Ende gedachter Gedanke, sondern eher eine (Selbst-)Beobachtung unter Berücksichtigung von Filmen, die ich gestern gesehen habe.

Patrick: Ich hoffe, dass es nicht einfach ist, das zu trennen. So sollte es zumindest sein. Ich habe dieses Jahr den Eindruck, dass sich diese politische Haltung schon ein wenig durch das Festival zieht. Da geht es weniger um eine einzelne Haltung, so nach dem Motto: Wir machen ein kommunistisches Festival, sondern eher um eine Absicherung in der Argumentation von Filmen. Das gefällt mir zwar, aber manchmal würde ich schon auch gerne sagen, dass es die Filme ohne Absicherung auch geben darf. Es gibt halt dadurch sehr viele Filme, die sich selbst thematisieren. Wie in der Filmkritik auch.

Rainer: Da passt der „Trend“ der nachkommenden Generation österreichischer Filmemacher ihre Familie zu filmen und anderweitig zu thematisieren auch gut dazu…

Patrick: Ja, das Stichwort dazu ist Bescheidenheit und da schrillen bei mir so einige Alarmglocken. Ich sage nicht, dass diese Filme, die übrigens nicht nur von jungen Filmemachern gemacht werden, prinzipiell uninteressant sind, aber das Kino darf und soll schon über Grenzen gehen. Ich habe da ja zwei Artikel dazu geschrieben (Film braucht mehr Genies und Der böse Wille zur Kunst) und es ist mir nicht nachvollziehbar wieso Bescheidenheit ein Indiz für Qualität sein soll. Da wird oft Naivität mit Unschuld verwechselt und fehlende Reflektiertheit mit einem angenehm nicht-intellektuellen Zugang. Wenn ein Film per se schon das Herz erwärmt durch seine Beobachtung von Menschen, muss er letztlich eine Fantasie sein. Ja, das Kino soll, darf und muss an diese Dinge glauben, aber für sich alleine stehend bedeuten sie nichts. Dann sind sie nur das Produkt einer Welt, die sie mit ihrer Freude eigentlich kritisieren sollten. Wenn ich mir dagegen so etwas wie Peter Brunners Jeder der fällt hat Flügel anschaue, dann finde ich damit auch meine Probleme, aber ich finde einen Glauben an Kino, der es nicht dafür gebraucht, um vom Potenzial einer menschlichen Nähe zu erzählen, sondern der das Kino und diese Nähe zu einer Bewegung formt, die eben nicht immer harmonisch ist, aber die danach sucht und der nicht gemocht werden will, sich nicht hinter seiner durch alle Poren triefenden Subjektivität versteckt, sondern nackt dasteht.

Rainer: Aber sind diese persönlichen Filme dann zwangsläufig bescheiden? Das kann dann eine aufgesetzte Bescheidenheit wie in den Filmen von Kurdwin Ayub sein oder auch in selbstverherrlichender Megalomanie enden. Im Umkehrschluss kann ein Film auch sehr auf sich selbst bezogen sein, ohne dass der Filmemacher ein einziges Mal selbst auftritt. Ich glaube, wir drehen uns im Kreis, wenn wir uns auf diese Kategorien versteifen, schlussendlich geht es doch darum was mit und in jedem einzelnen Film passiert.

Einer von uns von Stephan Richter

Einer von uns von Stephan Richter

Patrick: Ich glaube diese Verirrung mit Bescheidenheit kommt daher, dass es eine völlige Bescheidenheit etwas zu Filmen und dann zu Zeigen gar nicht geben kann. Ich will kein bescheidenes Kino. Ich will ein Kino das mehr will. Was mich an Haltung interessiert, ist die Position des Filmemachers zu dem was er da filmt. Da will ich einen Respekt, der mir zum Beispiel bei Helmut Berger, Actor abgeht, da will ich eine Distanz, die mich daran erinnert, von wo der Blick stattfindet und da will ich eine Menschlichkeit, die nicht von dem ausgeht, was ich da filme, sondern von dem wie ich es filme. Die Geträumten und auch Brüder der Nacht waren da perfekte Beispiele für diese Haltung, die ich im Kino suche. Unabhängig jedweder Kategorie.

Rainer: Hast du gestern noch etwas gesehen, dass ebenfalls solcherart Haltung bezieht? Oder etwas, dass dich besonders abgeschreckt hat?

Patrick: Ich habe etwas gesehen, dass sich wohl genau in der Mitte davon bewegt hat. Shops around the Corner von Jörg Kalt. Das ist ein Film, der aus Aufnahmen besteht, die der verstorbene Filmemacher 1998 in New York gemacht hat und die Nina Kusturica nun montierte. Dabei überzeugt, dass der Prozess des Filmens im Sinn eines direct cinema Stils mehr oder weniger sichtbar wird, es also auch ein Film über die Arbeitsweise von Jörg Kalt ist, aber gleichzeitig gibt sie dem Film mit einigen Titeln vorher und nachher so einen komisch künstlichen Rahmen…dennoch ist die Haltung dieses Films Neugier, was schonmal ein guter Ausgangspunkt ist. Ich glaube das ist auch ein guter Unterscheidungspunkt…es gibt neugierige Filme und gierige Filme. In einem Film wie Brüder der Nacht hängt das sogar zusammen. Hast du neugierige oder gierige Filme gesehen gestern?

Rainer: Im Kurzdokuprogramm 1 waren mehrere Filme zu sehen, die man zur neugierigen Sorte zählen könnte: Leuchtkraft von Clara Stern und Johannes Höß, nachdem man nie mehr einfach so an einem Neon-Schriftzug vorbeigeht oder auch The Sea You Have to Love von Patrick Wally, der sich querbeet von Hemingways Der alte Mann und das Meer bis Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel bedient, in seiner Studie über kroatische Fischer. Im Endeffekt sind beide Filme wohl ein bisschen zu brav aber insgesamt war das ein schönes Programm, wo es viel zu sehen und lernen gab.

Patrick: Können wir bitte noch über den grandiosen Atlantic35 von Manfred Schwaba sprechen? Vielleicht der zeitgenössischste Film des Festivals?

Rainer: Ich teile deinen Enthusiasmus für den Film nicht ganz, wenngleich ich ihn als Konzeptkunst schätze. Ein 35mm-Film, wie er unter den derzeitigen ökonomischen Rahmenbedingungen noch möglich ist, ein analoger Vine für die Kinoauswertung. Abgesehen von der poetischen Qualität des Films kann man hier sehr lange über medientheoretische Implikationen sprechen, die das Ganze mit sich bringt.

Patrick: Ach du Laberkopf. Das ist einfach ein Film der puren Sehnsucht, ein Film, der nur von seiner Unendlichkeit spricht.

Diagonale-Dialog 3: The virtue of losing oneself in a sea of light

Die Josef-Trilogie von Thomas Woschitz

Nun wo das Festival langsam dem Ende zugeht, beginnen sich erste Gedanken bezüglich der eigenen Wahrnehmung zu formen. Was ist es, was man da sieht und worüber man spricht? Gelingt es uns immer von unserem persönlichen Werturteil zu abstrahieren und jeden Film tatsächlich als das zu sehen, was er ist? Steckt darin nicht eine phänomenologische Unmöglichkeit?

Rainer: Gestern haben wir uns gar nicht gesehen. Das ist angesichts der Größe des Festivals schon bemerkenswert. Ich habe den ganzen Tag im selben Kino und sogar im selben Saal verbracht – das habe ich auch noch nie geschafft – ich kam mir vor, wie die Saalregie.

Patrick: Ich hatte die Ehre vom König der Saalregisseure in meinen Film eingeführt zu werden. Er hat sich nochmal gesteigert und das KIZ Royal bleibt daher mein Lieblingskino hier.

Rainer: Ja, zum Glück ist er dieses Jahr wieder dabei. Ich mag ja das Schubertkino lieber – solang es nicht verstopft ist, hat es etwas von einem Wohnzimmer, wo man den ganzen Tag verbringen kann (was ich gestern dann auch gemacht habe). Wie war das zweite Screening deines Films?

Patrick: Ich habe den Fehler gemacht, dass ich rausgegangen bin diesmal. Ich dachte, dass es dann weniger belastend ist, den Film anzusehen. Aber da fehlt mir dann schon noch die Souveränität und im Endeffekt bin ich um das Kino herumgeschlichen in der Zeit. Aber es gab viel mehr Feedback und ich habe das Gefühl, dass man etwas erahnen kann, wenn man ihn sieht. Hattest du Highlights gestern?

Rainer: Die interessanteste Erkenntnis war, dass die Diagonale für mich eigentlich ein Kurzfilmfestival ist, wo ich hin und wieder auch Langfilme sehe. Gemocht habe ich aber auf jeden Fall die Josef-Trilogie von Thomas Woschitz, die im Rahmen der Personale zu Gabriele Kranzelbinder lief. Ein Film, der mehr über Österreich aussagt, als man zunächst vermuten würde: mit bitterbösem Humor, Kärntner Dialekt und Bergsetting. War bei dir was dabei, das heraussticht?

Patrick: Also das mit dem Kurzfilmfestival sehe ich anders. Neben Die Geträumten hat mich nämlich auch Brüder der Nacht sehr überzeugt. Klar, die waren beide in Berlin, aber lang sind sie trotzdem. Letzterer ist eine faszinierende Arbeit im Stricher-Roma-Milieu in Wien, die sich ein wenig in Bilder von Fassbinder oder Kenneth Anger verliebt und daraus ein Spiel schafft, das durchgehend fasziniert und sich in pure Bewegung auflöst. Dazu noch ein Film wie Jeder der fällt hat Flügel und zumindest sehenswertes wie Korida…es gibt schon lange Filme hier, oder hast du da gar nichts bislang gesehen?

Putty Hill von Matt Porterfield

Putty Hill von Matt Porterfield

Rainer: Nein, das meinte ich nicht. Klar gibt es auch genug lange Filme, aber bei mir läuft es meist auf Kurzfilmprogramme hinaus. Natürlich sehe ich hier auch Langfilme, gestern zum Beispiel Putty Hill von Matt Porterfield (den du kennst, wenn ich mich richtig erinnere). Dass du hier sehr viele Langfilme siehst, während ich die Kurzfilmprogramme vorziehe, könnte einer der Gründe sein, weshalb wir uns nicht so oft über den Weg laufen.

Patrick: Ich schaue schon auch Kurzfilme. Wir haben nur einen völlig unterschiedlichen Zeitplan. Putty Hill kenne ich und schätze ich sehr. Porterfield ist für mich allgemein ein sehr spannender Regisseur, weil er dieses Driften in einer modernen Welt greifbar macht, um es mal etwas pauschal runterzubrechen. Wie ging es dir damit? Es gab auch ein Gespräch?

Rainer: Ja, schon klar, ich denke trotzdem, dass wir unterschiedliche Gewichtungen haben in unserer Programmzusammenstellung. Anyways, Putty Hill ist ein kleines Mysterium für mich. Prinzipiell müsste ich diesem Film eigentlich sehr viel abgewinnen können, weil er stark mit Fiktionsebenen und Konventionen spielt, was ich für gewöhnlich sehr interessant finde. Allerdings konnte ich Putty Hill trotzdem nicht so viel abgewinnen – der Film lief ein wenig an mir vorbei – und er hat mich nicht berührt, was vielleicht der Knackpunkt war. Es ist ja doch eine sehr emotionale Geschichte, aber sie hat nichts mit mir gemacht. Ich glaube ich muss mir das irgendwann nochmal ansehen. Da es im Gespräch um Porterfields Einfluss auf Sebastian Brameshubers Und in der Mitte, da sind wir ging, den ich nicht kenne, bin ich davor gegangen.

Patrick: Warum ist dieses emotionale Berühren so ein Grundwert?

Rainer: Es ist nur eine Vermutung, weshalb ich den Film nicht so sehr mochte. Wie gesagt, schätze ich Filme wie Putty Hill normalerweise sehr, aber irgendetwas hat gefehlt. Ich kann rationalisieren, was der Film (sehr gut) macht und kann im Nachhinein die konzeptionellen Überlegungen wertschätzen, aber ich habe den Film nicht gespürt, als er auf der Leinwand war. Keine Ahnung, sowas passiert manchmal, vielleicht hat es auch mit dem Festivalsetting zu tun…

Patrick: Ja, ich glaube darauf will ich hinaus. Natürlich will man, dass man etwas spürt, darum geht es ja sogar oft. Aber ich finde nicht, dass es immer darum geht und ich finde nicht, dass es immer unbedingt am Film liegt, wenn man nichts gespürt hat. Das fällt mir immer wieder auf bei diesen Gesprächen, die man so hat hier…am Ende werden sehr subjektive Urteile gefällt, die letztlich doch an einem Bauchgefühl hängen, das je nach rhetorischen Fähigkeiten dann pseudo-objektiviert wird. Wie man über einen Film spricht, fragen sich nur sehr wenige. Vielleicht ist das aber auch eine Ohnmacht, die wir alle teilen und die letztlich das Ganze lebendig hält.

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky

Rainer: Ich verstehe, was du meinst. Um das nochmal klarzustellen: Putty Hill hat unweigerlich seine Qualitäten, die ich gar nicht abgestritten habe oder abstreiten will, ich bin eher selbst verwundert, dass der Film nicht noch zusätzlich auch auf einer persönlichen Ebene funktioniert ist, dass der Funke nicht übergesprungen ist. Deshalb möchte ich noch einmal auf den Film zurückkommen, um festzustellen, ob ich tatsächlich ein Problem mit einem Aspekt des Films hab, den ich bisher nicht spezifizieren kann, oder ob es an meiner Tagesverfassung oder an der Screeningsituation gelegen ist. Mir fällt gerade ein, dass ich in deiner Frage nach den Highlights auf Peter Tscherkasskys The Exquisite Corpus vergessen habe, den ich gestern als ersten Film des Tages gesehen habe, und der erwartungsgemäß virtuos ist.

Patrick: Ja, das ist ein herausragender Film, der das Begehren mit dem Material verbindet und auflöst. Bekommst du eher Lust auf Film auf der diesjährigen Diagonale oder eine Müdigkeit?

Rainer: Ich kann mir nur schwer ein Szenario vorstellen, in dem ich keine Lust auf Film habe und vor allem Filmfestivals verstärken eher meinen Enthusiasmus. Da fühle ich mich immer selbst ein wenig, wie ein exquisiter Körper, der sich in den Filmen und Kinos auflöst.