Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

La vie d’Adèle-Chapitre 1&2 von Abdellatif Kechiche


Der geöffnete Mund von Adéle taucht immer wieder auf während der drei Stunden im Palme d’Or-Gewinner „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche. Es ist der Bezugspunkt für die Kamera. Diese junge Frau, der man den ganzen Film folgt, der man folgen will. Man saugt sie förmlich auf: Ihre Worte, ihre Gesten, jede Bewegung. Die junge Schauspielerin Adèle Exarchopoulos liefert eine große, völlig furchtlose Leistung ab in der Rolle der titelgebenden Figur. Sie wirkt wie völlig verloren in ihrer Welt, in ihrem Körper, im Film und in ihrer Liebe. 
Bedeutende Schriftsteller haben sich daran versucht in Worte zu kleiden, was es bedeutet sich zu verlieben. Selten hat ein Filmemacher mit einer solchen Direktheit und Offenheit Bilder für dieses Gefühl gefunden. „La vie d’Adèle“ funktioniert über Identifikation. Diese wird nicht hergestellt über stupide Hintergrundgeschichten oder typische Vergangenheitsbewältigungen, wie das im amerikanischen Kino derzeit sehr stark in Mode ist, sondern über die genuinen Stilmittel des Films selbst. Zum Beispiel durch  die Länge der Einstellungen, die uns erlauben die Achterbahnfahrt der Emotionen tatsächlich mitzuerleben während sie geschehen. Statt durch Schnitte und Musik eine Emotion vorzukauen, zeigt Kechiche die Personen, die die Gefühle erleben in ihrer ganzen Verlorenheit, in ihrer ganzen Ambivalenz und Menschlichkeit. Die hellen Bilder wirken rau und doch schön, häufig wird mit Gegenlicht gearbeitet; trotzdem wirkt alles spontan, die Kamera sucht Momente, kleine Details. In Großaufnahmen werden häufig die gleichen Einstellungen aufgegriffen, wie etwa der geöffnete Mund von Adèle. Der suchende Blick der Kamera entspricht dem der Neugier, wenn man sich frisch verliebt hat, die Oberfläche schmilzt dahin und Kechiche nähert sich in einer völlig entblößten Art und Weise der Essenz eines unbeschreiblichen Gefühls. Die Farbe Blau (der englische Titel „Blue is the warmest colour“ nach der gleichnamigen Comicvorlage) als Leitmotiv: Vor allem in den Haaren von Emma, gespielt von einer völlig verändert Léa Seydoux, die durch ihre Blicke mehr erzählt als ganze Monologe in anderen Liebesfilmen.  
Die reale Art der unsimulierten Sexszenen bedeutet eine Verschmelzung von Liebe und Lust, die in vielen anderen Filmen nicht gewagt wird. Normalerweise gibt es entweder die Liebe, was in Filmen sehr oft Blümchensex oder einen eleganten Schnitt oder Schwenk bedeutet  oder eben Lust, was Erotik, Gewalt und Körperlichkeit bedeutet. In „La vie d’Adèle“ gibt es beides zugleich. Er versteht es die Lust als Teil jener Liebe zu inszenieren, zu der sie in vielen Fällen einfach auch gehört. Dabei zeigt er die beiden Frauen, insbesondere, bei ihrem ersten gemeinsamen Sex in all ihren Emotionen, ihrer Lust, ihrer Körperlichkeit, ihre Schüchternheit und Dominanz. Nichts ist geschnitten, nichts ist gefaked. Es ist einfach echter Sex und trotzdem ist er himmelweit davon entfernt pornografisch zu sein. Ketiche wahrt Distanz, nicht aber aus Verlegenheit, sondern um die Verschmelzung zweier Körper in ihrer Ganzheit einzufangen. Kurz nach der ersten Sexszene folgt auch schon die zweite. Am Anfang einer neuen Beziehung steht wie so oft die Körperlichkeit im Vordergrund. Umso grausamer, wenn diese kurz darauf nicht mehr gegeben ist. In gewisser Weise bildet der Film damit das Pendant zu einem anderen großen Film über Liebe, Wong Kar-Wais „In the mood for love“, der Liebe als versteckt inszeniert. Eine Gesellschaft, die endlich aufgewacht ist, kein Grund zum Versteckspiel. Die politische Bedeutung dieser Offenheit mit homosexuellen Beziehungen zu analysieren, überlasse ich anderen. Mich interessiert die filmische Brillanz.
Normalerweise sind Liebesfilme eher durchschnittliche Unterhaltungsware mit klischeehaften Erzählungen, Kitsch und glattpolierten Bildern. Die großen Filme über Liebe sind die, die sich mit dem Scheitern, dem Verschwinden oder der Abwesenheit von Gefühlen beschäftigen, wie Antonionis „L’eclisse“ oder „Hiroshima, mon amour“ von Alain Resnais. Das Geheimnis, von „La vie d’Adèle“, der eben himmelweit davon entfernt ist sich in irgendwelchen Mustern zu verlieren, könnte in seiner Natürlichkeit liegen. Hier wird nichts als „Liebe“ bezeichnet, sie passiert einfach. Außerdem zeichnet sich das Drehbuch durch eine extreme Beobachtungsgabe aus. Die Dialoge treffen häufig jenen vibrierenden Ton, den man als Gefühlsduselei bezeichnen könnte, wenn man nicht involviert ist und als pure und echte Emotion, wenn man mitten im Gefühl lebt. Und der Film wirft einen ziemlich schnell in diese Gefühlswelt. Der Rhythmus von Ketiche ist kein langsamer, dennoch nimmt er sich Zeit. Er weiß, dass sich die Energie eines Ver- und Entliebens nicht in 90 Minuten erzählen lässt, er lässt seine Charaktere einmal über die Länge von Kunstwerken sprechen und sein Standpunkt scheint klar und ist absolut richtig: Man kommt den Charakteren näher, wenn man mehr Zeit mit ihnen verbringt. Das zeigt einmal mehr, dass es nicht wie bei Smalltalks mit Filmemachern so üblich palavert wird, die Geschichte ist, die die Länge des Stoffs bestimmen sollte, sondern das was der Filmemacher und seine Figuren über und mit der Geschichte zu sagen haben. Ein großer Unterschied!
Am Anfang verlässt Adèle ihr Haus und rennt einem Bus hinterher. Am Ende geht sie weg von der Kamera. Was man in der Zwischenzeit erlebt hat, ist tatsächlich passiert.