Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zum Abstand

1. Der Abstand hängt etymologisch mit dem Verzicht zusammen. Es ist ein Verbalabstraktum zum mittelhochdeutschen abestān: abstehen, entfernt sein; überlassen, verzichten.

2. Abstände können regelmäßig (Mondphasen, Meilensteine oder nervliche Zusammenbrüche) oder unregelmäßig (Ankunft deutscher Züge im Bahnhof, Gehaltskürzungen oder Wolkenbrüche) sein.

3. Abstand ist abstrakt, es gibt ihn nicht ohne eine Präzisierung. Ich kann nicht einfach Abstand sein, ich muss auf Abstand gehen, Abstand nehmen, Abstand halten. In dieser Weise muss man dann auch die Qualität des Abstands bemessen (meist in metrischen Einheitssystemen). Ist es ein großer Abstand, ein kleiner Abstand?

4. Etwas kann auch abgestanden sein, das hat dann aber weniger mit Verzicht zu tun, es sei denn man meint damit den allseits beliebten Verzicht auf Erneuerung. Jedenfalls fällt auf, dass jene, die uns zu Abstand raten, das in abgestandenen Phrasen tun. Aber womöglich liegt das daran, dass die Luft, die sich zwischen uns bewegt, wenn wir auf Abstand gehen, abgestanden ist.

5. Ein Abstand kann Zeit und Raum betreffen. Im zeitlichen Fall können wir ihn womöglich mit Sehnsucht, Erinnerung, Vergessen oder Nonchalance überbrücken, im örtlichen Fall brauchen wir Seile, Flugzeuge, Schritte oder zumindest Träume.

6. Manchmal, so sagt man, kann es helfen, Dinge mit etwas Abstand zu betrachten. Dann verzichten wir vielleicht auf bestimmte Affekte. Wir sehen mehr. Man sagt, dass das Bild größer wird, aber es scheint mir Paradox, dass Bilder größer werden, wenn man sich von ihnen entfernt.

7. In Sportarten, in denen es darum geht, der Schnellste zu sein, soll man Kontrahenten distanzieren. Besonders moralisch wirksam ist eine Distanzierung jedoch, wenn sie aus der Nähe passiert. Ich denke da zum Beispiel an Überholmanöver, die aus der Distanz nur schwer umsetzbar sind. Distanz kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so etwas wie „voneinander wegstehen“.

8. Manche Menschen sind distanziert, das heißt kühl, unnahbar, womöglich abgehoben, uninteressiert. Müssen diese Menschen anders Abstand halten? Andere aber halten Abstand zu sich selbst oder stehen gar neben sich (wobei zu klären wäre wie weit und ob man, wenn man neben sich steht, Sicherheitsabstand einhalten muss).

9. Kann ein Abstand sicher sein?

10. Abstand kann auch ein Ausdruck von Respekt sein. Man verzichtet dann aus Ehrerbietung auf Nähe; meistens ist Abstand aber Ausdruck von Angst.

11. Der Abstand ist eine mathematische Kategorie. Manchmal kann man einen Abstand bestimmen, wenn man Zahlen kennt, die auf den ersten Blick nichts mit ihm zu tun haben. Es wäre interessant zu beobachten, wenn wir keinen Abstand zueinander halten müssten, sondern bestimmte Winkel (Begründung: solange wir gleichschenklig stehen und beide über 1,80m sind, sollte der Abstand, wenn wir diesen Winkel einnehmen, groß genug sein.).

12. Der Abstand ist unbekannt.

13. Es gibt in manchen Gebieten des Lebens einen perfekten Abstand (glauben viele): zum Fernsehgerät, zur nächsten Toilette, zu den eigenen Fehlern, zur Zivilisation.

14. Wir haben Dinge erfunden, die den Abstand verunmöglichen oder zumindest erschweren. Dazu gehören Kleber, Nägel und Mobiltelefone.

15. Manches kann man auf Abstand tun: sprechen, spazieren oder schlafen. Manches nicht: küssen, schlagen oder beatmen.

16. Manche leben abstinent. Andere gehen dann von ihnen auf Abstand.

17. Ein Abstand hat ein Gewicht. Er kann schwer wiegen oder man spürt ihn gar nicht. Kürzlich habe ich einen Abstand auf die Waage gestellt und war überrascht, dass er mehr wog als an einem anderen Tag.

18. Vor manchen Dingen muss man Abstand halten, wenn einem das Leben lieb ist: Radioaktivität, tosende Flammen oder bestimmte Bereiche der Popmusik.

19. Wenn eine Distanz sozial sein soll, dann muss man letztlich nur den Abstand vom ärmsten bis zum reichsten Viertel einer Stadt messen und schon kennt man die soziale Distanz.

20. In diesen Tagen würde ich nur ungern ein Magnet sein wollen.