Calm Like You: On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo

No regard for the cost
Of saying his feelings
In the moment they were felt
And if he was calm like you
Locked up inside of your loops
Then he’d know for well
That all he had to say was
All he had to say was goodbye
(The Last Shadow Puppets-Calm Like You)

On the Beach at Night Alone
Hong Sang-soos erste von drei Variationen des Kinojahres heißt On the Beach at Night Alone. Wie viele seiner jüngeren Filme folgt er der unsicheren Logik von Träumen, die auf Realitäten treffen. Er erzählt von den Fiktionen, in denen wir unsere Gefühle sichtbar machen. Man folgt der Protagonistin, der Schauspielerin Young-hee (Kim Min-hee) auf ihrer Reise in Hamburg, an der Nordsee und zurück in ihrer Heimat Südkorea. Selbst wenn man wollte, könnte man nicht umgehen, darüber zu schreiben, dass Kim Min-hee die Lebensgefährtin von Hong Sang-soo ist: Es war ein verhältnismäßig großer Skandal in Südkorea, als die Beziehung der bekannten Darstellerin mit dem verheirateten Filmemacher bekannt wurde. Selbst eine öffentliche Schlammschlacht zwischen der Familie der Ex-Frau und Kim Min-hee blieb nicht aus. Dies ist mehr als eine Hintergrundinformation, weil On the Beach at Night Alone in mehrfacher Hinsicht auf den Skandal und noch mehr auf die damit verbundenen Emotionen Bezug nimmt. Es ist ein wenig so – und der Film reflektiert das auch – als ob das Leben nur weitergehen könnte, wenn man es fiktionalisiert. Gleichzeitig aber offenbaren die Fiktionen den Schmerz. Jedenfalls kommt Young-hee aus einer Affäre mit einem älteren und verheirateten Filmemacher. Sie wartet auf ihn in Hamburg und versucht die gescheiterte Liebe in Südkorea zu verarbeiten. Es ist auch ein Film über die Abwesenheit einer herbeigesehnten Berührung. Einer Berührung, die nur in Abstraktionen und Spiegelung möglich scheint: Die Liebe als Illusion.

„Wach auf!“: Young-hee könnte all das auch nur träumen. Das ist klar. Man lässt sich ein auf dieses Spiel, wenn man dieser Tage einen Film von Hong Sang-soo sieht. Aber welcher Unterschied existiert zwischen Träumen, Filmen, Trunkenheit und dem verformenden Begehren einer Einsamkeit? Wo zieht man die Linie zwischen einem gelebten Leben und den Bildern, die man davon macht?

On the Beach at Night Alone

Young-hee ist in Hamburg mit einer Freundin oder Schwester, man weiß es nicht. Sie schwärmt von der Fremde, vom Reisen und oft – man glaubt seinen Ohren kaum zu hören – von Deutschland. Hier und da wirkt es beinahe so, als würde Sang-soo die deutsche „Tugend“ des Exotismus umdrehen und uns ironisch vor Augen führen, welche fernöstlichen Banalitäten wir häufig zu großer Poesie erklären. So schwenkt die Kamera einmal auf ein beschauliches, aber unauffälliges Restaurant in einem Park während Young-hee begeistert erklärt, dass es aussehe wie in einem Märchen. In den Bildern von Südkorea gibt es kaum solche Idylle (mal abgesehen vom Meer). Jedoch kann man davon ausgehen, dass dieser Blick auf Deutschland mehr über Südkorea sagen soll, als über Deutschland. Die Kardrierung von Sang-soo betont immer wieder eine Schönheit, die nicht ganz wirklich wirkt, aber glaubhaft. Er stellt bewusst die Frage, ob die Wahrnehmung nicht wichtiger ist als die Realität. Es geht hier auch um die Umarmung einer möglichen Flucht vor dem eigenen Leben, der zum Teil bitteren Liebeserklärung an das Fremde an sich, die auf den Seelenzustand von Young-hee zurückzuführen ist. Es gefällt ihr in Deutschland, weil sie anonym ist. Sie lässt etwas hinter sich. Für das Kino von Sang-soo lässt sich wohl ähnliches sagen.

Als sie und ihre Begleiterin später im Park von einem Mann angesprochen werden – einer dieser merkwürdigen Schattenmänner des Films – fliehen sie vor seiner Präsenz, vielleicht auch vor seiner, ihnen bekannten Sprache. Ein weiterer oder derselbe unbekannte Mann wird Young-hee an der Nordsee davontragen, Später in Südkorea taucht ein solcher Schattenmann als Fensterputzer vor dem Hotelzimmer auf. Nur dort scheint er nicht bemerkt zu werden, was einige zur Interpretation geführt hat, dass es sich bei ihm um eine Personifikation des Todes hält. Auffällig ist aber, dass er am Ende keinen Kontakt mehr zu den Figuren sucht. Daher könnte man ihn eher als ein Sinnbild der öffentlichen Hetzjagd gegen Sang-soo verstehen. Erst will er zugreifen, aber die Protagonistin flieht, dann packt er sie doch und schleppt sie zurück nach Südkorea und schließlich interessiert er sich nicht mehr, versperrt aber für alle Zeit den Blick aufs Meer, die mögliche Schönheit. Man kann sie nicht berühren. Wozu aber solche Interpretationen?

On the Beach at Night Alone

„Wach auf!“: In den 54 Einstellungen des Films finden sich gewohnt viele Zooms und repetitive Elemente. Allerdings arbeiten die Wiederholungen nicht nach einem strengen formalen Prinzip, sie wirken wie vieles im Film improvisiert. Formale Strenge sieht anders aus. So kreuzen immer wieder Figuren hinter Fenstern das Bild. Das sehen wir zum ersten Mal im Park in Hamburg, als Young-hee und ihre Begleiterin auffällig nahe an der Kamera vorbeiwischen. Es wiederholt sich am Nordseestrand, den Young-hee und ihre Begleiterin gemeinsam mit den Kunst- und Filmfreunden Bettina Steinbrügge und Mark Peranson besuchen. Dort kreuzen drei Figuren das Bild, denn Young-hee fehlt. Sie verliert sich im Meer. Später kreuzen zwei anonyme Gestalten vor einem Café in Südkorea das Bild hinter einer Scheibe. Auch am Meer in Südkorea wiederholt sich dieses Spiel. Es ist der Vorgang des Passierens, des Nicht-Innehaltens, der Sang-soo hier zu interessieren scheint. Auffällig ist auch im Vergleich zu seinen anderen Werken der betonte Einsatz von Glasfassaden, man könnte von versperrten Blicken sprechen oder zumindest von der Unmöglichkeit des Berührens. Im Hotel in Südkorea lässt Sang-soo sogar eine Verformung der durch einen Spiegel betrachteten Körper seiner Figuren zu. Das Glas erzählt eben auch von dem Spiegel auf das Leben.

Als Young-hee mit ihrer Begleitung auf einem Balkon raucht, erzählt diese von der notwendigen Einsamkeit in ihrem Leben. Es ist eine dieser vielen moralisch-philosophischen und psychologischen Definitionen der Liebe, die den Film heimsuchen. Zusätzlich ist es eine der zahlreichen Modi der Einsamkeit, die Hongs Figuren durchleben und in ihren Dialogen zu fassen versuchen. In Südkorea sitzt die Protagonistin mit Freunden (zwei Pärchen) beim Essen. Größere Essenszenen bedeuten im Kino oft, dass intime Wahrheiten ans Licht kommen. (Bei Sang-soo hängt das auch immer mit dem Trinken zusammen.) Sang-Soo gleitet mit unheimlicher Effizienz von der sanften Peinlichkeit eines Small-Talks in die Offenbarungen von inneren Narben. In diesem Fall dreht sich das Gespräch zunächst um das Älterwerden. Einige schlechte Witze werden gemacht. Das Gespräch schwenkt (die Kamera nicht) auf ihre Zeit in Deutschland über. Sie berichtet von ihrer Einsamkeit und ihren kurzen Bekanntschaften dort. Dann sagt sie, dass sie diese Affären und Liebesgeschichten nicht mehr wolle, sie würde lieber würdevoll sterben. In dem Augenblick zoomt die Kamera auf sie und erhöht damit den Druck beim Sehen. Ist es so, dass in diesem Statement eine Wahrheit liegt oder zeigt uns die Kamera etwas, dass unter dem Gesagten verborgen liegt. Das würdevolle Alleinsein, das Young-hee auch von ihrer Bekannten aus Deutschland übernommen hat, hängt mit dem verdrängten Begehren zusammen, die enttäuschte Liebe, die sich selbst hilft mit theoretischer Würde. Sang-soo widerspricht der Filmschulgrammatik, nach der Einsamkeit immer etwas mit dem Entfernen der Kamera zu tun hat (die Idee dabei wäre, dass man eine Figur isoliert im Raum zeigt). Stattdessen kommt er näher. Die Frage steht im Raum: Ist Einsamkeit würdevoll?

On the Beach at Night Alone

„Wach auf!“: Ehe man sich versieht, küssen sich zwei Frauen am Tisch. Auch das andere Pärchen küsst sich. Nur der Mann der einen Frau bekommt keinen Kuss, als er danach fragt. Die Sequenz endet als Young-hee und ihre Freundin hinter dem Fenster kreuzen und die Männer im Vordergrund ein Gedicht über die Entsagung von der Liebe rezitieren. In jeder möglichen Nähe des Films versteckt die Kadrierung bereits die zu erwartende, folgende Einsamkeit. Das zeigt sich zum Beispiel bei einer Verabschiedung am Parkplatz des Hotels, an dem Young-hee sich später in Südkorea zurückzieht. Das Bild scheint nur darauf zu warten, sich zu leeren. Es entfesselt seine volle Kraft erst, wenn alle bis auf Young-hee den filmischen Raum verlassen haben. Die Bildgestaltung zielt auf das, was kommen wird, nicht auf das, was wir sofort sehen. Nicht nur deshalb kann man sagen, dass Sang-soos Blick ein Gewissen hat. Es ist das Gewissen einer Erwartung, die in seinem Fall eben mit Erfahrungen zusammenhängt. Unter diesem Aspekt bekommen auch die das Framing kreuzenden Figuren eine neue Note zugefügt, denn auch sie verlassen das Bild, lassen es alleine stehen. Das führt einen zur auffälligsten Einstellung des Films. Sie ist nicht auffällig, weil etwas an ihr nach Aufmerksamkeit sucht, sondern weil sie wie eingeschoben wirkt und nicht zur restlichen Bildsprache passen will: Nachdem Sang-soo seine Protagonistin zum zweiten Mal hinter einer Toilettentür (zum ersten Mal geschieht das in der Wohnung von Steinbrügge/Peranson) erahnt, schneidet er auf ein Bild vom Meer hinter Glas. Die Kamera zoomt in einem stillen Moment darauf zu. Keine Figuren, kein Satz gesprochen. Der Blick ist nur zum Teil verstellt. Es ist ein Sehnsuchtsbild, etwas das nach draußen will. Hier identifiziert sich der Blick der Kamera mit jenem der Protagonistin. Die scheinbare Neutralität der Beobachterperspektive wird in diesen Sekunden aufgehoben.

Welche Sehnsucht ist das? Jene nach Berührungen, nach dem Tod oder gar jene nach dem Verschwinden? Sowohl in Hamburg als auch in Südkorea mal Young-hee das Gesicht eines Mannes mit einem Stecken in den Sand. Es sind diese Bilder und Fiktionen, die weiter arbeiten in uns und den Figuren. So verbindet On the Beach at Night Alone seinen Hamburg- und seinen Südkorea-Teil auch über das Kino, eine der großen Bildermaschinen. Nach einer Titelsequenz in der Mitte des Films sitzt Young-hee in gerade zu erahnender Dunkelheit in einem Kino. Mit Tränen. Man ist sich nicht ganz sicher, ob sie dort den ersten Teil des Films gesehen hat. Diese doppelten Böden werden am Ende verstärkt, als ihr am Strand wiederholt gesagt wird, dass sie aufwachen solle. Als sie schließlich tatsächlich auf den Filmemacher trifft (im Rahmen eines weiteren großen Essens mit dem Filmteam), scheint dieser nur in der Lage seine Gefühle zu formulieren, in dem er sich an Spiegelungen und Abstraktionen bedient. Es geht eigentlich allen Figuren im Film so und Sang-soo zeigt immer zugleich die notwendige Fiktion als auch die Menschlichkeiten, Peinlichkeiten und Grausamkeiten, die dafür nötig sind. Es geht dem Filmemacher um die falschen Umstände einer möglichen Liebe. Die Lüge, die immer in der eigentlich notwendigen Wahrheit schwimmt. Er kündigt erst an, einen Film über eine Person zu machen, die er mal geliebt hat. Schließlich liest er aus einem Buch vor:

„Es ist Zeit, sich zu trennen. Als sich unsere Augen in dieser Hütte getroffen haben, hat uns unsere Zurückhaltung verlassen. Ich habe sie in meine Arme genommen. Sie hat ihr Gesicht gegen meine Brust gedrückt. (hier zoomt die Kamera auf den Filmemacher) Tränen flossen aus ihren Augen. Im Küssen ihres Gesichts, ihrer Schultern und tränengetränkten Hände, waren wir wirklich…unglücklich. Ich gestand ihr meine Liebe und musste mit schmerzenden Herzen eingestehen wie belanglos, unnötig und trügerisch alles war, was uns am Lieben hinderte. (Schwenk zu Young-hee) Wenn man liebt, müssen die Gründe für diese Liebe die höchsten sein. Der Ausgangspunkt dieser Liebe muss jenseits von Glück oder Unglück, Sünde oder Tugend sein. (Schwenk zurück zu ihm) Sonst muss man gar nicht damit beginnen, zu überlegen und argumentieren.“

In einer früheren Szene singt Young-hee rauchend vor einem Café:

„Wenn der Wind bläst und der Himmel dunkel ist, wenn ich mich nach deinem Anblick sehne. Wenn der Wind bläst und ich mich traurig fühle, ich an deine Schönheit denke. (Zoom auf sie) Geht es dir gut? Lebst du ein glückliches Leben? Kannst du mein Herz sehen? Warum fühle ich mich so? Kannst du mein Herz sehen? Warum fühle ich mich so?“

Am Ende des Films hört man ein Schluchzen und sieht ein Verschwinden.

On the Beach at Night Alone

WdK Tag 5: „Apparatus“ – Die Selbstkritik der Anderen: I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Der Apparat. Der Staatsapparat. Der totalitäre Staatsapparat? Der Apparatschik? Seit Verabschiedung der bipolaren Weltordnung, ruft die Verbindung der Wörter Staat und Apparat seltsame Nicht-Erinnerungen, weil meist nie selbst erlebte, an Fünfjahrespläne, Arbeitserfüllungsquoten und weit verzweigte Labyrinthe kahler, mit Linoleum ausgelegter Korridore hervor; und hinter jeder Tür, dahinten am tiefen Ende jedes Spanholzschreibtisches ein Mann vom Apparat.

Im daran anschließenden Denken ist der Apparat für den einzelnen Bürger einerseits ein Außen, übergestülpt, die Gottmaschine, die alles am Laufen hält, verbunden mit kafkaesken Vorstellungen von Unübersichtlichkeit, Unadressierbarkeit und Unbeeinflussbarkeit. Andererseits ist der Apparat höhere Vorsehung, in welche der Bürger eingeordnet ist, die er als Zahnrad oder Dichtungsring oder Schraube und so weiter in reibungs- und verlustfreier Bewegung hält, allerdings ohne seine genaue Funktion oder seinen genauen Platz in Beziehung zu den anderen Teilen des Apparats zu kennen.

Die westliche Kunst- und Kulturszene erwartet aus jenen Regionen der Welt, denen man im ersten Schritt zuschreibt, nach dieser Logik des Apparates zu verfahren, im zweiten Schritt eine dissidente Kunst, die doch bitte erkennt, wie schlimm das alles ist, für die Freiheit des Individuums und die Selbstbestimmung und die dann – aus diesem Akt der vermeintlichen Erkenntnis nach den Maßstäben und zur Bestätigung einer schon lange kommerzialisierten Selbstfindungs-Metaphysik heraus – eine Geste des Protests, des individuellen Aufstands gegen das System inszeniert. Erst das Zahnrad, das plötzlich bemerkt, dass es eingesperrt und benutzt ist, aber ja gar nicht weiß was es ist und warum überhaupt, und dann der einsame Stinkefinger der Selbsterkenntnis vor den grauen Toren des Systems. Ai Weiwei kann nun auch nichts dafür, dass er berühmt geworden ist und herhalten muss als der gute Dissident, der die gute kritische Kunst zu machen hat; nach Zusammenbruch der Sowjetunion war halt noch China übrig. Das Effiziente an dieser Logik der westlichen Selbstbestätigung über den Umweg der Selbstkritik der Anderen ist, dass sie im Abstand zu dem verschwommenen Dort beinahe jede künstlerische Position zu einer ihr gemäßen individualistischen Kritik umdeuten oder reduzieren kann. In regelmäßigen Abständen adoptiert auch das sogenannte Arthouse-Kino einen Film aus Russland oder China oder dem Iran, um ihn nach dieser Logik zu verwerten und seinem treuen Publikum einen wohligen lau-kalten Schauer über den Rücken zu jagen.

Ai Weiwei - Stinkefinger

Ai Weiwei zeigt den Stinkefinger.

I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang scheint sich auf den ersten Blick dieser Praxis anzubiedern, so wie etwa Andrey Zvyagintsev es mit seinem Kritikerliebling Leviathan tat, der bereits für ein westliches Publikum gemacht schien und sich schon selbst, ohne dass viel nachzuhelfen nötig gewesen wäre, im Honigtopf für Dissidenten ertränkt hatte (Patrick hat dazu einen anderen Ansatz). Die junge Li Xuelian (Fan Bingbing) wurde von ihrem Mann betrogen und kämpft sich nun mutig, aber erfolglos, durch die Institutionen des chinesischen Rechtssystems: für Gerechtigkeit … oder für Wiedergutmachung? Oder für Rache? Oder aus Zerstörungslust? Oder einfach um zu gewinnen? Beim Versuch auf einen Begriff zu bringen, beginnen schon die so notwendigen Probleme, die den Film davor bewahren könnten, verwurstet zu werden, aber wahrscheinlich ebenso davor bewahren werden in Deutschland überhaupt gezeigt zu werden. I am not Madame Bovary lässt sich nicht auflösen in einen psychologischen Realismus, welcher den Selbstbestätigungsmechanismen stets am gelegensten kommt, weil er das Individuum, so hart es auch attackiert wird, stets als seinen Mittelpunkt behauptet. Lue Xuelian ist nicht diese vollkommen transparente Version einer jungen, starken Frau, die ihre marginalisierte Stellung in der Gesellschaft schmerzhaft beigebracht bekommt und daraus die unheimliche Kraft für ihren Kampf zieht. Wir haben es nicht mit der Geschichte einer Bewusstwerdung zu tun, die in all ihren Motivationsmomenten offengelegt wird und so auf eine erwartbare Identifikation hin angelegt ist. Li Xuelian ist eine einfache Frau vom Land, die einfach nicht zu verstehen ist. Sie berät sich mit ihrem Ochsen über ihr weiteres Vorgehen, schleift ein großes Messer unten am Wasser, will töten und ist dann wieder ganz ruhig. Die streng und total kadrierten Bilder des ersten Teils geben immer wieder Momente der Distanzierung und, durch das ikonische kreisrunde Münzformat des Bildes,  Momente der mythischen Aufladung der Figur Li Xuelian. In einigen Einstellungen erinnert sie an eine Rächerin aus der Sagenwelt, der jegliche psychologische Motivation äußerlich ist, die handelt aus Funktion oder aus einem Trieb, der tiefer liegt als das Kausalpsychische.

Vieles über diese Frau bleibt im Dunkeln, immer wieder verlieren wir sie für lange Zeit aus den Augen und der Film vertieft sich stattdessen in die Institutionen, die ihre wahre Mühe mit ihr haben und von der lebendigen Vielzahl ihrer Motivationen und Handlungen genauso überrascht sind wie wir. In der Gegenüberstellung von Individuum und Institution wird am deutlichsten, wo der Film den Mechanismen eines dissidenten Kinos ausbricht. Er teilt nicht auf in einander äußerliche Sphären, selbstverständlich auch nicht in Gut und Böse. Es stehen sich hier nicht das Individuum und die graue Masse des Apparates gegenüber, deren Motivationen und Handlungen unvereinbaren Welten zugehörig sind. Genauso wie die Figur der Lue Xuelian privatpsychologische (die enttäuschte Liebe) mit institutionellen (die Scheinscheidung und ihre Hintergründe in Politik und Arbeit) und mythischen (eine alte Beleidigung, ein Fluch der gesühnt werden muss) Motivationen verwebt, erreichen die Männer der Institutionen teilweise eine starke Individualisierung (der besudelte Justizchef, der in der letzten Szene des Films wiederauftaucht), beweisen in ihrer Rede immer wieder ausgeprägte Vernunft (der hohe Vorsitzende beim nationalen Parteikongress) und sogar Empathie (der Gouverneur am Ende); aber eben auch in anderen Szenen das Gegenteil.

Eine nicht überblickbare Vielzahl von Mechanismen und Motivationen greifen in diesem Film ineinander, deren Verhältnisse – und vielleicht ist das, um sich von einem festlegenden dissidenten Kino abzugrenzen, noch wichtiger als die einfach quantitative Unübersichtlichkeit  – in jedem Aufeinandertreffen von Lue Xuelian und den Funktionären, aber auch in jedem Treffen der Funktionäre untereinander neu ausgehandelt werden. I am not Madame Bovary nimmt die Kontingenz und Widersprüchlichkeit des ewig zu verhandelnden gesellschaftlichen Lebens auf in seine durchaus kritische Betrachtung des chinesischen Rechtssystems und entgeht dadurch – hoffentlich – der Gefahr der Aneignung durch den westlichen Selbstbestätigungsapparat.

Berlinale 2017: Der erste und der letzte Film

Berlin ist für mich mittlerweile die Stadt der Menschenschlangen; zumindest gegen eines von beiden habe ich eine Phobie und die Kombination – das heißt Schlange stehende Menschen – versuche ich zu meiden. Deshalb möchte ich mich nicht auf die Phasen des Wartens, des Durch-das-Programm-Schlängelns, konzentrieren, sondern auf den ersten und den letzten Film meiner allerersten Berlinale.

Der Weg vom Alexanderplatz über die Karl-Marx-Allee hin zum DDR-Premierenkino International war tatsächlich ein Anfang, dem ein gewisser Zauber innewohnte. Eisiger Wind schlug mir entgegen, die kommunistischen Pracht-Plattenbauten strömten den Geist einer verflossenen Utopie aus, das Überqueren der Allee kam einem Übertritt in eine andere Zeit gleich. Ich war schon einmal hier, mit 19 bei einem Lesekreis zu Karl Marx. Damals war es auch kalt, grau und windig, aber die Mission schien ernster.

Diesmal bin ich auf dem Weg zu Eolomea von Herrmann Zschoche. Ein anspielungsreicher, spaßiger DEFA Science Fiction Film aus dem Jahr 1972. Auf den ersten Blick verliebe ich mich in das Kino, auf den zweiten in den Filmbeginn und dann in Frau Doktor Maria Scholl, die stark geschminkt, perfekt frisiert und futuristisch-stilvoll gekleidet mit brennender Zigarette im Mundwinkel, linkisch und cool zugleich, die Weltraumkonferenz betritt. Diese setzt sich aus Damen und Herren der verschiedensten Länder zusammen, deren internationale Herkunft durch ethnische Übertreibungen, wie Frisuren und Tracht, deutlich markiert ist. Zuerst fällt das positiv auf, doch im Grunde bleibt vom internationalen Aussehen der Konferenz nur ein Bild übrig (wenn auch ein positives, integratives), denn die Agierenden sind alle europäischer Abstammung. Frau Doktor wird als schöne, selbstbewusste, unabhängige Frau inszeniert: Sie bietet den älteren, deutschen Herren, die reichlich farblos daherkommen, gekonnt Paroli, steht zu ihren Meinungen, aber verbirgt auch ihre eigene Unwissenheit bezüglich der verschwindenden Raumschiffe nicht. Sieben, nein Acht sind mittlerweile unter ungeklärten Umständen verschwunden, der Beschluss ist ein Flugverbot. Dies erzürnt den Kosmonauten Dan Lagny, der mit einem lethargischen, in sich versunkenen Weltraum-Pionier auf einem tristen Planeten stationiert ist. Er langweilt sich dort zu Tode – einziger Trost sind ihm seine Flasche Cognac und seine Erinnerungen an den letzten Urlaub auf den Galapagos Inseln.

Das Ankommen auf der Insel beschreibt die allererste Sequenz des Films: Nach Musik zu Schwarzbild (ein hochunterschätztes Stilmittel), taucht hinter exotischen Kakteen Dan auf. Die Sonne flimmert auf 70mm-Film und die Exotik des Ortes suggeriert, dass man sich auf einem wunderschönen fremden Planeten befindet. So lange, bis Dan in das leuchtend blaue Meer hineinläuft und gen Himmel schreit, dass er den Kosmos satt habe. Aus der Vogelperspektive zieht die Kamera davon, hinein in den Kosmos und in den psychedelisch-entspannten Vorspann.

Wieder auf Galapagos spielt eine der letzten Szenen des Films. Vor der Kulisse des Meeres laufen Dan und Maria aufeinander zu, in Zeitlupe. Einzelaufnahmen der beiden wechseln sich mit Panoramaeinstellungen vor einer zweifachen Horizontale ab. Mit jedem Panorama bewegen sich die beiden weiter voneinander weg, mit jeder Einzelaufnahme wähnt man sie näher. Diametral, kongenial montiert.

Bewusst ironisch-überkitscht scheinen die Paarszenen, die Dans Hirn entspringen, eine Abziehfolie westlicher Familienidylle zu sein: Liebe, Familie, offene Grenzen und Jetset-Urlaub in der Karibik. Das Berufsleben dem persönlichen Glück zu opfern, die eigenen Ziele über die des Kollektivs zu erheben, ist in Eolomea aber nur möglich, wenn diese rückwirkend wieder der Reputation des Staates, der Gemeinschaft dienen. Grund für das Verschwinden der Raumschiffe ist nämlich, dass Marias Kollege Professor Ole Tal beschlossen hat, in einer exorbitanten Expedition den Planeten Eolomea zu erreichen, der der schönste Planet sein soll, der Liebesstern am Firmament. Für diese prestigereiche Expedition hat er heimlich junge, engagierte Leute rekrutiert, die teilweise selbst nie die Erde gesehen haben und nur für die Kosmosmission leben. Die Fiktion des Planeten Eolomea, dessen mögliche Entdeckung so weit in der Zukunft liegt, dass die Unsterblichkeit des Systems als selbstverständlich vorausgesetzt wird, gewinnt über Dans in Greifweite liegende Träumereien die Oberhand.

Kann man also sagen, dass Eolomea, indem er Dan schlussendlich auf Kosmosexpedition schickt, die Kategorie eines systemkonformen Kinos bedient? Das ständige Changieren zwischen Kritik und Anpassung an das System, zwischen dem Glauben an die Idee der Raumfahrt und dem schlichten Verlangen nach der Erde (ohne Grenzen), zwischen der Sehnsucht nach Familie und der werbeästhetischen Bebilderung derselben gibt Rätsel auf. Gerade deshalb ist Eolomea keine Propaganda, er ist auch keine Anti-Propaganda. Es ist ein Film, der die narrative Form des Science Fiction nicht nutzt, um Klarheiten aufzuzeigen, sondern um die widersprüchlichsten Empfindungen, die ein denkender Mensch in Bezug auf ein System haben kann, audiovisuell experimentierfreudig, bisweilen an das zeitgenössische italienischen Genre- und Autorenkino angelehnt, in Szene setzt.

Für Herrmann Zschoche war Eolomea leider der einzige Regieausflug ins Genrekino. Sein restliches Oeuvre konzentriert sich auf realistische, sehr erfolgreiche Kinder-, Jugend-, und Erwachsenenfilme, die immer nah an der DDR-Zensur vorbei schrammten. Realisten sollten öfters Science Fiction machen!

Der letzte Film – war genau genommen nicht der letzte Film, sondern nur der letzte, den ich zur Gänze gesehen habe. Der Schauplatz ist eines der Kinos am Potsdamer Platz. Mon rot fai von Sompot Chidgasornpongse ist Apichatpong Weerasethakuls Produktionsfirma Kick the Machine Films entsprungen. Der Film erfreut dadurch, keine Kopie der Apichatpong’schen Poetik zu sein, obgleich eine Nähe deutlich ist. Ich sitze normalerweise nie in der ersten Reihe, diesmal schon und zwar mittig, genau zwischen den Gleisen, die sich als erstes Bewegtbild vor mir auftun. Genauer gesagt sitze ich nicht in der ersten Reihe im Kino am Potsdamer Platz, sondern in dem thailändischen Zug. Die Kamera gleitet mit einem neugierigen, suchenden, verweilenden und spitzfindigem Blick über die Passagiere der ältesten Bahn Thailands, die den Norden mit dem Süden verbindet. Verwoben werde ich mit den Eindrücken, der Polyphonie der Gesichter und Erzählungen – das beständige Rattern des Zuges als beruhigenden Rhythmus in Ohr und Körper. Der Blick auf die Mitreisenden könnte mein Blick sein, der Blick aus dem Fenster ebenso und das Erschrecken (vor dem Ähnlichen) könnte nicht größer sein, als sich, je weiter der Zug nach Süden kommt, zwischen meine Mitreisenden plötzlich kaukasische Gesichter, blonde Haare und verbrannte Haut mischen. Störend sind die Archivalien, die den Filmfluss unterbrechen und die Bahn einbetten wollen in eine blutige Geschichte. Viel geschickter macht der Regisseur das am Ende des Films, als er einen Engländer und einen Thai bei einer Konversation in der Landessprache belauscht. Beide sind offensichtlich in demselben Schlafwagenabteil gelandet und unterhalten sich über die Bahnlinie und deren Geschichte, die geprägt ist von den kolonialistischen Bestrebungen der Briten und Kriegsverbrechen vonseiten der Japaner. (Ein Ereignis in der Geschichte der sogenannten Todeseisenbahn, bei deren Bau auch etliche britische Kriegsgefangene ums Leben kamen, wurde folgerichtig zum Hollywood-Epos: The Bridge on the River Kwai von David Lean). Der Brite übernimmt dabei die Rolle eines Eisenbahningenieurs aus der Entstehungszeit der Bahnstrecke und flicht ein Erzählnetz aus historisch plausiblen Anekdoten und Fakten. Dabei sind Bilder aus dem nächtlichen Zug zu sehen, es rattert beständig. Wie Apichatpong Weerasethakul lässt Sompot Chidgasornpongse hier Geschichte auf denkbar kreative Weise in die scheinbare Reisedokumentation einfließen, ebenso wie die Fiktion in ihrer natürlichsten Form: durch einen Erzähler.

Leider endet der Film nicht sobald die Unterhaltung endet und sich die Protagonisten (die einzigen Darsteller des Films) entschließen, schlafen zu gehen. Es wird noch Tag und die Sonne scheint durch die lachsfarbenen Gardinen der ersten Klasse.

Laut Abspann entstanden die Aufnahmen zu Mon rot fai innerhalb der letzten zehn Jahre. Im Laufe dieser Zeit haben sich auch die Materialien geändert, mit denen der Regisseur filmte: Von grobkörnigem Video, über verpixelte Digitalkamera bis hin zu HD-Qualität meine ich alles zu erkennen. Ich würde gerne wissen ob in dem Film, in dem es um eine Eisenbahnlinie geht, deren Bau zur Zeit der Geburtsstunde des Kinos begonnen wurde, auch Filmmaterial genutzt wurde. Die Recherche bleibt ergebnislos, man müsste sich Mon rot fai nochmals ansehen.

Im Nachtzug zurück nach Wien vermisse ich das beständige Rattern der thailändischen Bahn. Der Zug hält zu oft und zu lang an irgendwelchen tschechischen Bahnhöfen. Ich vertreibe mir die Nacht, indem ich meine Mitreisenden fotografiere:

railway sleeper

WdK Tag 7: „Überschwang/Exuberance“ – Beauty without Pain? Planetarium von Rebecca Zlotowski + Fuddy Duddy von Siegfried A. Fruhauf

„Beauty without pain“. Der deutsche Filmemacher Philip Gröning gibt während der letzten Diskussion der diesjährigen Woche der Kritik eine Minimaldefinition von Kitsch um sein Erlebnis der ersten 15 Minuten von Planetarium zu beschreiben. Er habe sich im falschen Film gewähnt, so leer sei diese Schönheit. Der Film bediene da anfangs eine Retro-Ästhetik in vollen, warmen Farben, die sich irgendwann im Laufe der letzten Jahre durch die unreflektierte Übernahme von einem period Film zum immer nächsten als vermeintlich präzise Darstellung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert habe.

Es gibt diese Ästhetik, man muss sich nur die letzten Filme von Woody Allen anschauen. Das ist wirklich sediertes, schmerzbefreites Kino, so unaufdringlich loungig wie die ewig plätschernde Jazz Musik, die aus dem Off kleistert oder auf den Partys der Cafe Society für die rechte Stimmung der Indifferenz sorgt (vielleicht hätte der in Cannes passender die Eröffnungsparty eröffnet als das Filmprogramm?). Stilistisch scheint Planetarium sich da anfangs einzureihen: warme Farbpalette, schwere Kontraste, wohlkadrierte Einstellungen, eine fließende Kamera, historisch korrekte Kostüme in säuberlich akkuraten Sets und, bitte, angenehm geschnitten das Ganze, keine Experimente. Auch inhaltlich passts, oder? Ein Schelm, wer da an Magic in the Moonlight denkt: in Zlotowskis Film sind es zwei junge amerikanische Frauen, Schwestern (Natalie Portman und Lily-Rose Depp), die im Paris der späten 30er Jahre mithilfe ihrer Fähigkeit Kontakt zu Geistern aufzunehmen an ein wenig Geld und Ruhm kommen wollen. Wie Emma Stone in Magic in the Moonlight treffen sie dabei auf einen Mann, der irgendwie im selben Geschäft tätig ist, in dem der Illusion. Der ältere Mann ist nun aber kein zynischer Zauberkünstler wie Colin Firth, sondern ein französischer Filmproduzent namens Korben (Emannuel Salinger), der sich der Schwestern annimmt um mithilfe ihrer Fähigkeiten das Kino zu seiner wahren Bestimmung zu führen: einen echten Geist filmen!

Versteht man Filme als die Summe ihrer Zutaten, die, wenn streng nach Rezept addiert, das Erwartbare ergeben, dann kann man nach 15 Minuten von Planetarium sagen (und es wurde in der Kritik gesagt): Alles da! Freuen wir uns auf ein psychologisches, schönes und ergreifendes Period Piece! Dann wird man aber auch nach spätestens 50 Minuten enttäuscht sein (und auch das war die Kritik), denn Zlotowskis Film bricht und durchlöchert nach und nach die vorgefertigten gültigen Formen eines 30er Jahre Dekadenz-und-Zusammenbruch-Epos. Es gibt da ein Zuviel, einen ‚Überschwang‘, der die gesetzten Erwartungen überdehnt und den Schmerz einholt um den Kitsch zu überholen. Zu viel Präsenz, die Kamera rückt den Gesichtern und Texturen zu nah und führt sie über einen psychologischen Darstellungsmodus hinaus. Salingers große runde Augen sind so unergründbar traurig, Lily-Rose Depp ist so großartig blutleer und ausdruckslos. Das Kino, die Kamera ernähre sich parasitär von ihrem Leben, bemerkt Philip Gröning in der Diskussion. Die Kostüme sind zu extravagant und die Sets zu abgründig, die riesenhaften Knöpfe an Natalie Portmans Hosenanzug weisen darauf hin, genauso wie die ausgestellten toten Mäuse in Salingers Haus: Das ist eine Filmwelt, historische Wahrheiten gibt es hier nicht einfach so zu sehen. Aber was gibt es in Planetarium dann?

Neben dem Zuviel gibt es ein Zuwenig, Lücken, die der Film in seine eigene Form reißt. Am Anfang noch sehr eng erzählt, lösen sich die direkt kausalen Beziehungen der Montage langsam auf und es bleiben lose Enden. Plötzlich sind die Schwestern getrennt und der Jude ist enttarnt. Dann geht alles ganz schnell: der Schriftzug auf dem Spiegel, die Aufsichtsratssitzung, der Schauprozess, das Gefängnis und Korben ist aus dem Film verschwunden. Zwischendurch scheint der Versuch Geister zu filmen nach langen Tests in einem futuristischen Labor gelungen zu sein, um sich dann vor versammeltem Publikum und den Augen der Kamera doch als gescheitert zu erweisen. Der Film schafft hier Unsicherheiten und unlösbare Fragen, die mit der klassischen Form des auf Linearität angelegten ‚Historiendramas‘ nicht vereinbar sind.

WDK17, Planetarium_01

Während in Woody Allens Magic in the Moonlight die romantisierte Liebesgeschichte und die nebulöse, dabei stets verwaschen ungenaue Zauberei-Allegorie in Beliebigkeit aneinander vorbeireden, sind für Planetarium seine Reflexionen des Kinos notwendig Teil der Geschichte die er erzählt und deshalb ebenso historisch eingebunden. Ineinander reflektieren sich die historischen Umstürze der späten 30er Jahre und die Erkenntnismöglichkeiten der spezifischen filmischen Form. In seinem Spiel mit den Zuschauererwartungen versucht Planetarium einerseits sich aus seiner eigenen Form zu befreien, erkennt aber zugleich, dass eine sinnvolle Kritik nur aus dem Inneren der Form möglich ist, indem ihre Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden. Der Film muss vor sich selbst kapitulieren.

Der Vorwurf der Kritik, der Film sei ein „meandering mess“, hervorgebracht von Owen Gleiberman für Variety (und stellvertretend für die amerikanische Kritik überhaupt), lässt sich so als zunächst neutrale Beobachtung aufnehmen und ins Positive wenden. Die losen Enden der Erzählung und einiger Montagesequenzen, sowie die Auslassungen aller Schreckensbilder, die als ewige Erwartungsbilder des Historiendramas sonst da stecken, wo Zlotowskis Film sich selbst durchlöchert hat – keine Gestapo im Regen, keine unberechenbar charmanten SS-Offiziere, keine Menschentransporte, keine Begräbnisse, ja, überhaupt keine Gewalt, kein Tod im Bild – weisen Planetarium als Film aus, der reflektiert hat, dass es Dinge gibt die sich in einer bestimmten Form nicht darstellen lassen. Dabei tappt er klugerweise nicht in die Falle des Bilderverbots, in die Son of Saul sich so überzeugt hineingeworfen hat, als er die Ästhetisierung des Schreckens im Bild einfach ersetzt hat mit der Ästhetisierung des Schreckens im Ton und einem aufdringlich nahen Off. Planetarium hält die Bilder des Schreckens so fern wie möglich, im vollen Bewusstsein, dass er sie eh nicht wird davon abhalten können, die Auslassungen zwischen Festnahme, Gericht, Gefängnis und Verschwinden zu bevölkern.

Der wichtigere Unterschied scheint mir aber zu sein, das Nicht-Zeigen mit den Notwendigkeiten einer historischen Situation und einer inhärenten Formenkritik zu verbinden, statt sich wie Son of Saul damit zu brüsten eine ‚Antwort‘ auf ein etwaiges, externes Bilderverbot gefunden zu haben. Planetariums zunehmend gestörten Erkenntnismöglichkeiten reflektieren den historischen Zustand einer Welt, die, je näher sie dem erwartbaren Abgrund kommt, umso weniger verstehen und glauben mag von dem bevorstehenden Fall. Diese Verwirrung von Erwartungen kann der Film formal einholen, weil er sich einer klassischen, erwartungsbeladenen Form bedient, aus der er sich ebenso wenig zu befreien vermag, wie Salinger, der noch im Gefängnis an das gute Ende glaubt. Das Problem des Verstehens eines historischen Prozesses wird hier konsequent in ein Problem der Formen des Denkens überführt. Wenn die Formen des Denkens nicht Schritt halten können mit den historischen Ereignissen, dann wird ein Verständnis unmöglich. Das neoklassische Historiendrama dekonstruiert sich hier selbst, aber schafft es im Einklang mit der Geschichte nicht, sich ganz zu zerstören, um Platz zu machen für eine neue Form, ein neues Verstehen.

Der im Anschluss vorgeführte Fuddy Duddy, ein etwa 5 Minuten langer Experimentalfilm von Siegfried A. Fruhauf, macht dieses Formproblem offensichtlich. Vollkommen evident erscheint mir die gemeinsame Programmierung der beiden Filme: Fuddy Duddy macht die Bilder, die Planetarium nicht möglich sind. Eine Ordnung von Quadraten zerstört sich in aggressivem Dauerflackern selbst und bildet die Illusion einer Tiefe, eines Abgrundes in der Mitte der Leinwand. Das ist die Umpolung des Kinos – voll auf Angriff! –, die mit Kriegs- und Schreckensbildern quasi die Lücken von Planetarium ausfüllt und  einen direkten Schmerz erfahrbar macht. Der Schmerz in Planetarium selbst ist immer ein indirekter, der aus den Diskrepanzen zwischen dem formal zu Erwartenden, dem Gezeigten und den allseits bekannten historischen Fakten entsteht. Am Ende des Films, im Jahr 1943, steht Laura Barlow (Natalie Portman), inzwischen Schauspielerin, im Set an einem Fenster, schaut in den Sternenhimmel aus Lichterketten und spricht in ihrer Rolle als Waisenmutter: „Tomorrow will be a great day!“

WdK Tag 4: „Unfertig/Unfinished“ – Reaktionäre Träume: California Dreams von Mike Ott

Der Film beginnt mit dem Casting. Menschen sprechen Monologe aus ihren Lieblingsfilmen frontal in die Kamera. Unkontrolliert aber leidenschaftlich sind die Vorträge. Die Vorsprechenden sind allesamt Laien. Mit großen Augen erzählen sie von Liebe, Ruhm und Glück, von Enttäuschung, Tod und Selbstmord. Die großen Gefühle: Bigger than life. Das Kino als Traumfabrik. Aber nur den krassesten Außenseitern unter den Casting-Teilnehmern werden die Imaginationen der Maschine zuteil, sie werden in den nächsten 80 Minuten wieder zurück auf die Leinwand geholt um in mehr oder weniger fiktionalisierten Formen von ihren eigenen tristen Leben und dem Traum eines anderen zu erzählen.

California Dreams entwickelt diese Träume direkt aus der kalifornischen Landschaft. Unweit des paradiesischen Grüns Nordkaliforniens und den Studios Hollywoods leben die Protagonisten des Films in einer dürren, lebensfeindlichen Wüste aus Felsen, Gestrüpp, Fast-Food Restaurants, heruntergekommenen Vorstadtbungalows und endlosen Highways. Doch die Sonne ist dieselbe wie jene, die ein wenig weiter westlich auch die Sets der größten Filme beleuchtet und Träume sind hier ungleich wichtiger. In diesem Licht verwandelt sich das unwirtliche Land immer wieder in die dramatischen Formationen einer ausgesuchten Filmlocation; und auch in den Orten des kalifornischen Alltagslebens findet Mike Otts Kamera Spuren der Mythen des amerikanischen Kinos. Als Corey, der ewige Hauptdarsteller von Mike Otts Filmen, eine Videokassette aufnimmt um seinen Traum der Schauspielerei zu verfolgen, entscheidet er sich für eine alte Holzhütte als Drehort. Eine kurze Kamerafahrt auf das unverglaste Fenster der Hütte ruft unweigerlich den Anfang von John Fords The Searchers ins Gedächtnis. Corey kann das nicht helfen, schon nach wenigen Sätzen kommt er mit seinem Monolog aus The Outsiders ins Straucheln.

WDK17, California Dreams, © Number 7 Films_04

Der Struktur des Films liegt diese Technik des Kontrasts zugrunde, die auch die Inszenierung der anderen Protagonisten bestimmt. Unter ihnen ist Patrick, ein 28-jähriger philippinischer Einwanderer mit Aknenarben und Schnauzbart, der seit Jahren als Parkplatzwärter arbeitet und noch nie eine Frau geküsst hat. Ein sehr explizites Gespräch mit Corey, im Auto vor einer glorreichen kalifornischen Abendlandschaft, erzählt von seinen sexuellen Erfahrungen und Wünschen. Die Antwort des Films folgt sogleich: In anhaltender Zeitlupe sehen wir eine blonde Stripperin die Beiden in einem Motelzimmer aufsuchen. Patrick sitzt zusammen mit Corey rauchend an einem runden Tisch und lässt die Show ganz cool über sich ergehen, kein bisschen Aufregung im Blick, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Musik, die an Scores des Classical Hollywood erinnert, entrückt die Szene endgültig in die Sphären eines kinematografischen Traums. Auch das ist Kino, zumal amerikanisches: eine Welt in der die eigenen Defizite temporär ausgesetzt sind, in der die ersten ebenso wie die letzten Bedürfnisse befriedigt werden; Kino als kurzer aber wiederkehrender Traum eines anderen Lebens. Der Striptease geht nahtlos über in die Wiederholung von Patricks Casting-Monolog aus Forrest Gump, einer Beschwörung des Selbstbewusstseins und der eigenen Kraft, der aus dem Off zu hören ist, während Patrick einsam und zusammengekauert auf der Wartebank einer Bushaltestelle sitzt.

In dieser Szene wird deutlich, wo California Dreams unwiederbringlich schiefgeht. Statt eine Selbstermächtigung seiner Protagonisten zu ermöglichen, stülpt der Film jedem Einzelnen vorbestimmte Normen über. Von vornherein sind Patricks Defizite bestimmt: er hat keinen Sex und kein Selbstbewusstsein. Das ist unaufrichtig und denunziatorisch in einem Film der einen Teil seines Reizes aus der Nonkonformität seiner Außenseiterbande zieht, sie auf diese Weise aber für Momente der Lächerlichkeit preisgibt. Nie gibt es den Versuch das ausgestellte Anderssein tatsächlich für ein Verständnis zu öffnen. Der Film vermerkt es nur schnell in einer schon festgelegten Wertematrix und kramt dann das vermeintlich passende imaginative Gegenmittel heraus. Trotz des teilweise sicheren Gefühls für die Verweiskraft seiner Bilder, reflektiert der Film nicht ein einziges Mal in kritischer Weise die gesellschaftliche Herkunft und Hervorbringung dieser Wertematrix und der aufgerufenen Gegenbilder. In einem Film, der mit Recht auf die imaginative und befriedigende Kraft des Kinos verweist, sollte man erwarten können, dass auch die andere Seite dieser Medaille gezeigt wird: Die Konformisierung und Kommerzialisierung der zu befriedigenden Bedürfnisse durch das Kino, im Besonderen durch das – in California Dreams viel herbeizitierte – amerikanische Unterhaltungskino.

Zudem bleiben die in doppelzüngiger Rede zugleich affirmierten und lächerlich gemachten Kino-Imaginationen der Protagonisten – im Fall einer Obdachlosen ist es die ins Bild gesetzte Oscar-Dankesrede in roter Robe und Spotlight – stets Eskapismus und Flucht in eine Unmöglichkeit, die klar abgegrenzt ist von der umso härteren Realität. Am Ende, als Corey in einer überdrehten Szene Geld auf der Straße findet, verbindet sich das Kino zumindest oberflächlich mit dem Leben, aber eben nur in der reduktiven Weise in der Mike Otts Film Kino denkt: rein als Traum- und Befriedigungsmaschine, die es auch ist, aber niemals ausschließlich. Das Kino kann Möglichkeit sein, tatsächlich Einfluss auf das Leben haben, indem es etwas denk- und fühlbar macht, das abseits liegt, an den wahren Außenseiterpositionen der Welterfahrung. Indem es zum Beispiel zeigt, was Sexualität auch sein kann. Wenn der Film in seiner letzten Szene in anrufender Manier Rainer Werner Fassbinder erwähnt, dann möchte man sich kneifen und aus diesem reaktionären Kino-Traum erwachen.

Berlinale 2017: Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Fragen über Fragen wirft Julian Radlmaiers Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes auf: Kann ein Film zugleich bieder-bildungsbürgerlich, zeitgeistig-verspielt und postmodern-ironisch sein? Haben die langen Festivaltage und kurzen Festivalnächte das Urteilsvermögen getrübt? Warum kann ich diesem scheinbar selbstgefälligen Einblick in eine Hipsterseele so viel abgewinnen? Anhand dieser Fragen wird zumindest eines deutlich, und zwar wie fehlgeleitet es ist, erklärungswütig einzelne Filme zu zerpflücken, um sie in vermeintlich passende, aber letztlich willkürlich gewählte, Schubladen zu stecken. Die Filmkritik bedient sich sehr gerne dieser Kategorisierungen, wenn sie sich in erster Linie als Dienstleistungsservice versteht, die ihren Lesern näherbringen will, was sie sich von einem Film erwarten können – sie also eher über Erwartungshaltungen und Diskurse, über sich selbst und ihr Publikum schreiben – als den Film selbst und ihre Wahrnehmung zu beschreiben. Prinzipiell tritt dieses Phänomen in der Festivalberichterstattung verstärkt auf, wo noch weniger Zeit und Energie vorhanden ist, um mit seinen eigenen Eindrücken ins Reine zu kommen, und das möglichst tagesaktuelle Postulieren einer Meinung im Kampf um Medienöffentlichkeit Konjunktur hat. Gerade bei der diesjährigen Berlinale scheint man sich besonders an haarsträubenden, unüberlegten Zuschreibungen zu ergötzen. Hong Sang-soos On the Beach at Night Alone wird als stimmige Fortführung des Gesamtwerks des Koreaners besprochen, ohne das schwierige Verhältnis des Films zu seiner Protagonistin, diese schwer greifbare und noch schwerer zu beschreibende Brüchigkeit in Hongs Figurenzeichnung zu berücksichtigen. Alex Ross Perrys Golden Exits wird als aufgeblasene Hipsterromantik gedeutet, unter Missachtung von Perrys gut dokumentierter Abscheu für diese Ausformungen der amerikanischen Indie-Tradition und seiner ebenso gut dokumentierten cinephilen Haltung. Und Thomas Arslans Helle Nächte wird unter Nichtbeachtung seiner Entwicklung als Filmemacher in den letzten zehn Jahren, als nicht viel mehr als „noch so ein weiterer“ Berliner Schule-Film abgetan. Bei aller Probleme, die ich mit diesem Film hatte, und trotz Reinhold Vorschneider hinter der Kamera, hat Helle Nächte dann doch relativ wenig mit den Filmen zu tun, die Anfang der 2000er mit diesem Label versehen wurden.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

© faktura film

Würde sich das Gros der medialen Aufmerksamkeit nicht auf den Wettbewerb richten, dann würde es Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes wohl ähnlich ergehen. Eine selbstbezügliche Übung in Narzissmus, eine weitere leere Beschreibung des Lebensgefühls eines Millenials, ein halbironischer Hipsterfilm, ein gekünstelter Studentenfilm. Man könnte diese Liste noch eine Weile fortsetzen, ohne dass einem die Schubladen ausgehen. Der Film scheint darum zu betteln, sich eine davon zu wählen und ihn vorschnell abzuurteilen. Dass man letztendlich damit überfordert ist, die treffendste dieser Kategorisierungen zu finden, dass sich die Frage, was das denn eigentlich für ein Film ist gar nicht so einfach beanworten lässt, ist dann vielleicht schon Antwort genug. Ehrlich gesagt, fällt es mir selbst schwer eine zufriedenstellende Einschätzung des Films abzugeben, immer wenn sich mein Verstand an einem Aspekt des Films abarbeitet, protestiert ein anderer Aspekt lauthals und lässt meinen Urteilsspruch im Ansatz ersticken.

Radlmaier inszeniert sich selbst als im Scheitern begriffener Filmemacher, dessen Sachbearbeiter im Arbeitsamt, ihm zum Äpfelpflücken verdonnert. Eine Kafka (und Straub)-Referenz später sinniert er auf der Apfelplantage, inmitten des Proletariats über Klassenkampf und Revolution. Auf der Suche nach einem Kommunismus ohne Kommunisten (denn die ruinieren immer alles) entsteht schließlich der nächste Film des Regisseurs. Für seine hohlen Phrasen im Publikumsgespräch nach der Premiere dieses Films wird Radlmaier just durch ein göttliches Wunder in einen Windhund verwandelt. Wo die Rahmenhandlung beginnt, die Film-in-Filmhandlung aufhört, wie sich zueinander verhalten, und ob das überhaupt noch etwas mit der Biographie Radlmaiers zu tun hat, lässt sich schließlich nicht mehr nachvollziehen. Anders, als man es wohl im Dramaturgiekurs beigebracht bekommt, entwirrt der Film nichts und widersetzt sich dem Primat einer befriedigenden Auflösung – das Drehbuch wird hier also nicht zum Selbstzweck.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

© faktura film

Man dreht sich im Kreis, beim Versuch sich einen Reim daraus zu machen, ob das nun infantiles Spielerei ist, ob man die politischen Aussagen ernst nehmen sollte, oder ob das ohnehin nur aufgeblasenes, gekünsteltes Hipstergehabe ist. Verkompliziert wird dieser Versuch noch dadurch, dass die Selbstkritik am eigenen Film immer gleich mitgeliefert, aber wiederum so selbstgefällig in Szene gesetzt wird, dass man sich abermals kaum sicher sein kann, wieviel Bedeutung man ihr beimessen sollte (die ultimative Kritik des Films an sich selbst, besteht immerhin darin, dass das Alter Ego des Filmemachers wegen seines materialistischen Weltbilds durch die Inkarnation des Heiligen Franziskus in einen Hund verwandelt wird).

Wir schreiben auf Jugend ohne Film gerne über Dringlichkeit und Welthaftigkeit. Dass es uns wichtig ist etwas von der Notwendigkeit in der Kunst zu spüren, wie sie von der klassischen Moderne vorgelebt wurde. Von dieser Notwendigkeit ist in Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes nicht unbedingt viel zu spüren, andererseits geht der Film aber auch weit über ein oberflächliches Spötteln über so einen Kunstbegriff hinaus. Er scheint diese Dringlichkeit vielmehr selbst anzustreben ohne so recht zu wissen, wie sie filmisch umzusetzen ist. Hinter dem Narzissmus verbirgt sich womöglich eine Suche nach einer Form des Ausdrucks, die einer Welt gerecht wird, die in ihrer Komplexität kaum mehr zu beschreiben und zu fühlen ist. Entgegen aller Erwartungen verbirgt sich hinter dem verschmitzten Grinsen des Films, vielleicht eine Thematisierung ästhetischer Ratlosigkeit, der man mit Ernsthaftigkeit entgegen treten sollte. Auf jeden Fall lässt sich mit dieser Herangehensweise mehr aus dem Film mitnehmen, als wenn man gewaltsam versucht ihn in eine Schublade zu stecken.

WdK Tag 6: „Taumel/Vertigo“ – Im Tanz der Nebensachen: Lass den Sommer nie wieder kommen von Alexandre Koberidze

Ein junger Mann kommt vom Land in die Stadt, hält sich mit illegalen Straßenkämpfen und Prostitution über Wasser während er eine Anstellung als Tänzer sucht, verliebt sich in einen Offizier mit dem er einige Zeit verbringt und verlässt die Stadt am Ende des Films wieder um zur Familie zurückzukehren. So in etwa ließe sich die Erzählung des über zweihundert Minuten langen Lass den Sommer nie wieder kommen zusammenfassen. Der Film wäre dennoch verfehlt.

Noch einmal anders. Stark verpixelte Bilder eines Marktes in Tiflis, harte Kontraste und knallige Farben, Menschen erstrahlen im Licht und verschwinden im Schatten, irgendwo im Hintergrund taucht der junge Mann auf, geht durchs Bild und ist wieder weg. Er kauft eine Wurst, dann folgen wieder einige Einstellungen in denen er gar nicht zu sehen ist, sondern dicke Verkäuferinnen, rauchende alte Männer, schlafende Hunde und endlos kreiselnde Limonademixer. Wie passt das mit dem ersten Beschreibungsversuch zusammen?

Der amerikanische Filmemacher und Filmverleger Pip Chodorov beschreibt dieses Problem in der anschließenden Debatte als die ständige Präsenz einer Absenz. Der junge Mann soll Kämpfer und Tänzer sein, so erfahren wir durch den gelegentlichen Off-Kommentar, aber nie sehen wir ihn kämpfen oder tanzen. Der junge Mann soll ein Liebhaber sein, aber nie sehen wir ihn lieben. Er soll einen Brief von zu Hause bekommen haben, der ihn schließlich überzeugt zurückzukehren, aber nie sehen wir diesen Brief, ein Zuhause oder gar eine Familie. Doch die Feststellung, dass der Film ständig auf ein Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Wissen verweist, geht über die instabile, elliptische Erzählhaltung hinaus und formuliert einen Zweifel der selbst schon integraler Bestandteil der Bilder und Töne ist. Auch die österreichische Künstlerin und ‚Taumel‘-Forscherin Ruth Anderwald beschreibt die grob verpixelten Bilder – der Film ist mit einer pre-HD Handykamera entstanden – als „layer of doubt“, als die konstante Verunsicherung einer Repräsentation im Geiste einer Abstraktion, die das Bild auf seine Textur zurückführt. Im Flyer zur Woche der Kritik ist die Rede von explodierenden Pixeln und einem Stummfilm-Kosmos.

Ich halte diese Beobachtungen für sehr zutreffend. Tatsächlich verzichtet Koberidzes Film in seinen ständigen Abschweifungen auf eine zuverlässige Narration, in den pixelsprühenden Bildern auf die Klarheit der Repräsentation und im Ton, der oft die Geräusche der Straße, Stimmgewirr oder vielfach Musik aufnimmt, auf die Verständlichkeit von Sprache. Und doch bleibt die Frage: ist das ein Verzicht? Lässt sich der Film als Dekonstruktion, gewissermaßen als Negativbestimmung des Filmischen fassen?

Let the Summer Never Come Again - Still II

Mit dem von der Moderation vorgeschlagenen Konzept des ‚Taumels‘ rückt eine positive Bestimmung des Filmes näher. ‚Taumel‘ beschreibt den Zustand einer absoluten Destabilisierung, eines vollkommenen Zweifels, der zum einen Kontrollverlust impliziert, aber in der Überantwortung an das Verlorensein eine absolute Harmonie mit der Welt und dem Rhythmus des Lebens verspricht, die etwas Neues hervorzubringen vermag. Exakt diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Produktion macht Koberidzes Film aus.

Als hätte Koberidze die Szene aus Sauve quit peut (la vie) in der Nathalie Baye/Godard sagt: „Ich möchte einen Film nur aus Nebensächlichkeiten machen“ auf drei Stunden gedehnt, erzählt Lass den Sommer nie wieder kommen ein Daneben und eine Gleichzeitigkeit. Erzählt von den spielenden Kindern im Hof, von den Katzen auf dem Dach, von den Schattenspielen, die das Riesenrad auf die Straße malt und befreit dabei die Bilder aus allen hierarchischen Abhängigkeiten. Die Kinder im Hof sind nicht das Ausweichziel eines Blicks, der sich verschämt vom Liebesspiel der Männer im Haus abwendet. Ist das überhaupt der Hof desselben Hauses? Ist das derselbe Tag, dieselbe Stunde? Oft lässt sich das nicht sicher sagen, das Daneben ist ebenso wenig nur räumlich, wie die Gleichzeitigkeit nur zeitlich ist. Die Beziehungen der Bilder sind eher rhythmischer als logischer Natur.

Der Pixelsturm ist nicht nur Auflösung, Abstraktion oder Dissoziation des Bildes sondern bringt einen Eigenrhythmus hervor, ein regelmäßiges Pixelflackern, einen Herzschlag, der sich überträgt auf die Welt aus gleißendem Licht und tiefschwarzen Schatten, der pulsiert in den Farben und Menschen und Lichtern von Tiflis. Die Bilder finden im Rhythmus der Bewegungen eine absolute Präsenz, statt nur auf Abwesendes zu verweisen. Wir sehen den junge Mann nie tanzen? Die ganze Welt tanzt zur Musik der Stimmen und Geräusche. Da warten Welche auf den Bus und statt einer logischen Montage, von leerer Straße, Busankunft und Einstieg sehen wir die Füße der Wartenden in Pirouetten kreisen und einen Stepptanz aufführen. In der einzigen Szene, in der es klar vernehmbaren Dialog gibt, fehlen die Untertitel. Der Sound der georgischen Sprache ist hier nicht mehr sekundär oder nebensächlich, sondern wird zum bestimmenden Rhythmus der Szene.

Während eines anderen, unvernehmbaren Gesprächs der beiden Liebenden auf einem Balkon über der Stadt führt ein Schwenk vom klassischen Two-Shot über die lichtverliebte Hand des jungen Mannes hinunter in die Autoschlangen auf der großen Ausfallstraße. Die folgende Montage von fahrenden Autos und Landstraßen zu den Rhythmen eines Popsongs endet mit Bildern von Wellen, die an das Ufer eines Schwarzmeerstrandes rollen. Obwohl der Film uns nie ein Bild von den Beiden im Auto oder am Strand gibt, ist hier nichts mehr Abwesend. Das war eine Reise ans Meer, allerdings außerhalb einer strengen Repräsentationslogik, vielmehr als Rhythmus einer Erfahrung. Bilder von ephemeren Nichtigkeiten verbinden sich zu einem bedeutenden Weltverhältnis. Die anfangs beschrieben Szene auf dem Markt in Tiflis bildet ein bestimmtes Erleben, vielleicht „Das Kennenlernen einer Stadt“, ohne dabei eines klar definierten Subjekts zu bedürfen. Hier wird nicht in Paaren getanzt, sondern im Fluss; alle Bilder miteinander. 

Selten habe ich mich der Strömung eines Filmes derart hingegeben und dabei so geborgen gefühlt, dass da gar kein Ärger und Kampf war als ich nach knapp zweieinhalb Stunden für einige wunderbar lange Minuten sanft weggedämmert bin. Doch wird der schöne ‚Taumel‘ in diesem Moment nicht wieder zur Gefahr? Zur Gefahr einer Selbstaufgabe und Kritiklosigkeit, die in letzter Konsequenz aus der vollkommenen Immanenz einer Welterfahrung folgt? Koberidze unterbricht den Bilderstrom immer wieder in Momenten der Distanzierung. Mitten im Film eine Schwarzblende und folgender Titel: „Sehen sie jetzt einen Mann der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt.“ Es folgt die zweisekündige Einstellung eines Mannes der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt. Das ist Youtube-Clip Logik und gleichzeitig deren Persiflage. Jetzt kann ich euch alles andrehen, scheint Koberidze hier schelmisch lächelnd zu sagen. Ja, bitte, möchte ich antworten.  

Berlinale 2017: Spell Reel von Filipa César

Spell Reel von Filipa César

Spell Reel von Filipa César beginnt mit flackernden, kopfüber stehenden Schwarzweißaufnahmen eines Waldstücks. Das Digitalisat dieser Archivaufnahmen nimmt nur einen Teil des Filmbilds ein, ein Rechteck auf der linken Hälfte der Leinwand, klar abgegrenzt vom umgebenden Schwarz. Rechts neben diesen Filmaufnahmen erscheint ein weißer Schriftzug, der suggeriert, dass es sich bei den Bildern um die Perspektive eines Baums handle. Die Schrift, wie auch das umgebende Schwarz wird schließlich durch die Farbbilder einer digitalen Filmkamera ausgelöscht. Schließlich verschwindet auch das Rechteck aus dem Bild und überlässt den Bildern der Gegenwart das Frame.

Die Archivaufnahmen stammen aus der Zeit des Befreiungskampfs Guinea-Bissaus, gefilmt von einigen Guerrillakämpfern (darunter Césars Ko-Regisseur Sana na N’Hada), die zu diesem Zweck in Kuba ausgebildet worden waren. Im weiteren Verlauf des Films werden Aufnahmen dieser Art immer wieder auf diese Weise ins Bild gesetzt. In immer gleich großen Kadern verdecken sie dann Teile der Bilder der jüngeren Vergangenheit, die von Césars Kamerafrau Jenny Lou Ziegel gefilmt wurden. Die Digitalisate zwingen sich dem Bild nicht auf, wollen es nicht überwuchern, sondern vielmehr eine ergänzende Sichtweise anbieten, in Dialog treten. Ihre Funktion ist nicht eindeutig festzulegen: sie agieren als Zeitkapseln, als Referenzpunkte, als Kommentare, bedürfen aber selbst der Kommentierung und Kontextualisierung. Sie sind Zeugnisse einer Zeit des utopischen Übermuts, als sich Guinea-Bissau durch bewaffneten Widerstand gegen die Kolonialmacht Portugal zur Wehr setzte, um jenen Vorbildländern nachzueifern, in denen die führenden Köpfe der Revolution studiert hatten und die ihren Unabhängigkeitskampf finanzierten.

Spell Reel von Filipa César

© Stills from Spell Reel

Knapp vierzig Jahre später zählt Guinea-Bissau zu den ärmsten Ländern der Welt. Von der Utopie, die, wie sich schon zum damaligen Zeitpunkt abzeichnete, aus mannigfaltigen Gründen zum Scheitern verurteilt war, sind nur wenige Stunden an Filmaufnahmen erhalten geblieben. Nach den Tumulten des letzten politischen Umbruchs haben sich die archivarischen Bedingungen des halboffiziellen Filmarchivs von Guinea-Bissau zudem noch weiter verschlechtert. Von insgesamt rund hundert Stunden Material aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfs sind heute sechzig Prozent unwiderbringlich verloren und auch die restlichen vierzig Prozent sind stark in Mitleidenschaft gezogen (auch darüber legen die Einblendungen des digitalisierten Archivmaterials Zeugenschaft ab).

Spell Reel entstand, wie auch schon Filipa Césars letztjähriger Berlinale-Beitrag Transmission from the Liberated Zones, aus einem Rechercheprojekt, dass sich dem filmischen Erbe Guinea-Bissaus widmet. Initiiert wurde es durch das Projekt „Visionary Archive“ des Arsenals, finanziert zu großen Teilen vom deutschen Auswärtigen Amt. Die in Berlin lebende Portugiesin Filipa César unternimmt in Kollaboration mit einigen Veteranen der Unabhängigkeitsbewegung eine Spurensuche nach der Entstehungsgeschichte dieser Filmrollen und Magnetbänder, die in Fragmenten den entscheidenden Zeitpunkt in der Geschichte des unabhängigen Guinea-Bissaus festhalten. Spell Reel ist einerseits ein Dokument, dass den Prozess dieser medienarchäologischen Arbeit festhält und andererseits ein Essay zu Fragen des Verhältnisses von Geschichte, Erinnerung und Gegenwart, zur Kolonialgeschichte eines Landes und, darüber hinaus, zu den heute herrschenden Machtstrukturen in der Welt.

Spell Reel von Filipa César

© Stills from Spell Reel

Stefanie Schulte Strathaus, eine der Leiterinnen des Arsenals, sprach in einem Vortrag zum Thema des Archivs kürzlich davon, dass die Aufarbeitung jenes filmischen Erbes, dass in Asien, Lateinamerika und Afrika unter teils katastrophalen Lagerbedingungen seinem Verfall ausgeliefert ist, die Filmgeschichtsschreibung radikal verändern würde. Spell Reel zeugt vom Versuch diesem Verfall entgegenzuwirken. Die verschiedenen Stadien dieses Prozesses zeichnen sich im Film ab. Der Film ist zunächst Zeugnis einer Recherchearbeit, die in der Digitalisierung des Materials mündete. Aus Kostengründen konnte das Material zwar nicht in seiner analogen Form restauriert werden, aber immerhin ist so ein Faksimile erstellt worden bevor die Filmrollen noch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden sind und ihr dokumentarischer Wert womöglich für immer verloren gegangen wäre. Die Digitalisierung brachte außerdem mit sich, dass die Aufnahmen nun erstmals in größerem Umfang der Bevölkerung vorgeführt werden konnten. Auch von diesen Bemühungen zeugt der Film, wenn er Sana na N’Hada und andere ehemalige Guerrillas bei der Vorführung und Erklärung ihrer Filme zeigt – sowohl für die ländliche Bevölkerung Guinea-Bissaus, als auch bei politischen und diplomatischen Anlässen im Ausland. Spell Reel ist somit nicht nur Teil eines wichtigen Projekts, um Guinea-Bissau sein filmisches Gedächtnis zurückzugeben, sondern lässt auch erahnen, wie wichtig diese Form der Archivarbeit für die Konstitution von Geschichtsbewusstsein und Identität ist – machtlos (bisweilen steckt auch politische Berechnung dahinter) müssen die Staaten des „global south“ mitansehen, wie ihnen ihre eigene Geschichte entgleitet, während in Deutschland, wo die Mittel dafür vorhanden wären dieses Gedächtnis lebendig zu halten, die Archive im Essig-Syndrom ersticken.

Es gibt Grund zur Hoffnung, dass ähnliche Projekte vergleichbare Resonanz erzeugen, den Staaten und ihren Bewohnern ihre eigene Geschichte wieder zugänglich machen und somit Identität stiften. Zugleich ist Spell Reel geprägt von Bitterkeit angesichts des unwiderbringlichen Gedächtnisverlusts, den man durch den Verfall des Materials in den letzten Jahrzehnten hinnehmen musste. Am Ende Films ertönt ein Lied der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba, die als prominente Vertreterin des Panafrikanismus auch den Kampf der Rebellen in Guinea-Bissau unterstützte. An früherer Stelle sah man sie singend in Filmaufnahmen aus der Zeit. Die genauen Umstände dieser Aufnahmen lassen sich heute aufgrund der dünnen Materiallage nicht mehr rekonstruieren. Es scheint, die Idee des Panafrikanismus, die hehren Ideale der utopischen Revolutionäre, sind heute ebenso dem Verfall preisgegeben, wie das Material, dass über ihre Existenz und ihre Erfolge Zeugnis ablegt. Man könnte es auch so ausdrücken: ihrer beider Verfall bedingt sich gegenseitig.

Berlinale 2017: The Party von Sally Potter

The Party von Sally Potter

In der letzten Einstellung von Sally Potters The Party richtet Kristin Scott Thomas eine Pistole direkt auf die Kamera. Die Einstellung wiederholt damit die erste Einstellung des Films, setzt sie für einige Sekunden fort und sorgt damit für die letzte Pointe des Films. Danach wird die Leinwand schwarz, die Credits beschließen den rund 70-minütigen Film. Tosender Applaus im Zuschauerraum des Friedrichstadt-Palasts. Inmitten der jubelnden Masse sitze ich und schüttele den Kopf.

The Party von Sally Potter

© Adventure Pictures

The Party wird von den ersten Festivalkritiken als bissiger oder ironischer Kommentar zum politischen Klima gewertet, die Leistung der Schauspieler und die gekonnte Inszenierung des Kammerspiels gelobt. Bei solchen Einschätzungen beginne ich mein eigenes Urteilungsvermögen in Frage zu stellen – habe ich einen anderen Film gesehen? Einen Film, in dem Schauspieler ihre festgefahrenen, eindimensionalen Figuren nie auch nur ansatzweise aus den streng festgelegten Rollenverteilungen ausbrechen lassen, einen Film, der vielmehr selbstgerecht ein Weltbild bestätigt statt es in Frage zu stellen oder aufzubrechen.

Aber nochmal von vorn: Der Film spielt zur Gänze in der Wohnung der neuen Gesundheitssprecherin im „shadow cabinet“ der Oppostionspartei (die nie genannte Labour Party). Zur Feier des Tages hat sie einige ihrer Freunde eingeladen. Die Gäste sind allesamt wenig komplexe Karikaturen, die all das sagen und sich so verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Janets Jugendfreundin und Altlinke April kritisiert die Behäbigkeit des parlamentarischen Apparats, ihr deutscher Ehemann Gottfried wettert gegen die Schulmedizin und empfiehlt dem todkranken Bill (Janets Ehegatte) auf die Selbstheilkräfte seines Körpers zu vertrauen, die lesbische Vorbildfeministin Martha gibt genau jene Wortmeldungen von sich, die man von einer Professorin für Gender Studies erwartet, der neureiche Banker Tom zieht nach Ankunft in der Wohnung erstmal im Badezimmer eine Line Koks. Man spricht über Genderrollen, künstliche Befruchtung, Alternativmedizin, den Kapitalismus.

Wenn sich im weiteren Verlauf der schrullige Gottfried mit seinem deutschen Akzent über die Inkompetenz der Ärzte ereifert oder Martha eine ihrer feministischen Parolen zum Besten gibt, die seit mindestens zwanzig Jahren Patina angesetzt haben, ist das nicht nur vorhersehbar, sondern auch mutlos – kühl und präzise berechnet, wird geboten, was sich das Arthaus-Publikum wünscht. Postmodern-halbironisch werden diese Figuren durch den Kakao gezogen, alles im Rahmen der Erwartbarkeit, ohne ihnen je Eigenständigkeit oder Brüchigkeit zuzugestehen. Der Film reproduziert jene Stereotypen, mit denen sich die Gesellschaftsschicht, die hier porträtiert wird, und die auch den Großteil seiner Zielgruppe ausmacht, vorgibt allen anderen überlegen zu sein, weil sie ja eh über sich selbst lachen kann. Doch es lacht niemand über sich selbst, niemand bleibt mal ein Lachen im Hals stecken, es gibt in The Party nur das zu hören, was man erwartet und worüber man schon viele Male zuvor gelacht hat. Im Grunde gleicht der Film in dieser Herangehensweise einer filmischen Filterblase, für linksgerichtete, aber bequem in der Bourgeoisie situierte Guardian-Leser, der Babyboomer-Generation. Der Film ist für diese Menschen, das, was Mario Barth und RTL für ein paar soziale Klassen darunter ist: eine selbstgefällige Bestätigung des eigenen Weltbilds. Da hilft es auch wenig, dass der Film seine Pointen mit souveränem Timing vorträgt, oder dass der Raum der gutbürgerlichen Wohnung tatsächlich sehr schön in Szene gesetzt wird.

The Party von Sally Potter

© Adventure Pictures

Nach der Abstimmung der Briten über den Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat man viel darüber gelesen und gehört, dass sich das politische und gesellschaftliche Establishment mit ihrem ironischen Überlegenheitsgehabe zu weit von der Masse der Wählerschaft entfernt hat. Der Populismus hat deshalb Hochkultur, weil es sehr einfach geworden ist, die Arroganz der Oberschicht gegen sie zu wenden. The Party ist ein Film von und für jenen Teil der Gesellschaft, der durch diese Überheblichkeit bereits für Brexit und Trump und Co gesorgt hat.