Architekturen der Seele und Krokodile der Apokalypse: Tár von Todd Field

Holz und Beton umschließen das Leben der erfolgreichen und ehrgeizigen Komponistin und Dirigentin Lydia Tár, die mit Privatjets nach New York und ihrem Porsche durch Berlin fliegt. Diese gut isolierenden Baustoffe und Verkehrsmittel können sie jedoch nur bedingt abschotten von einer digitalen Außenwelt voller Smartphones, vermeintlichen Fake News und verheerenden Social-Media-Posts, denen sie sich vehement zu erwehren versucht. Auch wenn sich ihre Assistentin Francesca um ihren Terminkalender kümmert, Flüge bucht, und Mails checkt – die anonymisierte Macht der ‚Roboter‘, wie Tár die meisten Menschen bezeichnet, scheint letztlich auch keinen Halt vor den Festen dieser Person und ihrer Leidenschaft, der klassischen Musik, zu machen. Ihre Kritik an der massenhaften Entfremdung durch die moderne Technik sowie an verengten identitätspolitischen Debatten trifft jedenfalls einen Nerv und findet dabei keine eindeutigen Antworten, sondern spielt mit den Widersprüchen unserer Zeit – sowie mit der signifikatorischen Offenheit von Gustav Mahlers 5. Symphonie.  

Der nach seiner Hauptfigur benannte Film von Todd Field überträgt den architektonischen Gegensatz aus eleganter Wärme und glatter Kälte auf das Innenleben seiner fiktiven Figur, die als erste weibliche Dirigentin der Berliner Philharmoniker vorsteht. Dass deren merkwürdig gelb-strahlende Fassade mit ihrer asymmetrisch-modernen Anordnung im Inneren sowie den aus der Zeit fallenden grünen und grauen Teppichböden nicht wirklich in dieses Bild passt, gab Anlass, die Orchester-Szenen in der berühmten Dresdner Philharmonie mit ihrer klassischen symmetrisch-frontalen Ausrichtung zu drehen. Mal in betonierten, mal in vertäfelten Räumen mimt Cate Blanchett den vermeintlichen Prototyp einer Antifeministin, die in ihrem Karriereweg und Privatleben als Lesbin keinerlei Gender Bias erkennen mag und sich dem patriarchalen Erfolgsweg ohne Zweifel hingegeben hat. Die Bedeutung der räumlichen Inszenierung offenbart jedoch die Zwiespältigkeit dieses Verhältnisses, in der jede noch so ehrenwert-künstlerische Ambition bereits eingebettet ist in hierarchisierende (Selbst)Vermarktungsstrategien. Müssen und können wir uns überhaupt noch den eigenen Begehren widersetzen, die dieses System für uns produziert, in dem Gefühle wie Beziehungen längst zu Ware geworden sind? 

Um erfolgreich zu sein, scheint es ja gar nicht anders zu gehen; je höher die Leiter der Macht erklommen, desto korrumpierter die, die sie erklimmen. Soweit die bekannte Logik des Kapitalismus. Dass der Größenwahn und die Überzeugung dieser Künstlerin-Persönlichkeit, sie umso anziehender werden lässt, ist dabei die andere, ebenso bekannte Seite dieser Machtmedaille. Während Tár auf offener Bühne bei einem Interview mit einem Journalisten des New Yorker über verschiedene Zeitverständnisse philosophiert und das Dirigieren eines Orchesters mit dem Dirigieren von Zeit vergleicht, ist da bei mir zunächst vor allem Faszination. Die Mehrdeutigkeit des englischen Wortes conducting weist dabei ebenso auf das Verhalten/Benehmen einer Person, wie ihren Führungs- und Leitungsstil, auf administrative Verwaltung sowie Leitung elektrischer Ströme. Letzteres korrespondiert mit der elektrisierenden Performance von Blanchett, die so einzigartig virtuos in das Metier der Komposition einzutauchen vermag. Dirigieren heißt für die Protagonistin vor allem interpretieren; fühlen, was sich mit Worten nicht sagen lässt. In einer Welt in der scheinbar alles gesagt wurde, in der beschuldigt werden bedeutet schon schuldig zu sein, wie es im Film heißt, ist diese Parteinahme für das Gefühl doch trügerisch. Die darin liegende Aufforderung zum Streben nach Sublimierung, nach der Aufhebung des Egos im Erhabenen, sprich das Unsichtbar-Werden des eigenen Körpers, ist in dieser Welt jedoch nur wenigen ‚Genies‘ vorbehalten. Den anderen wird es meist zum Verhängnis.

Während die Professorin intellektuell-emotionale Transferleistungen bei ihren Studierenden bemängelt, scheint es in ihrem Privatleben nur noch transaktionale Beziehungen zu geben, wie ihr ihre Ehefrau Sharon (Nina Hoss) zum schwerwiegenden Vorwurf macht. So scheint Tár blind für die eigene Korrumpiertheit, aber gewitzt in der Entlarvung der anderen. Dabei prallen verschiedene Wirklichkeiten mal ostentativ aufeinander, umgarnen sich oder blicken sich ohne Mitgefühl und voller Ekel an. Etwa im einschüchternden Hörsaal des Elite-Konservatoriums Juilliard, in dem sie die Seelen-Architektur einer ihrer Studierenden mit Social Media vergleicht, oder vor einer Neuköllner Hausruine, in dem die neue und junge Cellistin wohnt, von der sie gleichzeitig angezogen wie abgestoßen scheint. Besonders kontrastiert wird das Luxusleben von Lydia durch ihre betagte Nachbarin und ihrer sie pflegenden Tochter in der Charlottenburger Altbau-Zweitwohnung, die der Komponistin als Arbeitsort dient. Auch der kritische Song auf den Ausverkauf der Wohnung nach ihrem Tod und die Einweisung der Nachbarstochter in eine Pflegeanstalt, machen das gewaltförmige Eindringen dieser Lebensrealitäten nicht wett. 

Doch als ihr eigenes Leben ins Wanken gerät und in die Brüche geht, können Geld und soziales Kapital zumindest vor äußerer Verwahrlosung schützen. Rückzug und Niederlage bedeuten hier, sich auf den Philippinen niederzulassen, wo die Verflechtung von Hollywood und US-amerikanischem Imperialismus ganz beiläufig von Field eingewoben wird: der Fluss, in dem sich nicht mehr schwimmen lässt, aufgrund der Krokodile, die beim Dreh von diesem „Marlon-Brando-Film“ entflohen sind und sich dort vermehrt haben. Die Rede ist von Apocalypse Now, und referiert auf das (New-)Hollywood der 1970er Jahre, das unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges gegen bürgerliche Vorstellungen einer heilen und geschlossenen Welt aufbegehrte. Der Verweis auf das amerikanische Autorenkino scheint jedoch keine industrieinterne Kritik am Eindringen der filmischen Welt in dessen vorfilmische Umwelt zu sein, sondern lediglich ein ironisch-zynischer Kommentar auf die Verflochtenheit unserer Welt. Eine Referenz, die in ihrer provokanten Leichtfertigkeit, genauso wie die Filme der Epoche, doch etwas Zerstörerisches an sich hat. 

Dem einzigen sozialen Aufbegehren, das in Form der abstrakten Medienwelt im Leben von Tár bahnbricht, wird jedoch vom Film keinerlei Beachtung geschenkt. Könnte dies als einseitiger, konservativer Backlash auf eine Prä-Internet-Zeit erscheinen, finde ich doch, dass der Film damit spielt, in dem er uns einen sensiblen, wenn auch elitär-intellektuellen Blick auf diese ‚Hochkultur‘ liefert. Obwohl ich mit der überbordenden und humorvollen Art vor Tár sympathisieren kann, selbst als sich die Anschuldigungen über Übergriffe verdichten, gibt der Film bereits zu Beginn die kritische und doch involvierte Perspektive frei: der Blick auf das Smartphone von Francesca, die aufgrund des toxischen Umganges kündigt, der ihre ehemalige Kollegin in den Selbstmord trieb, öffnet den Raum für Interpretation. Der Film scheint damit gleichermaßen ein Exempel virulenten Machtmissbrauchs zu statuieren, sowie eine Kritik an gesellschaftlichen Verleumdungs- und sich verschärfenden Entfremdungstendenzen zu liefern, die in dieser Komplexität selten zum Ausdruck kommen. Selbst beim Ausblick auf den scheinbaren Horror des immersiven Orchester-Erlebnisses, samt begleitender Erzählstimme und Kostümierung des Publikums, bleibt der Wert dieser Erfahrung erst einmal offen dahingestellt. Ob der Bedrohung apokalyptischer Krokodile – ein Plädoyer für die verbindende Erfahrung von Musik ist es allemal. 

Berlinale 2016: Traum und Wirklichkeit

Die Geträumten von Ruth Beckermann
  • Zurecht hatte ich große Erwartungen an Ruth Beckermanns Die Geträumten. Der Film ist ein kühnes Projekt: die filmische Begleitung zweier Sprecher, die im Studio den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann aufnehmen. Beckermann, die in erster Linie für ihre investigativen Reisefilme bekannt ist, in denen sie sich auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit macht, verlässt für Die Geträumten nie die Räumlichkeiten des Radiokulturhaus im vierten Wiener Gemeindebezirk. Was die beiden Dichter verbindet wird nie expliziert, es wird aber sehr deutlich, dass sie sich zeitlebens zueinander hingezogen fühlten – selbst als sie beide in Beziehungen mit anderen lebten. Sie waren füreinander Bezugs- und Vertrauenspersonen, in guten Momenten fühlten sie sich zutiefst verbunden, in schlechten taten sich abgrundtiefe Risse zwischen ihnen auf. Das alles vermag Beckermann rein durch die Aufnahmen der Schauspieler zu evozieren, die im Studio ihre Texte einsprechen. Sie werden sichtlich mitgenommen von der Arbeit an und mit den feingewobenen Texten; durch ihre Augen blicken wir sechzig Jahre zurück in die Zeit und spüren den ganzen Schmerz und die ganze Wärme, die in der Beziehung zwischen Celan und Bachmann miteinander ringen. Diese Unmittelbarkeit ist schwierig zu verdauen, selten hat mich ein Film so bewegt wie diese Lesestunde, die mit einfachsten Mitteln maximale Wirkung erzielt. Mit Die Geträumten hat Beckermann brennende, poetische Energie auf die Leinwand gebracht. Haneke, Seidl, Spielmann und wie sie alle heißen zum Trotz, Ruth Beckermann ist für mich die größte unter den aktiven österreichischen Regisseuren.
  • So etwas wie eine Anekdote: Es kommt ja mitunter vor, dass von Kinogängern gefragt wird, ob ein Platz, der mit einer Jacke oder Tasche belegt ist noch frei sei. Zum ersten Mal habe ich aber gestern im Zoo Palast beobachten können, dass gefragt wurde, ob ein Platz frei sei, auf dem bereits eine Frau gesessen ist. Das passierte der Frau gleich zwei mal: The Thing und Mr. Fantastic waren allerdings nirgends zu sehen.

Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva

Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva

  • Crosscurrents von Yang Chao ist einer jener Filme gegen dessen einzelne Bausteine man nichts auszusetzen hat, der aber im Zusammenspiel seiner Teilstücke nicht aufgeht. Der Film folgt dem Bootsmann Chun, der mit seinem Lastkahn den Jangtse flußaufwärts schifft um eine Fracht abzuliefern – und dem Fantasma einer Liebe hinterher. Dabei schwankt der Film zwischen Mystifizierung (was von chinesischen Zensoren bekanntlich nur ungern gesehen wird) und Erklärungswut, zwischen nüchternem Naturalismus und träumerischer Poetik, touristischem Werbefilm und verrosteten Frachtern. Schön anzusehen, in seinen besten Momenten durchaus profund, aber leider ebenso unausgegoren und inkonsequent.
  • Zwei Männer in strahlend weißen Kolonialuniformen, die engelsgleich luminiszieren; im Hintergrund nur tropische Vegetation; die Kamera entfernt sich (das Boot auf dem sie sich befindet legt ab), lässt die beiden auf einem Steg zurück; verlorene Boten der Zivilisation in der Wildnis. Das Ziel der beiden Portugiesen ist ein abgelegener Handelsposten im tiefem Dschungel Kongos, wo sie Elfenbein beschaffen sollen, aber ihre eigentliche Aufgabe wird bald zur Nebensache, denn Posto avançado do progresso von Hugo Vieira da Silva ist die Verfilmung von Joseph Conrads An Outpost of Progress und dergestalt mehr tropischer Fiebertraum als koloniales Abenteuer. Treffend übersetzt Vieira da Silva die erdrückende Schwüle in Kinobilder, entzieht den kräftigen Farben des Urwalds jegliche Vitalkraft, indem er sie durch einen feinen Dunstschleier filmt. Dieser Nebel aus Wasserdampf ist nicht bloß Naturphänomen, sondern auch Ausdruck der geistigen Illumination der beiden Kolonialbeamten, die dem Wetter und dem guten Willen ihrer servilen Bediensteten ausgeliefert sind. Sie sind Fremdkörper, die in leuchtendem weiß erstrahlen und langsam dem Wahnsinn anheim fallen – Colonel Kurtz und Kaspar Almayer lassen grüßen. Tatsächlich ist Posto avançado do progresso auf seine Art ein würdiger Nachfahre von Apocalypse Now und La folie Almayer (auch wenn es mir unmöglich erscheint einen direkten Vergleich zwischen diesen Filmen zu ziehen).

Musik schafft Bedeutung: Wagners Walkürenritt im Film

Im klassischen Hollywood-Kino wird Musik meistens eingesetzt, um die emotionale oder narrative Bedeutung einer Szene zu unterstützen. Die Musik verstärkt dadurch den Effekt der Szene auf den Zuschauer und bestätigt ihn in seiner Interpretation des Gesehenen. So wird sichergestellt, dass bestimmte Informationen eindeutig den Rezipienten erreichen. Es handelt sich hierbei natürlich um einen rein theoretischen Idealfall, der selbst in jenen Filmen, die streng den ästhetischen Vorstellungen des klassischen Hollywood-Kinos folgen, niemals eintritt. Musik schafft – wie Worte, Licht, Bildkomposition und Schauspiel – selbst Bedeutung, umso mehr wenn es sich um präexistente, also nicht eigens für den Film komponierte, Musik handelt. Die möglichen Konnotationen, die ein Zuschauer zur Musik haben kann, werden enorm vervielfacht, wenn es sich um ein Musikstück handelt, das dem Zuschauer andernorts bereits untergekommen ist. In vielen Filmen wird bei der Auswahl der Musik ebendiese Tatsache berücksichtigt, sodass bestimmte Musikstücke zu ambivalenten Reaktionen beim Zuschauer führen und als mehrfache Referenz verstanden werden können.

Man könnte diesen Prozess an vielen verschiedenen Beispielen verdeutlichen, aber das wohl bekannteste lässt sich im Präludium zum dritten Akt von Richard Wagners Walküre (komponiert 1852-56) finden, das häufig mit dem Titel Der Ritt der Walküren bezeichnet wird.

Die Walküre ist der zweite Teil des vierteiligen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, in dem die Handlung der Nibelungensaga, vermischt mit verschiedenen Figuren und Geschichten der nordischen Mythologie frei nacherzählt wird. Die Walküre handelt von der Walküre Brünnhilde, die durch Ungehorsam bei den Göttern in Ungnade fällt und daraufhin aus dem Göttersitz Walhall verbannt wird. In der ersten Szene des dritten Aktes treffen sich Brünnhildes acht Schwestern – ebenfalls Walküren – auf einem Felsen, berichten von ihren Erlebnissen und warten auf die säumige Schwester. Der Ritt der Walküren – ein zunächst rein instrumentales Stück – leitet diese Szene ein und illustriert die Ankunft der acht Schwestern auf ihren fliegenden Rössern.

Walkyrien_by_Emil_Doepler

 

Ich wage zu behaupten, dass Richard Wagner, wäre er ein Filmregisseur gewesen, wohl nicht den Leitlinien des klassischen Hollywood-Kinos gefolgt wäre. In seinen Opern (oder Musikdramen, wie sie von ihm selbst genannt werden) steht die Musik nämlich ständig in krassem Gegensatz zur Handlung. Man könnte behaupten, dass die Handlung, die auf der Bühne stattfindet, zu jedem Zeitpunkt vom Orchester kritisch und distanziert kommentiert wird. Dadurch entfaltet die Musik aus sich heraus mehr Bedeutung und damit einen größeren Interpretationsspielraum, als es bei vielen anderen Komponisten der Fall ist. Es entstehen zwei Bedeutungsebenen der Musik: eine narrative und eine emotionale.

Auf der narrativen Ebene ist der Ritt der Walküren sehr illustrativ: Zunächst ist in den Streichern das Wiehern von neun Pferden zu vernehmen, in den Bläsern beginnt sich ein galoppierende Rhythmus auszuprägen. Schließlich symbolisieren abfallende, hohe Streicherbewegungen den Landeanflug der Walküren, der in den Beginn des berühmten Bläserthemas mündet, welches als Ausschmückung des galoppierenden Motivs verstanden werden kann. Auf einer emotionalen Ebene vermittelt die Musik eine furchteinflößende Macht, die von den halbgöttlichen Reiterinnen ausgeht. Eine Macht, die zwar zur Zerstörung fähig, aber trotz allem gemäßigt und nicht böse ist. In seiner Wirkung erweist sich das Präludium als sehr stark und direkt und wird deshalb gerne in Filmen verwendet.

Eines der ersten Beispiele für die Verwendung des Ritts der Walküren im Film ist David Wark Griffiths The Birth of Nation aus dem Jahr 1915. Im Finale des Films, der zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielt, wird eine Stadt, die von der rebellierenden schwarzen Bevölkerung belagert wird, durch den Ku Klux Klan, begleitet von Wagners Musik, befreit. Griffith nutzt hier die Dynamik des Musikstücks einerseits illustrierend – die Männer des Ku Klux Klans sind beritten – und andererseits zur Emotionalisierung der Szene: Im Kontext des Films wird die Aktion der Reiter als Befreiungsschlag wahrgenommen, die Musik verliert hier ihre – im ursprünglichen Kontext noch vorhandene – Neutralität und wird als Hymne zur Glorifizierung der „Befreier“ benutzt. Die furchteinflößende Macht, welche durch die Musik ausgestrahlt wird, wird kanalisiert und gegen den vermeintlichen Feind gerichtet, sodass sie als durchwegs positiv wahrgenommen wird. Wagners Walküren sind eine göttliche Macht, die sich für und gegen jeden Menschen wenden kann; Griffiths Reiter des Ku Klux Klan benutzen ihre Macht im Kampf gegen das Böse (zumindest nach seinem Verständnis). Die emotionale Bedeutung der Musik wird durch den Kontext des Films verändert.

Wagners Musik fand vor allem im deutschen Raum große Verwendung, er galt schließlich als einer der deutschen Nationalkomponisten. Unter der Herrschaft des NS-Regimes wurde der Ritt der Walküren als musikalische Unterlegung für Wochenschauaufnahmen des Krieges häufig verwendet. Gerade dieser Einsatz dieses Musikstücks brandmarkte es für die Zukunft und so wird Wagners Musik und insbesondere der Ritt der Walküren bis heute häufig mit Krieg und der NS-Zeit asoziiert.

Diese Verschiebung der Bedeutung des Ritts ins Negative machte sich auch Francis Ford Coppola in seinem Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979) zunutze. Bei einem Helikopterangriff auf ein Küstenlager der Vietcong lässt der befehlstragende Lieutenant Kilgore aus den Lautsprechern des Helikopters den Ritt der Walküren spielen. Coppola macht sehr klar, dass es sich bei Kilgore offensichtlich um einen verrückten Masochisten handelt, für den Gewalt pure Banalität ist und der Freude an psychologischen Spielen mit seinem Feind empfindet. Den Ritt setzt Kilgore zur Demoralisierung der Vietcong ein; die Musik soll einschüchternd wirken und im Kontext der Gegebenheiten tut sie das auch. Der Einsatz von Wagners Musik als Abschreckungsmethode wäre ohne die historischen Entwicklungen der 30er und 40er Jahre völlig undenkbar und absurd gewesen. Allein das Bewusstsein der Geschichte lässt uns die Musik als potentiell abschreckend wahrnehmen, ob die Einschüchterung durch Wagner bei Vietcong, welche diese historische Verbindung vermutlich nicht ziehen können, tatsächlich funktionieren könnte, ist sehr fragwürdig.

apocalypse now

Der Film und insbesondere diese Szene erlangten einen solch hohen Bekanntheitsgrad, dass der Ritt der Walküren heute (besonders im Bereich des Kinos) primär nicht mehr mit Wagners Oper, sondern mit Coppolas Film in Verbindung gebracht wird. Die Bekanntheit dieser Szene geht so weit, dass heutzutage CD-Covers der Walküre mit Bildern aus Apocalypse Now versehen werden. Der Film trug also nicht nur zu einer emotionalen Bedeutungsverschiebung der Musik (von neutral/positiv hin zu angsteinflößend/negativ) mit bei, sondern verursachte auch eine weitere Umkehrung des Referenzsystems: die Walküre ist in der Auffassung vieler Zuschauer „die Oper, in der das Stück aus Apocalypse Now vorkommt“ und nicht umgekehrt. Nun ist dies keineswegs eine negative Entwicklung, es ist nur ein Aspekt, der bei der Analyse aller später produzierten Filme, die ebenfalls Gebrauch vom Ritt der Walküren machen, in Betracht gezogen werden muss. Es ist aber auch eine Tatsache, die es allen späteren Filmemachern ermöglicht, den Ritt in einem neuen Kontext einzusetzen, nämlich in Bezug auf Coppolas Film.

Der Einsatz des Ritts der Walküren in verschiedenen Filmen wie Blues Brothers (1978), Lord of War (2005), Watchmen (2009), Monsters (2010) kann als direkte Anspielung auf seine Verwendung in der NS-Zeit oder in Apocalypse Now verstanden werden; die verbindenden Motive in den einzelnen Filmen sind Darstellungen von Nationalsozialisten, Deutschland als Kriegsnation, Helikoptern, verrückten Soldaten oder dem (Vietnam)krieg. Fliegende Pferde oder Frauen in Männerrüstung tauchen in dieser Aufzählung nicht auf, obwohl sie der ursprünglichen Bedeutung des Musikstücks entsprechen.

Natürlich gibt es auch Beispiele, in denen der Ritt völlig unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung und all diesen historisch gewachsenen Konnotationen zum Einsatz kommt. In Nicholas Rays Rebel Without a Cause (1955) – wohl der Film, der von allen hier gennannten, dem zu Beginn beschriebenen Ideal des klassischen Hollywood-Kinos am nächsten steht – summt der Protagonist Jim Stark zu Beginn des Films, als er in einer Polizeistation befragt wird, das Bläserthema des Ritts. Es handelt sich hier um die Szene, in der sein Charakter exponiert wird; alles deutet darauf hin, dass es sich bei seiner Figur um einen Rebellen handelt: er ist betrunken, obwohl viele Stühle im Wartezimmer frei sind, sitzt er erhöht auf einem Schuhputzstuhl; er steht als Außenseiter über der Gesellschaft. Wie passt der Ritt der Walküren in dieses Bild? Zunächst sei erwähnt, dass er mit dem Summen den Fragen des Polizisten ausweicht, also seine Rolle als Rebell bestätigt, doch verweist die Wahl der Melodie auf eine bedeutungsvollere Aussage. Es handelt sich hier um keine Anspielung auf den Ring des Nibelungen, die NS-Zeit, Krieg oder Deutschtum, vielmehr deutet sein Verhalten auf seine Bildung, die er vermutlich in seiner Kindheit und frühen Jugend genossen hat – er stammt schließlich aus wohlhabenden Verhältnissen. Möchte man noch auf weitere Deutungsmöglichkeiten eingehen, kann man zwischen Jim und der Person Richard Wagner eine Verbindung finden: der Komponist wird nämlich oft – stark romantisiert – als Rebell außerhalb der Gesellschaft dargestellt.

james dean

Lässt sich in Rebel Without a Cause noch eine mögliche Verbindung zum Komponisten des Stücks finden, so setzt Federico Fellini den Ritt der Walküren in Otto e Mezzo (1963) völlig frei von jeglicher rationaler Konnotation ein. Eine Szene zu Beginn des Films zeigt den Regisseur Guido Anselmi, wie er sein Badezimmer betritt und sich im Spiegel betrachtet. Das Telefon klingelt, Guido hebt nicht ab, sondern beginnt mit jedem erneuten Klingeln tiefer in die Hocke zu gehen. Schnitt auf den Außenbereichs des Kurbades, in dem sich Guido befindet: Eine Menschenmasse (darunter viele Nonnen und Mönche) stehen in einer Reihe und warten auf ihr Glas Kurwasser. Diese beiden Szenen werden mit Wagners Musik unterlegt, die auf den ersten Blick nicht mit dem Geschehen vereinbar ist. Viele Fragen bei der Interpretation dieser Szene bleiben offen; nicht einmal die Frage nach der Quelle der Musik kann mit Bestimmtheit beantwortet werden. Im Außenbereich ist für einen kurzen Moment ein Dirigent zu sehen, der den Takt des Ritts passend angibt, es bleibt allerdings unklar, ob der Dirigent wirklich vor einem spielenden Orchester steht und welches Stück von dem Orchester gespielt wird – falls es denn überhaupt da ist. Des Weiteren bleibt offen, welche persönlichen Assoziationen Fellini mit dem Ritt und Wagner hat, es besteht im Fall von Otto e Mezzo nämlich die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine persönliche Entscheidung des Regisseurs handelt, dessen Begründung nur ihm bekannt ist. Tatsache ist jedoch, dass die Musik der Szene einen komisch-satirischen Charakter verleiht. Die Diskrepanz zwischen der Schwere der machtvollen Musik und der scheinbar leichten Idylle löst beim Zuschauer einer Irritation aus, die ihm eine kritische Distanz zum Geschehen verschafft (ein satirischer Effekt): Ist diese Idylle wirklich so, wie sie scheint? Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen bewussten Einsatz der Musik gegen ihren ursprünglichen und historischen Kontext.

Die Bedeutungsverschiebung oder -vervielfachung eines Musikstücks im Film ist eine Tatsache, die oft aus (film-)historischen Umständen erwächst. Sie ermöglicht es, mit präexistenter Musik einen Bezug zur Geschichte oder anderen Filmen aufzubauen und so der Musik mehr Bedeutung als eine bloße Bestätigung des Handlungsgeschehens zukommen zu lassen. Behalten wir, als Zuschauer, also die geschichtlichen Entwicklungen im Hinterkopf, wird die Musik, wie bei Wagner, zum Kommentar und erzeugt Ambivalenzen, wo sonst keine dagewesen wären. Selbst der Einsatz der Musik gegen ihren historischen Kontext ist eine bewusste Entscheidung und schafft Bedeutung in der Nicht-Bedeutung.