Locarno-Tagebuch: Tag 1: Nur noch 338 Minuten!

Gleich zweimal wurde ich schockiert, bevor ich überhaupt in Locarno angekommen bin. Erstens, die Schweizer sind gar nicht so unsympathisch, wie ich es von ihnen gewohnt bin. Zweitens, die für ihre Pünktlichkeit berühmte Schweizer Bahn kommt mit Verspätung an. Locarno selbst, ähnelt meines Erachtens eher einem beschaulichen italienischen Küstendorf, als dem, was ich mit „Schweiz“ verbinde. Die Leute sind hier auch sehr italienisch kommt mir vor – erkennt man auch daran, dass sie Fremdsprachen nur rudimentär beherrschen.

Aber genug der Trivialitäten (wenn Gott und meine Kamera so will, dann gibt es morgen sogar exklusive Fotos). Es geht hier schließlich um Film und hinter mir liegen nun nach dem ersten Tag auch zwei Filme. Einerseits, der Eröffnungsfilm Lucy von Luc Besson und andererseits, Lav Diaz‘ Fünfeinhalbstünder Mula sa kung ano ang noon (From What Is Before). In Anbetracht der kommenden Strapazen habe ich mir den letzteren Film (strategisch brillant) gleich in den ersten Tag meines persönlichen Festivalprogramms gepackt. Um der (hoffnungsvoll überfüllten) Eröffnungszeremonie auszuweichen, kam aber zuerst Lucy in der nachmittäglichen Pressevorstellung zum Zug.

Scarlett Johansson in

Lucy

Zu dem ist bloß zu sagen: Was für ein Blödsinn! Was wissenschaftlich beginnt, wird schon bald pseudo-philosophisch und endet schließlich esoterisch. Luc Besson kann dabei natürlich nicht auf eine Vielzahl an Schießereien verzichten, was leider nicht ganz mit den Malick-artigen kontemplativen Passagen harmoniert. Indiewire nannte den Film „the dumbest smart movie or the smartest dumb movie“ des Sommers, dem „smart“-Teil kann ich leider nicht zustimmen. Besson wollte gleichzeitig ein Action-Feuerwerk zünden und „anspruchsvolles“ Publikum ansprechen. Das Ergebnis ist ein Griff ins Klo. Nicht einmal Morgan Freemans weiser Duktus vermag es die hohlen pseudo-wissenschaftlichen Phrasen als fundiert zu verkaufen und weshalb Scarlett Johansson sich nun nach Under the Skin zum zweiten Mal als „Weltenverschlingerin“ besetzen ließ, bleibt offen.

Der erste große Knaller des Festivals folgte der ersten Enttäuschung auf den Fuß. Wenn man den Verantwortlichen des Festivals eines lassen muss, dann, dass sie Eier haben. Der fünfeinhalbstündige Mula sa kung ano ang noon wurde ohne Pause gezeigt – dafür wurde beim Eingang Mineralwasser verteilt. Ich habe als einer der wenigen im Saal bis zum Ende meinem Harndrang widerstehen können und bin ein bisschen stolz auf mich.

Lav Diaz himself

Grau in Grau, beinahe monochrom präsentiert sich eine namenlose philippinische Ortschaft in den 70er Jahren. Fast konturlos fügen sich die Menschen in die Naturkulisse ein. Mensch und Natur vereint – geradezu paradiesisch muten die Verhältnisse an. Aber dieses Paradies ist kein rein christlicher Garten Eden. Die Unschuld in diesem mythischen Paradies wird exemplifiziert durch ein Kind, den Jungen Hakob, und eine Närrin, Joselina, rund um die sich die elliptischen Episoden des Film ranken. Als sie schließlich beide das Land verlassen, verschwindet auch die Magie, der Mythos stirbt sozusagen aus. Das Kriegsrecht wird verhängt und das einstige Paradies endet in Chaos und Tod. Eine recht freie Interpretation, aber zum Denken bleibt in diesen fünfeinhalb Stunden genug Zeit. Großes Kino der kontemplativen Momente!

PS: Jugend ohne Film sucht noch immer nach einem Filmfestival, dessen Kinos weiter voneinander entfernt sind als die der Grazer Diagonale.

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