Im Schnee: Bora Ćosić. Reise nach Alaska

Die Reise nach Alaska ist eine Reise ins ehemalige Jugoslawien. Eine europäische Reise, wenn man so will, eine politische, aber vor allem eine persönliche. Wie alle Reiseliteratur von (auf)richtigen Autoren ist sie keine Reiseliteratur, beinahe, so spürt man, ist es unerheblich, ob wirklich gereist worden ist oder nur geschrieben. Das Schreiben und das Reisen wird zu einer Bewegung. Gebrandmarkt von den eigenen Erinnerungen reist und schreibt der Autor Bora Ćosić , der das Land Anfang der neunziger Jahre aus Protest gegen die Politik der Machthaber verlassen hat, gemeinsam mit seiner Ehefrau hinein in das, was nie ganz das ist, was er fühlt und immer exakt zu dem wird, was er sieht. Und andersherum, weil es zum Reisen gehört, dass sich etwas dreht: Erwartungen, Geographien, Gefühle. Bevölkert werden die von ihm hauptsächlich aufgesuchten Orte Krapina, Zagreb, Travnik, Sarajevo, Belgrad und Rijeka von Geistern und Stimmen, die einst waren, verblassten, verschwanden, sich veränderten, noch immer nachklingen (Höre auf solche Stimmen, sie erzählen etwas über die Welt und dich zugleich.).

Es ist eine unbekannte Welt für ihn, deshalb, so schreibt er, könne es eben auch Alaska sein. Man denkt an Eiswüsten und daran, dass Alaska im Aleutischen so viel bedeutet wie: „Land, in dessen Richtung das Meer strömt“. Das Meer in diesem Alaska ist der Mediterran. Dessen Wellenkämme haben schon immer Grenzen aufgelöst und an den Ufern sowie am Meeresgrund einen menschenunwürdigen Tribut bezahlt. Für was eigentlich? Für den Widerstand so wie der ehemalige Radfahrer und gefallene Partisan Janez Peternel, von dem Ćosić kurz schreibt, als er sich an Bilder der Jugoslawien-Rundfahrt erinnert. Die Namen von Radrennen geben immerzu den Eindruck einer Erkundung, einer umfassenden Spur, die sich in oder um ein Land bewegt. Oder eine Reise von A nach B beschreibt, wobei das in diesem Alaska undenkbar wäre. „Heute ist dieses Land auseinandergebrochen, durch die vielen Sonderinteressen zerstückelt, unsere kleine Kolonne, Familienkolonne, hat nichts, was sie verbinden könnte, wir wälzen uns nur von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, außerhalb irgendeines Wettrennens, niemand erwartet uns am Ziel. Denn man reist nicht, wie man vor langer Zeit sagte, um irgendwo anzukommen, sondern um zu reisen.“ Die Worte kreisen um ein Dazwischen, um ein Nichts. Verfall und Veränderung prägen das Erscheinungsbild dessen, was Ćosić beschreibt. Autoren, die von Brücken sprangen, andere, die nicht mehr sprechen, unauffindbar geworden sind, wieder andere, die in Erinnerungen schwelgen (Schreibe alle Namen auf, denn diese so reiche, gebrochene Welt liegt verborgener vor mir als Alaska, von dem ich bei Jack London las.).

Ćosić will zeigen, aber sucht. Er weiß, aber er fragt. „Ob der Mensch hier oder dort geboren wird, ist eine Sache des Zufalls“, formuliert er zum Auftakt und stellt diese Haltung gewissermaßen unter die gesamte Reise, die nationalistischen Sentiments in einer Region der Erde die Stirn bietet, die auf ganz traumatische Art und Weise mit den aufgeladenen Diskursen um Flaggenzugehörigkeiten in Verbindung steht. Selbstverleugnung, Skepsis und das, was wir von uns vergraben auf dem Friedhof der unliebsamen Erinnerungen kommen an die Oberfläche. Ćosić schreibt von Nachsicht gegenüber dem heimatlichen Boden, die es brauche, um diesen Flecken Erde vom Rest des Planeten abzutrennen (das kroatische Wort „zavičaj“ meint Heimat, aber ohne die unbedingten politischen Konnotationen, mit denen wir das deutsche Wort heute verbinden müssen.).

Sarajevo © Hiroatsu Suzuki

Derzeit wird gerade im Zusammenhang des ehemaligen Jugoslawiens wieder viel darüber diskutiert, was Literatur darf, was Literatur ist, von wo sie kommt und wer ihrer würdig ist. Ćosić nimmt dabei eine unmissverständliche Position ein, Texte von ihm erscheinen auch im Tagesdiskurs. Sein Buch war ganz bewusst als Gegenschilderung zu Peter Handkes Serbienreise geschrieben. Mehrmals nimmt Ćosić auf seiner Reise nach Alaska auf den österreichischen Schreiber Bezug, kritisiert ihn heftig (Lese, was geschrieben wird, versuche dir eine eigene Meinung zu bilden, aber scheitere auch daran.).

Im Gegensatz zu Handke versucht dieser Text mein nicht-vorhandenes Serbienbild nicht zu manipulieren, ich spüre nicht, dass jemand etwas anderes will, als das, was geschrieben steht. Vielleicht lese ich nicht genau genug. Womöglich fällt es mir leichter Ćosić beizupflichten. In beiden Texten gibt es Untertöne, bei Handke jenen, der Serbien bis zum Möglichen (und Unmöglichen) rehabilitieren will, bei Ćosić eine Abwendung vom Nationaldenken. So viele Stimmen und doch hören wir nur die, die am lautesten schreien. Wer lädt die tausenden Schweigenden ein in die Debatten, welcher von der Brücke gesprungene, welche Erschossene schreibt einen Text? Gerechtigkeit kann keine Frage einer Nachbetrachtung sein, sie geschieht im Moment. (Was mache ich mit all dem Unsinn, der in meinem Notizbuch steht? Ich möchte in behalten, aber nicht verraten.)

Wenn Ćosić eine Sache vor Augen führt, dann dass es schwierig ist, eine klare Position zu beziehen. Zumal es hier verschiedene Konflikte gibt: einen moralischen, einen literarischen, einen gesellschaftlichen, einen begrifflichen, einen geographischen, einen politischen (Ich wünsche mir, dass weniger darüber geschrieben würde, aber schreibe selbst etwas dazu auf, vielleicht meint Ćosić das, wenn er Handke im Buch als schizophren bezeichnet?). Ich kenne mich nicht aus.

Eigentlich begegnen Ćosić allerhand Schönheiten auf seiner Reise. Herzerwärmende Begegnungen, lebendige Erinnerungen. Seine Reise ist geprägt von einem Bemühen um Versöhnung. Wie die Gezeiten des so nahen Meeres, die Winde, die mal vom Land und mal vom Meer kommen, gelingt ihm ein sanfter Blick oder greift eine verzweifelte Wut, eine immense Leere über auf die Worte. Die Reise nach Alaska ist auch ein Buch, in dem nicht alles geschrieben steht, man spürt, dass es Zeilen gibt, die nicht den Weg ins Buch gefunden haben. Ćosić behauptet, ohne jegliche Vorurteile in „sein Land“ gekommen zu sein, was schwer zu glauben ist. Es gibt wohl eine Nähe zwischen Erinnerungen und Vorurteilen. Verfestigte Eindrücke, die sich in uns ansammeln wie Kalk in einem Wasserkocher. Nur eine solche Reise kann uns entkalken. Wenn der Autor also schreibt, dass er keine Vorurteile hatte vor der Reise, dann meint er nicht die reale Reise, er meint den Akt des Schreibens. Es ist aber glaubwürdig, dass er nicht geschrieben hat, um etwas zu beweisen, was einen großen Unterschied macht (Ob ich ohne Vorurteile gelesen habe, steht in meinem Notizbuch zwischen den Zeilen.).

Ein Buch für alle, die Orte dieser Erde nicht über ihre Entfernung zur Heimat und Segeltauglichkeit definieren, für alle, die in Alaska nicht im serbischen Schnee versinken wollen (Ein Buch ist immer für alle genau wie der Schnee).