Kino und Erde: Encontros Cinematográficos 2018

In Fundão, Castelo Branco vom 27. bis zum 30. April zu Füßen der im dunstigen Schnee lauernden Sierra da Estrela: Das Kino als Begegnungen auffassen. Eine Gruppe außergewöhnlicher Kinoliebhaber huldigt diesem Ideal seit Jahren. Sie sind gekleidet wie die Outlaws einer vergangenen Zeit: Trenchcoats, Lederjacken, Cowboyhüte und zerrissene Wolle eines aufrechten Widerstands. Ihre größte Waffe ist Offenheit und Demut gegenüber Mensch und Film. Es gibt hier eine Allianz zwischen dem Kino und den Leuten, deren Augen das Kino erst lebendig werden lassen. Es gibt hier ein Kino, das zu den Menschen will.

Die Landschaft um Fundão ähnelt jener großer amerikanischer Western. Vieles wirkt unberührt, unerschlossen und doch von den verheerenden Feuern der letzten Jahre erschüttert. Verbrannte, unberührte Erde. Die Verbindung der Menschen und auch des Kinos mit der Erde sollte uns in den Tagen in Portugal beschäftigen. Das Gesetz, so sagt man uns, sei weit entfernt von Fundão. Man nimmt einen Zug aus Lissabon. Wie lange es dauert, ist unerheblich. Nachdem man die Industrie und den überschwappenden Tourismus der portugiesischen Hauptstadt hinter sich gelassen hat, beginnen Adler vor dem Fenster zu kreisen. Der Tajo fließt golden zwischen verheißungsvoll glänzenden Hügeln. Man beginnt etwas zu träumen, aber die Nähe von Schönheit und Ödnis, Reichtum und Armut lässt einen nie ganz schwärmen.

Lucky Star von Frank Borzage

Lucky Star von Frank Borzage

In Fundão selbst herrscht ein kalter Wind bei unserer Ankunft. Er sollte sich nicht legen. Die Gipfel am Horizont schienen sogar neuen Schnee zu empfangen, was die Einheimischen nicht an ihren kauernden, kaffeetrinkenden und rauchenden Posen in den Straßen des Ortes hinderte. Ganz im Gegenteil gab es ihrer Präsenz noch etwas mehr Kraft, regte sie sich eben nicht nur gegen die Welt, sondern den spürbaren Wind. Gleich neben dem Bahnhof, das war auch gleich neben dem Kino, dem Kunstzentrum der kleinen Stadt, „A Moagem“ (Das Mahlen), wartete ein scheinbar streunender Hund an einem Kreisverkehr auf. Er blickte zu dieser Gruppe überzeugter Kinoenthusiasten in verlorener Erwartung. Das ganze Szenario hatte etwas Raues an sich, wäre es nicht zugleich so sanft.

Das Sanfte im Rauen erinnert an die hand- und herzensverlesenen Filme des Festivals. Filme wie Frank Borzages brutaler und romantischer Lucky Star oder Pierre-Marie Goulets balladenhafte Polifonias – Paci é saluta, Michel Giacometti und Encontros. Diese Filme über Alentejo, die Poetin Virgínia Dias, Korsika und den Ethnografen Michel Giacometti sind das beste Beispiel für die Verbindung von Kino und Erde, Menschen und Kino, die bei Encontros Cinematográficos betont wurde. In Modi von Gleichklang und Mehrklang untersucht Goulet dabei Verbindungen und Begegnungen zwischen Koriska und Alentejo sowie zwischen Musik und Leben, Poesie und dem Boden, aus dem sie wächst. Seine schwelgerischen und im betörenden Sinn repetitiven Kamerafahrten versetzen in einen Zustand der Vermischung, der dadurch verstärkt wurde, dass seine beiden zusammenhängenden Werke (am Abend wurde noch ein dritter, sein neuester Film, als Überraschungsfilm gezeigt) direkt hintereinander gezeigt wurden. Immer wieder der Blick hinaus in die Landschaft, der Worte und Musik ermöglicht. Die Reichhaltigkeit eines Lebens, das Leiden, der Kampf, die Schönheit und ihr letztendlicher Ausdruck für den Goulet filmische Denkmäler baut. Die Wahrnehmung so sehr nach außen gestülpt, dass man vergisst, woher die Imagination kommt. Nicht das einsame Zimmer von Robert Walser, nicht das am Anfang stehende Wort, sondern die Berührung und Begegnung mit allem, was sich vor diesem Zimmer befindet. Nicht nur aus diesem Grund immer wieder Bilder von Terrassen, die sich an der Schwelle zwischen Zuhause und Natur befinden. Eine Form innerlicher Überwältigung, die sich nach außen trägt. Keine Explosionen oder Dinosaurier, einzig der Blick hin zur Welt.

Encontros von Pierre-Marie Goulet

Encontros von Pierre-Marie Goulet

Encontros ist auch ein Film über das Kino, insbesondere über Paulo Rochas Mudar da Vida. Der Filmemacher und sein Film durchwandern Encontros, es stellt sich die Frage nach der Verbindung eines Filmemachers und seiner Drehorte sowie den Menschen, die er so wundervoll filmte. So also vermag Encontros ein Film darüber zu sein, wie die Liebe zu Kino und Kunst, Menschen näher zusammen bringt. Sowohl in der selben Zeit, als auch über die Zeiten hinweg. Michel Giacometti, Manuel António Pina, António Reis, Paulo Rocha, Virgínia Dias und Pierre-Marrie Goulet. Sie alle wandern auf gleichen Pfaden und treffen sich in diesem Film, der die Zeit zu Gunsten eines Ortes aufhebt.

Dieses Wunder erschien bereits am Morgen in den bewegendsten Augenblicken, die ich jemals in einer Kirche verbracht habe. Ein Bus brachte die Gruppe gleich einem Schulausflug durch für Busse eigentlich zu enge Gassen in einen Nachbarort. Dort stand, umgeben von traumeinladenden Gärten und beobachtet von einem weiteren, diesmal dreifüßigen, stolz hinkenden Hund, die Tür zu einer alten Kirche offen. Vorne war eine Leinwand aufgespannt. Unsere Gruppe schlich trotz herziger Begrüßung etwas schüchtern und bemüht anmutig durch die morgendliche Heiligkeit. Zeigt man es in der Kirche kommt einem das Kino schnell wie eine Sünde vor, schließlich weiß und zeigt es mehr als der Pfarrer. Im linken vorderen Teil, näher am obligatorischen Jesuskreuz versammelte sich eine Gruppe älterer Menschen, die wir bislang nicht gesehen hatten. Wahrscheinlich, so dachte ich naiv, Menschen aus der Kirchengemeinde. Weit gefehlt. Gezeigt wurden Episoden aus der von 1970 bis 1974 laufenden TV-Serie Povo Que Canta von Alfredo Tropa und Michel Giacometti. Die Frage danach, wer dieser Michel Giacometti war, erreichte uns immer wieder während des Festivals. Man erzählte uns, dass er auf einmal aufgetaucht war. Ein Retter der portugiesischen Musiktradition aus Korsika. Mit Tuberkulosediagnose zog er nach Portugal und gründete dort ein Archiv, um Volkslieder und Erzählungen aus dem Hinterland zu sammeln. Er reiste von Ort zu Ort und sammelte ein musikalisches Erbe. Seine Präsenz in den Bildern ist von außerordentlicher Ruhe und Neugier beseelt. Er spricht zu uns vor allem durch die Musik, die er liebt und die Menschen mit denen er diese Liebe teilt. Seine Arbeit ist die des Zuhörens. Er dokumentierte gegen das Vergessen.

Nuvem von Ana Luísa Guimarães

Nuvem von Ana Luísa Guimarães

Was ist es mit diesem Geschreibe von den „Menschen“? Ist es nur die Überwindung mitteleuropäischer Kühle und Distanz, die einem im Besuch dieser anderen Kultur in einen Rausch an Empathie verwandelt? Ist es vielleicht gar die Hilflosigkeit im Angesicht einer fremden Offenherzigkeit, die mich auf einen Allgemeinbegriff wie Menschlichkeit zurückfallen lässt? Ich weiß es nicht, aber die Szenen, die sich in der Kirche abspielten, haben, wenn nicht mit Menschen, doch zumindest mit ihren Erinnerungen und ihrer Sterblichkeit zu tun. Denn die uns unbekannte Gruppe im vorderen linken Teil der Kirche bestand aus einer Vielzahl an älteren Damen, die sich selbst und ihre Stimmen auf der Leinwand wiederfanden. Beinahe 50 Jahre später, im Angesicht der eigenen Jugend. Ihre Unruhe und ihr Lachen, ihr Erkennen und Verblassen erzeugten eine ungeahnte Spannung zwischen Leinwand und Zusehern. Die Kirche wurde eine Zeitkapsel, nicht mehr das Sehen und Hören stand an erster Stelle, sondern das Sein an diesem Ort zu dieser Zeit. Tränen sammelten sich in den Augen als eine Stimme in der Kirche gar in spontaner Emotion die Musik auf der Leinwand begleitete. Der Gesang hallte echohaft unter der Decke der Kirche und aus den Lautsprechern. Beim Verlassen des Gemäuers waren wir endgültig aus der Zeit gefallen.

Regen kündigte sich an. Im milchigen Dunst über dem steppengleichen, trockenen Boden fragt niemand nach den falschen Fragen des Kinos. Niemand will wissen, wer diese Filme programmiert hat, niemand will wissen, wer sie besitzt. Es kann keine Rolle spielen. Die Probleme bei mancher Projektion erinnern höchstens an Rechtschreibfehler in Liebesbriefen. Sie sind nicht relevant, der Gestus ist nicht Perfektion, sondern Zuneigung. An einem Abend jagen wir mit einer kleinen Gruppe einen Regenbogen, der in besonders kräftigen Farben aus dem Boden zu sprießen scheint. Straßen im Irgendwo. Alles durchdrungen von unserem im Kino geschärften Blick für Schönheit und Vergänglichkeit. Wir stoppen in einer verlassenen Gegend an einer im Sonnenlicht badenden Steinhütte. Es ist ein zugleich lebensfremder und lebensbejahender Ort. Ob man hier leben könne, fragt jemand. Wenn man sich erinnern würde, wie man lebe, entgegnet eine andere. Es ist erstaunlich, was mit der Wahrnehmung passiert. Schließlich sehen wir in dieser Gegend und auch im Kino auch viel von der sozialen Ungerechtigkeit, politischen und natürlichen Problemen. Wir erleben einen Widerstand auf der Leinwand. Wir hören auch viele schlimme Geschichten über die portugiesische Filmlandschaft. Von Bestechungen, ausbleibenden Fördergeldern und kaum zu fassenden Mechanismen.

Espelho Mágico von Manoel de Oliveira

Espelho Mágico von Manoel de Oliveira

Ein Beispiel dafür findet sich in Ana Luísa Guimarães, die zu Gast ist auf dem Festival und ihren Film Nuvem zeigt. Der Film, der bis heute ihr einziger Langfilm ist, ein zerbrechlicher Traum verlorener Jugend, die genrehafte Erprobung von Gesten und Verhaltensweisen als Akt des Ausbruchs mit unheimlicher Sicherheit in die Nacht hinein inszeniert, sodass man sich plötzlich im pulsierenden Mond von Nicholas Ray wiederfindet, obwohl man jederzeit fest in Portugal verankert bleibt. Nuvem ist ein Film, der vieles falsch machen könnte, weil er von einer klischeehaften Welt notgedrungen mit Klischees erzählt. Aber Guimarães findet aus den Fallstricken heraus, weil sie das Kino und die Illusion mit der Sensibilität ihrer Figuren verbindet. Erzählt wird eine klassische Liebesgeschichte im Kleingangstermilieu. Der Eindruck eines Freiheitsbegehrens entsteht, eines, das sich zwischen Tag und Nacht abspielt, aber nie wirklich ankommt. So wie bei Nicholas Ray immer die Gangster am zärtlichsten sind, so ist bei Guimarães die Nähe zwischen Kuss und Todesschuss, die verführt. Das Spiel und die Körper in diesem Film könnte jederzeit zerbrechen. Doch wie schon über dem Film ein Hauch von schicksalshafter Ungerechtigkeit hängt, so ist es auch der Filmemacherin widerfahren. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Nähe zu Ray oder auch John Boultings Brighton Rock, die in Wahrheit nur eine Liebe zum Kino ausdrückt, und – um es zu sagen, wie es ist – weil sie eine Frau ist, konnte sie diesem ersten Funkeln in der Gangsternacht keinen weiteren Langfilm folgen lassen. Es bleibt das Rot und eine Fahrt aus der Dämmerung der Stadt zurück, die uns klar macht, dass meist irgendwo irgendwer steht und träumt. Ergeht es uns nicht so an dieser Steinhütte? Sollten wir nicht wütend Kampagnen für die Filmemacherin starten statt melancholisch zu bedauern, dass sie keinen weiteren Film machen konnte? Würde uns das zustehen?

Von der Steinhütte zum aristokratischen Anwesen in Manoel de Oliveiras Espelho Mágico. Musik: La danse macabre von Camille Saint-Saëns. De Oliveira, dem am letzten Tag eine musikalische Hommage durch Bruno Belthoise gewidmet wird (die einzige Vorführung, die pünktlich beginnen sollte), ist nicht gestorben. Er hält seine Hand über das portugiesische Kino. Bei unserer Abreise am Flughafen sehen wir die nach ihm benannte Maschine. In Lissabon passieren wir Orte, an denen er gedreht hat. Auch Ana Luísa Guimarães hat mit ihm gearbeitet, seinen Visita ou Memórias e Confissões geschnitten.

Espelho Mágico ist eine Lektion in Ambivalenz. Der Film zeigt Adel und Reichtum mit boshafter Ironie und berührender Zärtlichkeit zugleich. Erzählt wird eine katholisch pervertierte Geschichte rund um die Suche nach ewiger Jugend. Ein makaberer Tanz, ein in sich verlorenes Gelüst. Auch De Oliveira interessiert sich für die Terrasse. Doch im Gegensatz zu Goulet ist sie nicht der Kontakt mit der Natur, sondern die Abgrenzung. Beinahe erinnert der Umgang mit Terrassen an diesen Tagen an Jean-Luc Nancys Gedanken zur Haut. Der Tastsinn gehört nicht zu dem, was wir zuerst mit dem Kino in Verbindung bringen. Höchstens aufgrund der Dunkelheit und Nähe von Liebenden, deren Hände sich umschlingen und die sich im Licht der Leinwand nur erfühlen können. In Fundão jedoch hatte man – und sei es nur verzaubert vom Bann eines geliebten Kinos – das Gefühl, dass das Kino die Erde berühren kann.

 

Hier noch das Gespräch, das ich vor Ort mit Sílvia das Fadas und Marta Mateus führen durfte:

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