Mächtige Ohnmacht in Saló o le 120 giornate di Sodoma von Pier Paolo Pasolini

In einer Gesellschaft gibt es nur ein begrenztes Kontingent an Freiheit; je mehr sich eine Person daran bedient, desto weniger steht allen anderen zur Verfügung. Wird wenigen Menschen absolute Freiheit gewährt, bedeutet das absolute Unterdrückung für den Rest.

In seinem Film „Saló o le 120 giornate di Sodoma“, basierend auf dem Roman „Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage“ von Marquis de Sade, zeigt Pier Paolo Pasolini das Leben im grenzenlosen Exzess, welches die Mächtigen genießen und kritisiert Systeme, die eine ungerechte Verteilung von Freiheit fördern. 1975 avancierte der Film durch seine Darstellung von Pädophilie und Gewalt zu einem Skandal und hat auch heute nichts von seiner Wirkung verloren.

In einer Welt, sei es eine absolutistische, wie in Marquis de Sades Roman, oder einer faschistischen, wie die, wie Pasolini sie zeigt; einer Welt, in der es für vier Männer möglich ist absolute Macht über 16 Jugendliche zu haben, werden die Unterdrückten zu kommerzieller Ware, zum Spielzeug für jene, die über ihnen stehen. Wenn Pasolini die Misshandelten in Szene setzt, werden sie nicht als menschliche Wesen präsentiert. Die Kamera fängt ihre nackten Körper wie Statuen ein, die präzise im Raum platziert sind; dekorative Puppen, die all die großen leeren Hallen des Lustschlosses füllen. Körper, die stets in der Symmetrie des Bildes gefangen sind, zwischen rechteckigen Türrahmen und Fenstern, schwarz-weiß karierten Bodenfließen und Jugendstilmöbeln, unfähig sich zu bewegen, in ständiger Spannung durch eine kleine Bewegung die Komposition des Bildes zerstören zu können. Pasolini schafft es so ein filmisches Äquivalent zu de Sades protokollarischem Erzählstil zu finden. Wie in der literarischen Vorlage entsteht so eine Diskrepanz zwischen dem emotionalen Inhalt der einzelnen Szenen und deren formal strenger Ausführung. Diesem Formalismus sind alle Protagonisten des Filmes unterworfen.

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Besonders deutlich sticht diese undurchdringliche Strenge des Bildes immer dann hervor, wenn sich die gesamte Gemeinschaft von Unterdrückern und Unterdrückten im roten Salon des Schlosses versammeln, um erotischen Geschichten zu lauschen. Alleine die Darstellung des Raumes wirkt in seiner schweren Symmetrie schon erdrückend: Eine Treppe, die von hinten in den Raum führt, ein tiefhängender Kronleuchter und eine lange Tafel aus dunklem, massivem Holz bilden eine unüberwindbare Symmetrieachse, die sich vertikal durch das ganze Bild zieht; die gesamte Architektur und Inneneinrichtung des Raumes richten sich danach aus. Doch es ist nicht nur die Architektur des Raumes, die sich einer strengen Komposition unterwirft; die Symmetrie wird in den Menschen, die den Raum betreten gleichsam fortgeführt. Völlig den Gesetzen der Komposition unterworfen ordnen sich die Bewohner des Hauses täglich in vier gleich großen Gruppen rechts und links der vertikalen Symmetrieachse an. Haben sie erst ihre Position eingenommen, bewegen sie sich nicht mehr. In dieser statischen Anordnung fügen sich alle Personen so perfekt in das Gesamtkonzept des Raumes ein, dass sie gewissermaßen mit ihm verschmelzen, Teil seines Mobiliars werden. Diese absolute Unterwürfigkeit gegenüber der Symmetrie des Raumes zeigt sich nicht nur in den Misshandelten, sondern auch in deren Peinigern, die ebenso wie ihre Lustmädchen und –knaben selbst zum Teil der Raumkonzeption werden: ihre durch die erotischen Erzählungen angekurbelte Erregung unterdrückend harren auch sie starr auf ihren Plätzen, solange bis es ihnen erlaubt ist, sich zu erheben.

So nehmen sie gleichsam ihre Unterdrückung wehrlos an, zum Schutze des großen Ganzen: der Komposition des Bildes, die über allem steht, die wertvoller und wichtiger ist als die Summe ihrer Teilelemente; ihr gegenüber fügen sich sogar die Mächtigen, die sich in ihren schwarzen Anzügen als Kontrapunkt zur weißen Haut ihrer Lustmädchen und –knaben in das Gefüge aus menschlichen Statuetten einordnen. Und so zeigt Pasolini, dass es noch eine Macht über den vier Männern gibt: das System, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind; ein System, das im Jahr 1944 schon seinem Ende entgegensah.

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Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt trotz aller Schrecken also bestehen: die Mächtigen sind ohnmächtig gegenüber dem eigenen Ende. Diesem Ende ein letztes Mal zu entfliehen ist ihr einziges Ziel; noch eine Sekunde Macht, noch ein 120 Tage Exzess. So bleibt ihnen nur die Möglichkeit der Flucht, die Flucht in ein abgeschottetes Lustschloss. Die Welt außerhalb des Schlosses hat für die Protagonisten aufgehört zu existieren; so wird sie auch von Pasolini systematisch ausgeschlossen: Nach dem Prolog verlässt der Blick der Kamera das Schloss und dessen Gärten nie mehr wieder. Ist dieses Abschließen gegenüber der Außenwelt auch konsequent und möglicherweise sogar endgültig, so hört sie doch nicht auf zu existieren. Als dunkles Grollen macht sich die Welt außerhalb der Schlosshallen immer wieder bemerkbar. Ein düsteres Raunen hallt immer wieder durch die Hallen des Schlosses; sind es Gewitter oder ist es der Krieg, der vor den Türen wütet? Es ist die Außenwelt, die durch die Ritzen der Türen und Fenster immer wieder versucht in die paradiesische Isolation der Mächtigen einzudringen; es ist der Vorbote des Untergangs, der den vier Mächtigen blüht.

Doch mit dem Ende der alten Hierarchien ist es für Pasolini nicht getan. Als ständiger Rebell im Kampf gegen die medialen Götzenbilder der Nachkriegsgesellschaft versucht er mit „Saló“ seine Kritik an einer Gesellschaft, die in seinen Augen vor einem neuerlichen Umbruch in ein absolutistisches System steht, zu üben. Eine brisante Botschaft, die auch heute noch relevant ist.

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