Dossier Beckermann: Scheitelpunkt (Wien retour)

Wien retour von Ruth Beckermann

Wien retour beginnt mit Aufnahmen einer Zugfahrt. Die Kamera filmt aus dem Fenster, während der Zug über die Nordbahnstrecke durch die Wiener Außenbezirke fährt. Die Eisenbahntrasse führt quer durch Floridsdorf und überquert schließlich die Donau, wo die Baustelle der Donauinsel zu sehen ist. Im 20. Wiener Gemeindebezirk endet die Zugfahrt am Bahnhof Praterstern, dem ehemaligen Nordbahnhof. Während die Kamera die urbane Landschaft aufzeichnet, werden die Opening Credits eingeblendet, als der Zug in den Bahnhof einfährt, setzt ein Voice-over-Kommentar ein.

Die Schauspielerin Paola Loew erklärt in nüchternem Ton, welche Bedeutung der eben zurückgelegte Weg für den Film hat: Der Nordbahnhof war früher die Endstation der Nordbahnstrecke, über ihn waren die Ostgebiete der K.-u.-k.-Monarchie an die Hauptstadt Wien angebunden. Wer aus diesen Gegenden nach Wien reisen wollte, der war auf der selben Strecke unterwegs, wie Ruth Beckermanns Kamera. Heute ist der Praterstern mit U-Bahn oder S-Bahn ans Stadtzentrum angebunden, früher musste man mit der Straßenbahn in die inneren Bezirke weiterreisen. Viele der Ankommenden aus dem Osten, so die Erzählerstimme, setzten ihre Reise jedoch nicht in Richtung Zentrum fort. Sie blieben in der Gegend rund um den Praterstern, im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt. Es waren vor allem jüdische Reisende aus dem Osten der Habsburgermonarchie, die zuallererst Verwandte oder Bekannte in der Leopoldstadt aufsuchten, denn nach dem Ersten Weltkrieg lebten dort rund 60.000 Juden. Das gab dem Stadtviertel den Beinamen „Mazzesinsel“.

Die Mazzesinsel ist auch der Titel eines Buchprojekts von Ruth Beckermann. Eingeleitet von einem Essay von Beckermann, versammelt der Band eine Fülle historischer Materialien – Reportagen, Fotografien, Liedtexte – über das Leben in der Zwischenkriegszeit in diesem jüdisch geprägten Viertel. Das Buch entstand als Folgeprojekt zu Wien retour, denn für den Film hatte Beckermann umfangreiche Recherchen zu dieser Zeit und diesem Stadtteil unternommen. Nicht alle Materialien, auf die sie stieß, konnte sie für den Film verwerten, manches kommt sowohl im Film als auch im Buch vor. Wien retour gab zu einem entscheidenden Zeitpunkt in Beckermanns Karriere den Anstoß zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte ihrer Heimatstadt. Die Jahre zuvor hatte Beckermann mit ihren Kollegen vom Filmladen am Verleih und der Produktion politischer Filme gearbeitet, die eine Gegenöffentlichkeit herstellen sollten. Es entstanden Reportagen über aktuelle Streiks und die Situation der Arbeiter in Österreich.

Wien retour von Ruth Beckermann

Franz West: Kommunist, Jude

Mit Wien retour wendete sich Beckermann der Vergangenheit zu. In Franz West fand sie einen Protagonisten für ihren Film, der sowohl über die Geschichte der Linken als auch über die Geschichte der Juden in Österreich berichten konnten. Franz West (ursprünglich: Franz Weintraub) war eine bedeutende Figur der kommunistischen Bewegung in Österreich. West wurde 1909 als Sohn einer jüdischen Familie in Magdeburg geboren. Die Familie übersiedelte jedoch 1924 nach Wien, wo sie in den Folgejahren im jüdisch geprägten zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, lebte. Bereits in der Schulzeit schloss er sich dem Verband Sozialistischer Mittelschüler (VSM) an. Während seines Jusstudiums (1928–1933) war er im Verband Sozialistischer Studentinnen und Studenten Österreichs (VSStÖ) aktiv, konnte jedoch aufgrund seines politischen Engagements sein Studium nicht abschließen und wurde des Landes verwiesen. Als illegaler Funktionär der verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) arbeitete er im Untergrund weiter. Erst als der austro-faschistische Ständestaat von den Nationalsozialisten übernommen wurde, emigrierte er kurz vor dem Anschluss Österreichs nach England. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Österreich, wo er unter anderem als langjähriger Parteifunktionär der KPÖ und als Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung Volksstimme tätig war.

Eine faszinierende Biographie, der sich Beckermann über die eingangs beschriebene Zugfahrt annähert. Nach der Ankunft des Zugs am Bahnhof Praterstern und dem einführenden Kommentar von Paola Loew, der mit der Einblendung historischer Fotografien unterlegt ist, springt die Kamera zur Prater Hauptallee, einer von Bäumen gesäumten Flaniermeile im städtischen Naherholungsgebiets Wiens. Dort tritt Franz West das erste Mal vor Beckermanns Kamera. Er erzählt, zwischen Joggern und Spazierenden, von den Naziaufmärschen Mitte der 30er Jahre an diesem Ort. Nach einer weiteren überleitenden Passage, in der Archivmaterialien gezeigt werden, verlagert sich der Film in Franz Wests Büro. Im weiteren Verlauf des Films beschreibt West das Leben in der Leopoldstadt zwischen 1924 und 1934.

Wien retour von Ruth Beckermann

Biographie einer Nation

West ist ein Stellvertreter. Zwar erzählt er aus einer subjektiven Perspektive von seinen Erlebnissen, es gelingt ihm jedoch von seinem eigenen Schicksal zu abstrahieren, über seine eigene Biographie die Geschichte des ganzen Viertels zu erzählen. Wien retour ist eine historische Quelle im Sinne der Oral History, ein Talking-Head-Dokumentarfilm über eine historische Epoche in der Geschichte Wiens und Österreichs und gleichzeitig viel mehr als das. Seine Stimme ist die eines jüdischen Wiener Intellektuellen, mit einer Sprachfärbung, die in der Zwischenkriegszeit kultiviert worden war und mit der jüdischen Kultur des Stadtteils unterging. Heute gibt es niemanden mehr, der so spricht wie Franz West. Zugleich ist er ein meisterhafter Geschichtenerzähler, der bildmächtig das jüdische Leben in der Leopoldstadt der Zwischenkriegszeit beschreibt, das politische Klima im „Roten Wien“, das Erstarken faschistischer Kräfte und die Unterdrückung sozialistischer und demokratischer Kräfte. So übersteigt die audiovisuelle Aufzeichnung seiner Biographie den Rahmen eines historischen Dokuments. Was Stefan Zweig Jahrzehnte vor ihm mit Die Welt von Gestern in Buchform leistete, gelingt Beckermann und West mit Wien retour: eine brillante Studie über die österreichische Seele als Nacherzählung des eigenen Lebens.

Christa Blümlinger beschrieb Wien retour treffend als ein „Porträt über einen jüdischen Wiener Kommunisten, in dessen Biographie sich die Katastrophen und Widersprüche des vergangenen Jahrhunderts eingeschrieben haben.“ Der Film ist in dieser Hinsicht ein paradigmatisches Werk in der Filmographie Beckermanns. Er ist der Scheitelpunkt, an dem ihr Interesse für filmische Gestaltung, ihre politisch-aktivistischen Ziele zu überschatten beginnt. Auch thematisch steht der Film zwischen den politischen Reportagen der späten 70er und frühen 80er und den Essayfilmen, die kommen sollten. Beckermann selbst beschreibt Wien retour als den letzten ihrer Filme, der entstand, bevor sie ihren persönlichen Filmstil gefunden hat, und den sie dementsprechend heute ganz anders machen würde. Trotz dieser Selbstkritik ist Wien retour aufgrund seiner Materialfülle und nicht zuletzt wegen seines faszinierenden Protagonisten eines der Hauptwerke in Beckermanns Œuvre.

Dossier Beckermann: Rote Fäden (Those who go those who stay)

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Wo soll man bloß anfangen?

Mit Those who go those who stay zieht Ruth Beckermann nach über dreißig Jahren des Filmemachens in vielerlei Hinsicht Zwischenbilanz. Ein solches Resümee, so könnte man meinen, fasst lose Enden zusammen, ergänzt bisher Nicht-Erzähltes oder Nicht-Gezeigtes, gibt Auskunft über Motivationen für das Filmemachen, schließt ein Kapitel, einen Lebensabschnitt ab. Those who go those who stay ist da anders: das Unabgeschlossene Beckermanns früherer Filme findet hier keinen Abschluss, sondern eine Fortsetzung, kein Gedanken daran verschwendet die mannigfaltigen Themen und Motive ihrer vorherigen Arbeiten in einem letzten Kraftakt zu einem Gesamtkunstwerk abzurunden. Nein, diese Zwischenbilanz ist widerständig. Sie lässt trotzdem deutlicher werden, was Beckermann in ihrem Filmschaffen antreibt. Im Kern geht es nämlich darum, einen Film nicht als endgültiges, unumstößliches Urteil zu verstehen, sondern um eine Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen der Welt. Those who go those who stay ist folgerichtig keine Zusammenfassung einer spezifischen Position, sondern ein Angebot noch einmal Bilder und Töne der Welt zu sichten und zu hören, die bisher eine wichtige Rolle in Beckermanns Werk gespielt haben. Ein roter Faden ergibt sich nicht aus der Zusammenführung verschiedener motivischer Stränge, sondern aus der Verdichtung parallellaufender roter Fäden, die sich mal deutlicher, mal weniger deutlich durch ihr Werk zogen.

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Assoziative Sprünge durch Raum und Zeit

Die Schwerpunktsetzung lagert Beckermann dabei auf das Publikum aus und geht dabei noch radikaler vor als sie das in ihren früheren Filmen getan hat. Kaum etwas verbindet die kurzen, oft jäh abbrechenden Episoden, die Beckermann zu diesem Film zusammengesetzt hat, außer einem Willen zur Assoziation und vor allem zur Neugier. Welche Orte sind das, die sie bereist: ist das Wien? Paris? Israel? Czernowitz? Italien? Welche Menschen sind das, mit denen Beckermann spricht: ist das ihre Mutter? Freunde? Feinde? Flüchtlinge? Was „erzählt“ ein Film, der so wild durch Raum und Zeit springt: ein Krankenhausbesuch bei der Mutter; dann ein Gespräch mit Matthias Zwilling, einem der letzten Juden in Czernowitz (wo Beckermanns Vater geboren ist); dann wieder ein Besuch einer FPÖ-Veranstaltung am Wiener Stephansplatz; zwischendurch Aufnahmen aus Israel; gegen Ende afrikanische Flüchtlinge in Süditalien – einige Jahre bevor neue Kriege und neues Leid Europa einen Flüchtlingsstrom bescherte, der verheerende politische Kurzschlussreaktionen auslöste.

Mögliche Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Vignetten lassen sich mühelos herstellen. Die Volkstümelei der FPÖ trifft auf die weit entfernte Not abgekämpfter Flüchtlinge, deren Fluchtroute sich zu weiten Teilen mit jener der Mutter deckt, als sie 1938 Wien verlassen musste. Sie floh freilich in die andere Richtung: Nach Israel, dem „Land der einzigen Möglichkeit“, zu dem Beckermann – und viele andere, die dieses Land nicht primär als theologische Konstante verstehen – ein schwieriges Verhältnis hat. Verbindungen über Verbindungen, Querverbindungen über Querverbindungen. Es hilft natürlich, wenn man über ein gewisses Vorwissen besitzt, wenn man Those who go those who stay sieht. Dann lässt sich Beckermanns Verhältnis zu den Menschen und zu den Orten im Film besser ausloten und verstehen. Tatsächlich ist ein solches Vorwissen aber nicht zwingend notwendig. Es war der erste Film von Beckermann, den ich überhaupt gesehen habe und er funktionierte auch ohne viel Verständnis für die persönliche Beziehung der Filmemacherin zu den Sujets ihres Films, denn die Fragen, die der Film verhandelt sind universal, die Gespräche und Gesprächsfragmente geben genug Information, um sich selbst einen Reim zu machen.

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Teppich der Erfahrungen

Darin liegt eine Qualität von Beckermanns Filmschaffen: im freien Changieren zwischen Individualität und Universalität. So wie es Franz West in Wien retour gelingt aus seinem eigenen Schicksal auf das Schicksal der österreichischen (und europäischen) Juden zu abstrahieren, so gelingt es Beckermann in ihren Filmen aus einer biographischen Erzählung, über die Existenz und Identität eines ganzen Volks zu reflektieren. Those who go those who stay macht evident, dass eine solche Reflektion nicht über einen philosophischen Kommentar stattfinden muss, der erklärt, wie all diese Bilder und Töne zusammenhängen; und auch nicht über kathartische Momente oder andere Versuche Emotionen zu konstruieren. Die Zusammenhänge stellen sich dann her, wenn die Bilder und Töne aufeinandertreffen – und auf den Erfahrungshorizont des Publikums. Beckermann tritt mit Kamera und Tonaufnahmegerät den Menschen und der Welt gegenüber und breitet einen Teppich aus Fragmenten aus. Ein wirrer, löchriger Teppich ist das, ein Teppich, an den man herantreten muss, an dessen Vervollständigung man selbst arbeiten muss.

Wo soll man bloß aufhören?

Dossier Beckermann: Aufgeschrieben (Unzugehörig, Die Mazzesinsel)

Ein flüchtiger Zug nach dem Orient von Ruth Beckermann

Zum Filmemachen kam Ruth Beckermann erst relativ spät. Sie studierte zunächst Publizistik, Kunstgeschichte und Fotografie. Während ihrer Studienzeit an der School of Visual Arts in New York entstanden erste 8mm-Filme, im Zuge der Arena-Besetzung 1977 dann mit Arena besetzt! eine im Kollektiv entstandene Video-Dokumentation der Ereignisse. Nach einigen Reportagen über Arbeiterstreiks Ende der 70er, Anfang der 80er folgte 1983 mit Wien retour Beckermanns erster Langfilm. Wien retour stellt in mehrerlei Hinsicht ein Schlüsselwerk in Beckermanns Entwicklung dar: einerseits findet sie darin die Ansätze einer Poetik von Bild und Ton, die nicht mehr notwendig verknüpft sind, andererseits stellt der Film den Beginn der Hinwendung zum jüdischen Leben und der jüdischen Kultur in Österreich dar.

In den 80er Jahren erschien mit Die papierene Brücke nur noch ein weiterer Film von Beckermann. Dafür war sie zu dieser Zeit publizistisch sehr umtriebig. Aus der Beschäftigung mit der Zwischenkriegszeit und der jüdischen Gemeinde Wiens für Wien retour entstand ein Sammelband aus historischen Fotografien und Texten zur Wiener Leopoldstadt (Die Mazzesinsel, 1984) und als Abrechnung zur Waldheim-Affäre Beckermanns große Bestandsaufnahme des jüdischen Nachkriegswiens und der Generation der Nachgeborenen (Unzugehörig, 1989).

Wien retour von Ruth Beckermann

Wien retour von Ruth Beckermann

Es war einmal

Die Mazzesinsel lässt sich recht nahtlos in Beckermanns Œuvre einfügen, nicht nur, weil das Buch mit seinem Schwerpunkt auf die jüdische Vergangenheit Wiens Filmen wie Wien retour, Die papierene Brücke oder Homemad(e) thematisch nahesteht, sondern aufgrund seines formalen Zugangs. Der Band versammelt eine Reihe von Texten jüdischer Autoren mit Wienbezug, darunter autobiographische Erfahrungsberichte, journalistische Reportagen und Liedtexte, sowie historische Fotografien, die das Alltagsleben und wichtige kulturelle Zentren in der Leopoldstadt zeigen. Die Leopoldstadt, der zweite Wiener Gemeindebezirk, war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1938 das Zentrum jüdischen Lebens in Wien. Dort lebten 60.000 der rund 180.000 Juden Wiens – das war rund die Hälfte der Bevölkerung des Bezirks. Der umgangssprachliche Name für den Stadtteil, „Mazzesinsel“, gibt dem Buch seinen Titel.

Die Fotografien und literarischen Beschreibungen zeugen von einer besonderen Welt, die „anders gewesen sein [muss] als das übrige Wien und doch so sehr ein Teil dieser Stadt, dass sie schon nichts Exotisches mehr war.“ Nicht ohne Nostalgie schreibt Beckermann in ihrem einführenden Essay über diese Zeit und die besondere kulturelle und gesellschaftliche Sphäre in diesem Bezirk. Es ist aber keine Nostalgie für ein unwiederbringliches Gestern, sondern für eine potenzielle Gegenwart, die es nie geben wird, weil sie durch die Vernichtungspolitik der Nazis geraubt wurde. Ein Stadtteil, eine Kultur, ein Volk und sogar die Erinnerung wurden zerstört.

In diesem Licht betrachtet, stellt Die Mazzesinsel den Versuch dar, die spärlichen Erinnerungen zu sammeln und zu bündeln, aus Fotografien, Liedern, Kindheitserinnerungen, Alltagsbeschreibungen das Stimmungsbild eines Vorher zu zeichnen; eine Rückführung der gestohlenen Erinnerungen.

Es ist immer noch

Unzugehörig ist ein unvergleichlich wütenderes Buch. Eine Abrechnung mit der Verlogenheit der österreichischen Innen- und Außendarstellung in der Zeit nach 1945. Beckermann verfasste das Buch 1988, zu einer Zeit als die politische Stimmung in Österreich aufgrund der Affäre um die NS-Vergangenheit des Bundespräsidenten und früheren UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim aufgeladen war. Das politische Brodeln im Land spürt man beim Lesen des Buchs sehr deutlich. Ende der 80er Jahre war die Aufarbeitung der Nazizeit in Österreich, anders als in Deutschland, noch kaum vorangeschritten. Man beschränkte sich auf die offizielle Darstellung Österreichs als erstes Opfer Nazideutschlands und trotz der höchsten Dichte an NSDAP-Mitgliedern im gesamten Gebiet des Deutschen Reichs, blieb ein gesellschaftlicher Umbruch aus.

Beckermann erzählt aus der Perspektive eines Mitglieds des stark geschrumpften jüdischen Bevölkerungsteils und als Vertreter der zweiten Generation, als Nachgeborene, die die Entscheidung ihrer Eltern sich in Wien niederzulassen hinterfragt. „Jüdische Kinder im Wien der fünfziger Jahre. Jedes Kind ein Wunder“, schreibt sie über ein Foto, das bei der Feier zu ihrem dritten Geburtstag aufgenommen wurde. „Wunderlicherweise“, schreibt sie später, sei sie hier geboren und aufgewachsen, ständig antisemitischen Schikanen ausgesetzt, während sich das offizielle Österreich so sehr in der Opferrolle gefiel, dass Aufarbeitung nicht als notwendig angesehen wurde.

Unzugehörig ist eine Anklage an einen Staat, der seine historische Verantwortung nie wahrhaben wollte, an eine Gesellschaft, die sich nie entnazifiziert hat, an die jüdische Gemeinde, die immer stumm und staatstreu geblieben ist, um ja nicht unangenehm aufzufallen. Das Buch ist der Versuch eines Ausbruchs aus dem Schattendasein, ein Kampf um Sichtbarkeit, um eine Gegenöffentlichkeit – und damit gar nicht einmal so weit entfernt von den politisch motivierten Bestrebungen der Filmreportagen und des Filmladen-Verleihs, an denen Beckermann noch wenige Jahre zuvor beteiligt war, damals noch aus dem Geist des politischen Aktivismus

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Immerhin, durch die Waldheim-Affäre und das Interesse der zweiten Generation am Trauma ihrer Eltern hat auch in Österreich die historische Aufarbeitung der NS-Zeit Fahrt aufgenommen. Es gibt auch von offizieller Seite ein klareres Bekenntnis zur Entschädigung von Opfern und zur Restitution von Raubgütern, die Opferrolle ist nicht mehr Staatsdoktrin. Auf der anderen Seite hat der Aufstieg der FPÖ den offenen Antisemitismus und Rassismus salonfähiger gemacht als je zuvor in der Zweiten Republik. Unzugehörig mag eine historische Zeitkapsel sein, aber die Erfahrung, die Stimmung und die Gefahren, die Beckermann darin beschreibt, haben nichts an Aktualität verloren.

Postkarten aus dem Off: Chris Marker auf DocAlliance

Lettre de Sibérie von Chris Marker

Zum 50. Geburtstag der Viennale hat Chris Marker 2012 den Festival-Trailer gestaltet. Diese rund 100 Sekunden hat man als passionierter Viennale-Besucher sicher einige dutzend Male gesehen; zudem ist Kino (so der Name des Trailers) im Internet frei zugänglich, um ihn sich wieder und wieder ansehen. Das habe ich getan, als Einstieg für meine Beschäftigung mit Marker und es ist verblüffend, wie viele lose Enden und potentielle Anknüpfungspunkte in diesem kurzen Trailer stecken. Wenn man sich durch Markers Oeuvre bewegt (und darüber nachdenkt/schreibt), lohnt es sich immer wieder darauf zurückzukommen.

Kino ist zugleich ein kleiner, persönlicher Rundgang durch die Filmgeschichte, eine mediale Spielerei, eine Übung in Non-Konformität, eine Karikatur und eine politische Attacke. Marker begibt sich auf die Suche nach dem idealen Zuschauer und findet Mitstreiter in Georges Méliès, D.W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard. Recht krude animierte Bildcollagen zeichnen die Entwicklung der Kinotechnik und der Rezeptionsweise von Filmen nach. Am Ende findet Marker (und das Kino) seinen perfekten Zuseher in Osama Bin Laden, der auf einem Fernseher Tom & Jerry-Cartoons schaut. Eine einigermaßen irritierende Abhandlung der Filmgeschichte findet ihren Abschluss in einer etwas platten Spitze gegen den amerikanischen Imperialismus.

Kino ist

Ich kann nicht so recht festmachen weshalb, aber immer wieder zieht es mich zu diesem Trailer zurück, wenn ich über Marker nachdenke. Vielleicht, weil Kino ein geradezu exemplarisches Werk in Markers Filmographie ist, genauer in einer Reihe von kleineren Arbeiten, die ich liebevoll als Kleinode bezeichnen würde. Mal irritieren sie, mal faszinieren sie, mal können sie einen nicht so recht überzeugen, aber auf jeden Fall füllen sie den filmischen Kosmos Markers mit Leben. Es sind kleine Eindrücke der Welt, die Marker sammelt (in dieser Hinsicht ist er seiner Freundin Agnès Varda nicht unähnlich): der angeschwemmte Müll in der kalifornischen Bay Area in Junkopia, die Vision der Gewerkschaft der Zukunft in 2084, die eigenwillige Konfrontation von politischem Protest und Katzengraffitis in Chats perchés; man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen, wenn man tiefer in diese Filmographie eintaucht.

Diese kleineren Werke, oft nur wenige Minuten lang dienen als Brücken, als Staffage zwischen den großen Antipoden politischen Filmemachens, die Marker einen vorderen Rang im Pantheon des Autorenkinos eingebracht haben. Manchmal scheint es mir, dass diese kleinen Übergangswerke, dieses filmische Füllmaterial eine Art Schlüssel darstellt, um den roten Faden in Markers Gesamtwerk zu erkennen. Während er in seinem (je nach Version) zweieinhalb- oder dreistündigen Film Le joli mai ein Stimmungsbild von Paris (und eigentlich von ganz Frankreich) im Mai 1962 zeichnen will, oder im (je nach Version) drei- oder vierstündigen Le fond de l’air est rouge eine ganzheitliche Erklärung der Linken Internationalen im Sinn hat, oder in seiner Fernsehserie L’Héritage de la chouette nichts weniger als die Aufarbeitung der gesamten Aufarbeitung der abendländischen Philosophiegeschichte anstrebt, sind seine kürzeren Werke kleinteiliger organisiert. Es sind kleinere Episoden, Fundstücke der Reisebewegungen, die Marker für seine Filme rund um die Welt geführt haben, oftmals in humorvollem Ton erzählt und mit allerlei Absurditäten versetzt.

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Gruß aus Sibirien

Markers Filme anzusehen, fühlt sich ein wenig an, wie mit ihm auf Reisen zu gehen. Diese Reisen führen direkt vor die Haustüre (Le joli mai), in fremde Länder (Dimanche à Pékin) oder durch die Zeit (La jetée). Die Online-Retrospektive zu Chris Marker von DocAlliance bietet im Moment Gelegenheit eine solche Reise zu starten.

Ein möglicher Ausgangspunkt dafür ist Lettre de Sibérie, ein filmischer Reisebericht aus dem sowjetischen Sibirien. Es beginnt mit Landschaftsaufnahmen der eisigen Weiten, dazu meldet sich eine Stimme aus dem Off zu Wort. Was zunächst eine trockene ethnografische Studie erwarten lässt, kippt schon bald in ein absurdes Kuriositätenkabinett. Marker schildert die aussichtslosen Versuche der zivilisatorischen Expansion der Sowjets in die unwirtliche Natur. Mit ironischem Ton erzählt der Film vom müßigen Ankämpfen gegen die klimatischen Bedingungen und zeigt die charmant-schrulligen Auswüchse des sibirischen Frontier-Lebens: ein zahmer Bär wird an der Leine durch die Stadt geführt; Nomadenstämmen werden feste Wohnorte zugeordnet, an denen sie sich jahrelang nicht blicken lassen; dem Rentier, Alleskönner der subpolaren Zone, werden Loblieder gesungen.

Marker bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Faszination für das Exotische und paternalistischem Belächeln, zwischen Sympathie für kommunistische Ideen und der Erkenntnis, dass sie nur schleppend umgesetzt werden, zwischen sorgfältig recherchierter Reportage und satirischer Ethnografen-Parodie. Obwohl die Bilder und der Kommentar von einer Zuneigung für diese Orte und die Menschen zeugen, bleibt der Film nicht kritiklos. Obwohl diese Kritik oft in komödiantischer Form vorgebracht wird, ist sie nicht frei von politischer Bissigkeit. Das gibt dem Film eine Ambivalenz, die weit über oberflächliche politische Satire hinausgeht, da letztendlich immer der Respekt für das Sujet spürbar bleibt und der Film seine eigene manipulative Kraft selbst zum Thema macht: in einer berühmten Sequenz wird die gleiche Sequenz dreimal mit unterschiedlichen Kommentaren wiederholt.

Man könnte sagen, Markers Reisefilme wie Lettre de Sibérie, Dimanche à Pékin oder Description d’un combat gipfeln in Sans soleil, wo nicht mehr die Reise zum Film wird, sondern der Film die Reise ist, eine physische Reise rund um den Erdball und zugleich eine gedankliche Reise durch die Ideenwelt von Chris Marker.

Das Spiel, ein Leben

Weniger buchstäblich ist „Reise“ in Level Five zu verstehen. In einem Dialog zwischen der Protagonistin Laura (Catherine Belkhodja) und Markers Voice-over-Kommentar wird die Schlacht von Okinawa aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Der Film folgt dabei lose der Dramaturgie des imaginären Videospiels, an dem Laura arbeitet. Das Spiel muss unvollendet bleiben, weil der Computer, die Rechenmaschine, das ultimativ Rationale keinen Eingriff in die Geschichte zulässt. Die amerikanischen und japanischen Truppen lassen sich nicht einfach hin- und herschieben, der Verlauf der Geschichte darf nicht verändert werden.

Die Vorgehensweise des Films präzise zu beschreiben fällt schwer. Denn die Spiele-Metapher kreuzt sich mit Archivaufnahmen, kruden Animationen, Interviews und reportageartigen Bildern des Okinawa von heute. Das Spielemenü dient schließlich nur mehr als Kapitelmarke, als Skelett, an dem sich die verschiedenen audiovisuellen Materialien festklammern. Level Five hat vieles, was den meisten Arbeiten aus dem Bereich der artistic research fehlt: der Film ist eine Aufforderung an sein Publikum die Materialien mental selbst zu montieren, gibt aber zugleich unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Im Zwiegespräch von Markers Kommentar und Lauras Monologen entsteht daraus eine selbstreflektierte Kritik am eigenen Material. Level Five vermittelt ohne zu schulmeistern, konfrontiert Bilder mit Bildern, Töne mit Tönen und Bilder mit Tönen, initiiert ein Versteckspiel der Bedeutung, so wie Markers gesamte Karriere ein Versteckspiel (hinter Katzen und Eulen) ist.

Germaine Dulac. Filmemacherin

„Wie alle, dachte auch ich, dass die Werke der Leinwand sich der Entwicklung einer Handlung, eines Gefühls widmen müssten und dies eben durch das Trugbild der Aufnahme des unmittelbaren oder inszenierten Lebens, der menschlichen Gestalt in ihrer Einzigartigkeit oder ihrer Vielfalt; dass ihre affektiven Eigenschaften von der entsprechend ausgesuchten Zusammenstellung bewegter Bilder herrühren sollten, deren ursprüngliche und fortgesetzte Beweglichkeit zu einem mehr verständnismäßigen als sinnlichen Ergebnis beiträgt.(…) Aber bald wurde mir klar, dass der Ausdruckswert eines Gesichts weniger dem Charakter seiner Züge als der mathematisch messbaren Dauer der Reaktionen innewohnt, mit einem Wort, dass ein Muskel, der sich entspannt oder unter dem Eindruck eines Schocks verkrampft, seine volle Bedeutung nur durch die kurze oder lange Dauer der ausgeführten Bewegung erreicht.“ (Germaine Dulac, aus Von der Empfindung zur Linie)

Zum ersten Mal begegnet bin ich Germaine Dulac in ihrer Abwesenheit – und das ist womöglich kein Widerspruch, schließlich ist ihre Geschichte auch eine Geschichte des Verdrängtwerdens – in Jean-Luc Godards brillanten Film Deux fois cinquante ans de cinéma français. Dort kritisiert der Filmemacher die offiziellen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Kinojubiläum in Frankreich und zeigt, was vergessen wurde von den Veranstaltern, das was laut Godard tatsächlich der Beitrag des französischen Kinos zur Filmgeschichte sei: Die Schreiber und Theoretiker, jene, die dem Kino einen Namen gaben. Seine Kinogeschichte reicht von Diderot über Epstein, Malraux, Bazin, Rivette, Duras bis zu Serge Daney. Dulac lässt er aus. Ein Übersehen, denn sie ist eine große Theoretikerin, die beständig auf der Suche dessen war, was man mit dem Kino anfangen kann, dessen, was das Kino jenseits seiner vom Theater und der Literatur übernommenen Elemente vom Leben zeigen kann. Dabei legt sie einen Grundstock für das Denken einer ganzen Filmkultur und arbeitet als Vorreitern im Bezug zur sogenannten Film-Avantgarde, die sie mit einem Begriff wie „integraler Film“ umschreibt. Ihr Schreiben, das in einem schönen Heft bei Synema nun ins Deutsche übersetzt wurde und ihr Filmemachen, das zu Beginn des Monats im Filmarchiv Austria begutachtet wurde, stehen in einem engen Dialog. Ihr Kino setzt sich zusammen aus Gedanken und Gefühlen, die mehr betreffen, als persönliche Empfindungen, sondern immer auf der kompletten Tastatur des Kinos spielen wollen: Die Industrie und die Bewegung (Musikalität), das Fiktionale (Traumhafte) und Dokumentarische.

Verlockungen

Thèmes et variations;  © Light Cone

Thèmes et variations; © Light Cone

Häufig setzen sich ihre Filme einer Verlockung aus: Das Hinfort-Treiben, hinaus aus der diegetischen Realität, hinein in andere Zustände, in denen ein anderes Leben möglich ist. Darin liegt natürlich ein politischer, feministischer Gestus, aber auch das Potenzial des Kinos: Die Reise, in das, was man sich wünscht. Einer von Dulacs besten Filmen heißt nicht umsonst L’invitation au voyage. Es geht um Traumhaftes und Begehren in einer an Kenneth Anger oder David Lynch erinnernden Bar mit dem titelgebenden Namen, deren Wände den Himmel offenbaren. Angesiedelt zwischen einem eleganten Klassizismus und einem dekadenten Lusttrieb einfacher Motivationen verwandelt sich die Bar und mit ihr die Protagonistin in eine zwischen Hingabe und Zweifeln oszillierende Nacht. Es zittert dort, wo die Männer in feinen Anzügen kommen, mit ihrem Von-Stroheim-Lächeln und den glasklaren Augen. Sie nehmen die Frauen an den Hüften und träumen sie hinfort, nicht an einen realen Ort, sondern zum Mond. Anhand solcher Beschreibungen merkt man bereits, dass Dulacs Kino oft eine Frage der Sinnlichkeit ist. Sie strebt nach einfachen Handlungen und Psychologien, die sich oft aus bürgerlichen Fassaden zusammensetzen und entwickelt aus diesen wankende, hochkomplexe Bilder.

Das gilt auch für ihre industrielleren Filme wie La cigarette, in dem ähnlich ihres La souriante Madame Beudet ein komödiantischer, bitterböser Suspensemoment gewonnen wird, weil man weiß, dass eine Pistole oder Zigarette lebensgefährlich sein könnte, das aber nicht unbedingt für die Figuren gilt. La souriante Madame Beudet gilt bei Schubladendenkern als der erste feministische Film der Geschichte. Basierend auf Guy de Maupassant geht es um eine Frau, die in den Netzen einer langweiligen Heirat gefangen ist. Das gilt für viele Dulac-Protagonistinnen. Es soll ein Anschein gewahrt werden und daraus entsteht ein doppelter Boden, der in diesem Film mit wundersam leuchtenden Tränen überbrückt wird, die gegen das sonnige Lächeln des Titels arbeiten. Hinter den Fassaden bürgerlicher Existenzen oder den Gefängnissen der Ehe lauern weniger Geheimnisse und Schmutzeleien wie bei vielen von Dulacs Zeitgenossen, sondern schlicht und ungreifbar Träume. Diese inszeniert sie mit einem Hang zum Fiebrigen, in Bildern die gleich Apichatpong Weerasethakuls Traumzuständen wie ein Echo in der Wahrnehmung hallen, so dass man bisweilen zu spät bemerkt, dass man eigentlich träumt und zu früh träumt, dass man wach ist. Diese durch das Kino evozierte Unsicherheit gegenüber Wachzuständen und Aggregaten des Realen vermag sie sowohl ganz narrativ wie in ihrem Princesse Mandane oder Le diable dans la ville als auch mit formaler Präzision wie in ihrem Âme d’artiste umsetzen.

Blicke

La Coquille et le Clergyman; © Light Cone

La Coquille et le Clergyman

In Dulacs Kino regt sich eine Bewusstsein für die Fähigkeit des Kinos, uns an andere Orte zu bringen. Das meint sie nicht als Ausgangspunkt für das Kino per se, es geht also nicht darum, dass ihre Filme im Stil von James Bond um die ganze Welt führen und uns zwangsläufig Existenzen zeigen, von denen wir nur träumen können. Nein, diese Fähigkeit schält sich nach und nach aus den Bildern und Geschichten, weil die Fantasien und Sehnsüchte der Protagonisten in filmischer Form manifestiert werden können. Eine andere Welt, eine Utopie muss kein schemenhafter Gedanke bleiben, sondern wird bildlich festgehalten und darf vor den Augen der Zuseher leben. Dulac verwendet für dieses Gleiten in andere Zustände ein enormes Spektrum filmischer Gestaltungsmittel von Cache-Effekten, Zeitlupen, über Doppelbelichtungen oder Überblendungen. Dabei vergisst sie nie auf die Ambivalenz der eigenen Illusion und Flüchtigkeit hinzuweisen. Oftmals mit erstaunlicher Trockenheit wie am Ende von Princesse Mandane.

Ein Blick trifft bei ihr weniger auf einen anderen Blick. Dieses Prinzip kinematographischer Wirkkraft, das von so unterschiedlichen Filmemachern wie Sergei Eisenstein, Robert Bresson oder Sharunas Bartas erforscht wurde, hebelt Dulac aus. Sie montiert nicht aufgrund des Sehens und Gesehen-Werdens, sondern ein Blick führt bei ihr oft in eine Imagination oder Erinnerung. Es gibt also einen Dialog zwischen der diegetischen Jetzt-Zeit und dem diegetischen Anderswo. Da liegt es nicht fern, dass Dulac oft mit motivischen Analogien arbeitet, die in ihrem Thèmes et variations am eindrücklichsten zur Geltung kommen, wenn erst Maschinen und schließlich Pflanzen mit Bewegungen einer Tänzerin in Verbindung gebracht werden. Diese Form der Montage erinnert an das sowjetische Kino jener Zeit, allerdings sind die politischen Implikationen – mit Ausnahme ihres Propagandafilms für die Volksfrontbewegung Le Retour à la vie – deutlich behutsamer und subtiler. Sie sind auch nicht unbedingt selbsterklärend, denn so ganz will sie nicht erschließen, warum die Maschinen und die Tänzerin sich genauso ähneln wie die Pflanzen und die Tänzerin. Man könnte eine allgemeinere Idee von Wachstum und Tanz vorbringen, aber das Ganze arbeitet eher als Sensation, denn als Argument. Oft geht es darum, einen Rhythmus zu sehen in den Bewegungen der Welt. Es ist keine Überraschung, dass Dulac nicht nur Tänzerinnen filmte, sondern versuchte sich der Musik selbst anzunähern, sei es Debussy, Chopin oder Fréhel. Die Musik, die das Kino ist. Die Hauptrolle in vielen Filmen von Dulac spielt die Bewegung selbst. In diesen Gedanken, die fast notgedrungen zu Überlegungen für ein abstraktes Kino führen, trifft sich bei Dulac aber weniger die formale Strenge eines Peter Kubelka oder auch (in manchen Fällen) Gregory Markopoulos, sondern ein deutlich freieres Gefühl. Man könnte Bruce Baillie als Vergleich bemühen.

Realismus

Princesse Mandane © Cineteca di Bologna

Princesse Mandane © Cineteca di Bologna

Nur schwer kommt man um den Vergleich mit Jean Epstein herum. Nicht nur wegen des geteilten Enthusiasmus für das junge Medium, der Gleichzeitigkeit von Schreiben und Drehen, sondern auch aufgrund einer späteren Hinwendung zum Dokumentarischen. Die Kuratorinnen Karola Gramann und Heide Schlüpmann erzählten im Filmarchiv, dass Epstein Dulac in seinen Gedanken des Kinos etwas unter den Teppich kehrte – wie viele. Mit Six et Demi, Onze zeigten sie einen Film von Epstein, der aufgrund der Hauptrolle, die eine Kodak-Kamera in ihm spielt, durchaus passend scheint für die Verbindung der beiden Filmemacher, die durch das Kino in eine neue Welt springen wollen. Nur Epstein hatte das formal deutlich interessanter und auch näher an Dulac in seinen späteren Werken wie Le Tempestaire unternommen. Ein Film, der auch seine Hinwendung ans Dokumentarische im Fiktionalen untermauert. Bei Dulac äußerte sich das vor allem in ihren „illustrierten Schallplatten“, die zu Beginn der Wende zum Tonfilm entstanden. In Filmen wie Autrefois…aujourd’hui, Celles qui s’en font oder Ceux qui ne s’en font pas bricht das Kino in eine dokumentarische Welt, die in spontanen Blicken musikalische Formen entdecken will. Es sind berührende Zeitdokumente, die in sich noch das Verlangen nach einer anderen Welt tragen, aber sie nicht mehr in glitzernden Kostümen, sondern in Bildern von der Straße finden. Es wirkt fast ein wenig so, als hätte Dulac zum Ende ihres Schaffens hin die Träume begraben und begriffen, dass das Kino in seinen Träumen tatsächlich den Menschen in seiner Zeit zeigen kann. Illusionslos wie im verzweifelten Ceux qui ne s’en font pas oder ganz sachlich wie in ihrem Wochenschau-Recut Le Cinéma aus service de l’histoire. Die Träume, aus denen die Figuren oftmals herausgeschmissen werden, sind ein Potenzial des Kinos, sie existieren aber immer in einem Dialog mit eines dokumentarischen Gestus. Nachträglich lässt sich das auch für ihre früheren Filme feststellen. Die Bar in L’invitation au voyage existiert zugleich als abstrakter Traumort und realer Ort in der Pariser Szene. So kann man Dulac am Ende tatsächlich in der französischen Schule des Realismus verorten. Sie sitzt dort irgendwo und träumt.

In La Coquille et le Clergyman träumt sie besonders laut. Es ist ihr berühmtester Film, weil es rund um die Surrealisten und Antonin Artaud einen Skandal gab. Man fühlte, dass Artauds Drehbuch betrogen worden wäre und dass die Träume hier nicht die gemeinsamen Träume wären. Vielleicht kann dazu Dulac selbst am besten Antworten: “Non pas un rêve, mais le monde des images lui-même entraînant l’esprit où il n’aurait jamais consenti à aller, le mécanisme en est à la portée de tous.” („Kein Traum, aber die Welt von Bildern selbst, die Gedanken an Orte bringen, wo sie niemals zugestimmt hätten zu landen, der Mechanismus ist für alle erreichbar.“).

„Der Film ist ein weit auf das Leben geöffnetes Auge, ein Auge, das mächtiger ist als das unsere, und das sieht, was wir nicht sehen.“ (Germaine Dulac, aus Das Wesen des Films: Die visuelle Idee)

Dossier Beckermann: Heimatsuche (Die papierene Brücke)

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

In manchen Fällen kann es aufschlussreich sein, Filme einem Umfeld auszusetzen, das ihnen nicht gerecht wird. Schlechte Sichtungsbedingungen können die Wahrnehmung derart beeinträchtigen, dass sich daraus neue Perspektiven auf einen Film ergeben. Das kann sehr produktiv sein. Ein Beispiel für so eine durch äußere Einflüsse verschobene Perspektive war ein rezentes Screening von Ruth Beckermanns Die papierene Brücke im Raum mit der vielleicht schlechtesten vorstellbaren Akustik. Er befindet sich ironischerweise im filmwissenschaftlichen Institut der FU Berlin, wo die Räumlichkeiten doch eigentlich dafür geeignet sein sollten audiovisuelles Material zu präsentieren. (Freilich ist das kein exklusives Problem dieses Instituts, denn die Seminarräume des TFM-Instituts in der Wiener Hofburg sind ähnlich schlecht für Filmvorführungen geeignet.)

Die Kombination aus unterirdisch schlechtem Ton-Setup, mittelmäßigen Boxen und mieser Akustik machte es beinahe unmöglich zu verstehen, was die Personen im Film sprachen. Da nur das Voice-Over einigermaßen zu verstehen war, blieb uns (einer Gruppe deutscher Muttersprachler) nichts Anderes übrig, als nach einiger Zeit die englischen Untertitel der DVD zu aktivieren, um den Erzählungen der Protagonisten folgen zu können.

Untertitel können den Klang und die Melodie der menschlichen Stimme jedoch nicht ersetzen. Eine Binsenweisheit, aber gerade im Fall von Die papierene Brücke, konnte man hören (oder eben: nicht hören), was durch die schlechte Tonqualität verloren ging. Dazu später mehr.

Eine Reise in die Erinnerung

Die papierene Brücke markiert einen Bruch im Filmschaffen Beckermanns. Waren ihre ersten Filme noch aus dem Geist der Arena-Bewegung als Form des politischen Aktivismus entstanden, so folgte mit Wien retour ein langsamer Übergang zu einem selbst- und formbewussteren Filmemachen. Nach einigen Jahren verstärkter publizistischer Tätigkeit hat Beckermann in Die papierene Brücke einen Stil entwickelt, den sie auch in ihren folgenden Filmen beibehalten sollte. Die stilistische Entwicklung lässt sich einerseits an einer Abkehr vom Reportagestil der früheren Filme festmachen (wenngleich das bereits zu großen Teilen auf Wien retour zutrifft) und andererseits an einer Wendung hin zum Persönlichen.

Mit Die papierene Brücke rückt die Familiengeschichte und die eigene Biographie ins Zentrum des Beckermann’schen Filmkosmos. Anders als noch in Wien retour, tritt Beckermann kraft ihrer Stimme nun selbst als Erzählerin auf. Zu Beginn des Films erzählt sie von ihrer Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg als U-Boot überlebte, indem sie sich stumm stellte und phasenweise obdachlos durch die Straßen streunte. Während Beckermann das erzählt, filmt sie mit ihrer Kamera aus einer Straßenbahn, die am Wiener Ring entlangfährt – der Auftakt für eine filmische Reisebewegung, die sie auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit führt.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Sie reist nach Osten, nach Czernowitz, an die ehemalige Ostgrenze des k.u.k.-Reichs, in die damalige Sowjetunion, in die heutige Westukraine, in die Geburtsstadt ihres Vaters Salo Beckermann. Sie sucht nach Bildern zu den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Verwandtschaft, ein aussichtsloses Unterfangen, denn die Erinnerung lässt sich schlicht nicht bebildern, und nur mühevoll mit der Realität konfrontieren.

Der Film lebt von dieser produktiven Differenz vom Damals, das Beckermann nur aus Erzählungen und Büchern kennt, und vom Heute, das die Kamera aufzeichnet. Die Vergangenheit manifestiert sich in Spuren, ist (noch) nicht ganz verschwunden, lebt vielleicht so lange, wie die wenigen alten Männer und Frauen der jüdischen Gemeinde von Czernowitz den Sabbat feiern – die Jungen sind nach Israel gezogen, um dort eine bessere Zukunft zu gestalten, eine Utopie, die heute bereits Geschichte geworden ist.

„Gibt es ein Ankommen, das nicht Ende heißt?“

Beckermanns Reise ist eine Reise ohne klares Ziel. Sie grast Czernowitz und die umliegenden Dörfer ab und kehrt dann wieder zurück. Sie überquert Grenzen, legt Distanzen zurück, die damals, als ein Eiserner Vorhang Europa durchteilte, unendlich größer waren, als heute. Die Reise ist das Ziel. Eine weitere Binsenweisheit, doch selten so treffend wie in Die papierene Brücke: die langen Fahrten mit dem Auto, die investigative Spurensuche, die Begegnungen mit den letzten Resten einer Vergangenheit, die prägend für Beckermanns Selbstverständnis, aber trotzdem nicht die eigene ist. Die Reise ist der Katalysator für die Reflektion, wo sie genau hingeht, und welche Etappen dabei absolviert werden ist dabei gar nicht so entscheidend.

Der Holocaust als einschneidendes Familienerlebnis, das von den Überlebenden und Nachkommen geteilt wird. Es lässt Beckermann nicht los. Sie fragt, weshalb so viele starben, und manche überlebten. Sie ist nicht die einzige die diese Frage stellt. Ihre Gesprächspartner, die sich zum Teil untereinander in Diskussionen verwickeln, scheitern ebenfalls an einer Erklärung. Ist es das, das oftmals proklamierte Nicht-Darstellbare am Holocaust? Die Frage nach dem Warum?

Jacques Rancière hat dazu geschrieben, dass das Problem der Darstellbarkeit der Katastrophe nicht, wie so gerne nach 1945 von Theoretikern, Intellektuellen und Philosophen verkündet, zur Ohnmacht führt, sondern dazu, dass neue Möglichkeiten der Formgebung entstehen. Rancière bezog sich dabei auf Claude Lanzmanns Shoah, doch Die papierene Brücke stützt sein Argument ebenfalls. Reportage, Essayfilm, Biographie, irgendwo zwischen journalistischem, politisch-motiviertem Willen zur Vermittlung und cinephil-geschultem Willen zur Kunst (in dieser Zeit war Chris Marker ihre wichtigste Referenz).

Die Stimme, ein Leben

Zurück zu dieser besonderen Sichtung mit ihren Tonproblemen. Beckermann besucht ein Filmset, wo österreichische Juden als Komparsen für eine US-Doku über ein Konzentrationslager eingesetzt werden. In den Drehpausen diskutieren sie energisch, werfen ihre jeweiligen Biographien und Familiengeschichten ins Gefecht. Alle sprechen deutsch, die Untertitel geben wieder, was nur schwer zu verstehen ist. Unter besseren Bedingungen würde man noch viel mehr hören, als Lebensgeschichten und Meinungen zu politischen und historischen Entwicklungen. Die Stimmen ergänzen das Gesagte. Da ist eine alte Frau, die mit einem starken englischen Akzent spricht. Sie diskutiert mit einer jüngeren Frau, die mit schwachem österreichischem Akzent spricht. An einem anderen Tisch streitet ein alter Wiener mit einem jüngeren Mann, der nur gebrochen Deutsch, mit jugoslawischem Akzent spricht. Was sie in den Gesprächen von sich preisgeben wird ergänzt durch den Klang ihrer Stimme.

Markante Sprachfärbungen spielen bei Beckermann immer wieder eine Rolle. Der Akzent des Vaters spielt im Film eine prominente Rolle, findet sich auch Adi Doft, dem letzten Tuchhändler der Marc-Aurel-Straße, in Homemad(e). Das Sprachpotpourri in Zorros Bar Mizwa muss hier ebenfalls Erwähnung finden: Sophie hat einen englischen Vater, Sharon georgische Eltern, Moishys Familie spricht mit der fast ausgestorbenen, typischen Sprachfärbung der Jüdischen Gemeinde von Wien – Beckermann hat diese Spielart des Wienerischen durch ihr langes Interview mit Franz West in Wien retour für die Nachwelt dokumentiert.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Immer wieder drehen sich Beckermanns Filme um Menschen, die ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer (Mutter-) Sprache haben. Die Auswanderer, die die deutsche Sprache vergessen wollen, um ihre bittere Vergangenheit zu vergessen. Neuankömmlinge in einem fremden Land (Sehnsuchtsland: Israel), wo das Gebrochene (Englisch, Deutsch, Russisch, Hebräisch) Landessprache ist. Diese Filme finden auch in den Nuancen dieser Sprachunterschiede statt, und wenn man das nicht hört, hat man den Film nur halb gesehen.

Zum Abschluss ein Satz in markant osteuropäisch-jiddisch gefärbten Deutsch: „Was soll ich in Israel machen?“ Salo Beckermann sagt diesen Satz gegen Ende des Films im Gespräch über seine Entscheidung nach dem Krieg in Wien zu bleiben. Aus dieser gewichtigen Entscheidung und der damit verknüpften Frage entsteht Beckermanns nächster Film Nach Jerusalem, wo sie dieses „Land der einzigen Möglichkeit“ filmisch vermisst und die Frage für sich beantworten möchte. Das größte Vermächtnis der Eltern, soviel wird klar, ist die Entscheidung für Wien. Wien ist Referenz-, Dreh- und Angelpunkt des (filmischen) Lebens von Ruth Beckermann. Jede Reise, die sie von dort wegführt – und das ist vielleicht entscheidender als Reiseziele, die es in ihren Filmen kaum gibt – ist letztlich rückgebunden an diesen Ort, von dem sie aufgebrochen ist, und den sie dadurch besser versteht, dass sie ihn für einige Zeit verlässt.