Rainer on the Road: Mit Tizian im Museum

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Wir befinden uns in einer aufregenden Zeit, vor allem was die Veränderungen der Kino- und Filmlandschaft betrifft. Abseits der obligatorischen Totsagungen wird innerhalb des filmischen Diskurses wild diskutiert: Wie soll man auf die Umstellung des Kinobetriebs von analog auf digital reagieren? Was machen mit den abertausenden Filmrollen in den Archiven, die nun kaum mehr gezeigt werden können? Wie lässt sich der Politik und der Öffentlichkeit klarmachen, dass es mit der Digitalisierung des Filmbestands nicht getan ist? Lassen sich Digitalisate überhaupt sinnvoll langzeitarchivieren? Welche Eingriffe sind bei der digitalen Restaurierung eines Films ethisch vertretbar? Was tun mit der unüberschaubaren Masse an Bewegtbildern, die tagtäglich von Smartphones und Digitalkameras aufgenommen und ins Netz gestellt werden (oder auf Festplatten schlummern)?

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Präsentation der Jungfrau im Tempel von Tizian

Fragen über Fragen also, denen allzu oft mit kaum mehr als halbgaren Ideen und Spekulationen gegenübergetreten wird. Die Filmwelt sieht sich einschneidenden Veränderungen gegenüber, denn anders als noch vor 15 oder 20 Jahren ist es heute nicht mehr so klar, was „Film“ überhaupt bedeutet. Was mich immer wieder erstaunt ist jedoch, wie sehr man sich im filmischen Diskurs in einer Ausnahmestellung wähnt, wie wenig man sich öffnet, um Erfahrungen anderer Disziplinen und Bereiche aufzunehmen und daran zu wachsen. Die digitale Wende betrifft, so viel ist klar, nicht nur das filmische Erbe und das Kino. Mehr noch, es gibt andere Bereiche, die ähnliche Umbrüche in den vergangenen Jahrhunderten schon in ähnlicher Form durchlebt (und überlebt) haben.

Es ist mir ein Rätsel, weshalb Filmarchivare und -kuratoren sich so selten an den Kustoden der Kunstmuseen und den Archivaren der naturwissenschaftlichen Sammlungen orientieren, die über Jahrhunderte Maßnahmenkataloge erarbeitet haben, wie mit ihren Werken angesichts eines wandelnden medialen Umfelds umgegangen werden soll. Ebenfalls erstaunlich, wie wenig man in Fragen der Werktreue, oder in kniffligen Konflikten, wie dem zwischen Original und Faksimile auf die Kunstgeschichte rekurriert.

Museum und Kirche

Eine lange Vorrede für einen Reisebericht aus Venedig. Vor rund 500 Jahren war die Lagunenstadt in Norditalien der Nabel der Kunstwelt. Die Venezianischen Meister der Renaissance zählen zu den höchstgepriesenen Künstlern der Geschichte. Ihre Werke haben sich in den letzten Jahrhunderten über den ganzen Erdball verstreut, doch ein Gutteil davon ist in der Stadt verblieben. Von diesem künstlerischen Erbe zeugt die absurd hohe Dichte an Kunstmuseen und Galerien, die in der Stadt zu finden sind, wie auch die unüberschaubare Masse an Kirchen.

Die Gallerie dell’Accademia (kurz: Accademia) ist Venedigs erste Anlaufstelle für Kunstliebhaber. Das Museum beherbergt die weltweite größte Sammlung venezianischer Malerei, darunter Werke namhafter Künstler wie Canaletto, Giovanni Bellini, Paolo Veronese, Jacopo Tintoretto oder Tizian. Der Kernbestand der Sammlung stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als für die Studenten der Kunstakademie eine Galerie geschaffen wurde. Die Bilder, die dafür notwendig waren, wurden zu großen Teilen aus aufgelassenen Kirchen und Klöstern entnommen. Bilder, die zuvor Altare schmückten, wurden auf kahle Steinmauern gehängt. Statt Buntglasfenstern und Kerzenschein sorgten von nun an großflächige Oberlichter für ausreichende Beleuchtung.

Heute mag es natürlich scheinen diese Werke in einem hohen, weißgestrichenen Museumsraum zu sehen, heute stört sich kaum jemand daran (vorausgesetzt Hängung und Lichtverhältnisse sind zufriedenstellend), dass diese Werke an einem solchen Platz eigentlich nicht heimisch sind. Man könnte sagen, die Fresken und Gemälde sind ihrem ursprünglichem „working system“ entnommen, sind approbiert worden und haben sich im Museumsraum neu etabliert. Jahrzehnte der Kunstbetrachtung in Galerien und Ausstellungsräumen haben uns daran gewöhnt Kunst auf diese Art und Weise wahrzunehmen. Regelmäßig brandet Kritik auf, dass der White Cube womöglich nicht die beste Form der Kunstpräsentation ist, aber niemand würde dagegen ernsthaft ins Feld führen, all diese Bilder wieder zurück in Kirchen oder Kloster zu hängen, um dort ihr künstlerisches Potenzial zur Entfaltung zu bringen.

Tizian bleibt Tizian

Sofern man sich in den gewundenen Gassen nicht verläuft, braucht man der Accademia rund zwanzig Minuten zur Santa Maria Gloriosa dei Frari (kurz Frari). Die Frari ist eine der größten gotischen Kirchen Venedigs und sticht selbst aus der Masse der prachtvollen Kirchen Venedigs heraus. Seit fast genau 500 Jahren, seit dem 19. April 1518 um genau zu sein, ist über dem Hochaltar der Frari Tizians monumentale Mariä Himmelfahrt angebracht (über hundert Jahre, von 1817 bis 1921 war das Gemälde jedoch in der Accademia ausgestellt). Neben diesem Hauptwerk Tizians finden sich auch Werke anderer venezianischer Meister wie Giovanni Bellini, Paolo Veneziano und Bartolomeo Vivarini in der Kirche. Obwohl Hängung und Lichtgebung in der Accademia vorbildlich sind, die Präsentation der Bilder dort mitdenkt, auf welche Weise diese Bilder ihre Betrachter adressieren, so bietet der direkte Kontrast zu den Bildern innerhalb des „working systems“ katholische Kirche einen Vergleich, was beide Formen der Kunstpräsentation voneinander unterscheidet. (Auch außerhalb sakraler Räumlichkeiten kann es natürlich solche „working systems“ geben. Ein Beispiel dafür ist das monumentale Wandgemälde im Dogenpalast, über das ich im Text zu meiner letzten Venedig-Reise vor zwei Jahren geschrieben habe.)

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig

Es geht mir ganz und gar nicht darum zu sagen, dass sich diese Art von Kunst nur in der sakralen Umgebung entfalten kann, für die sie konzipiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall: die Gemälde Tizians in der Accademia sind ebenso brillant wie die Gemälde Tizians in der Frari. Man sieht die Bilder in unterschiedlichen Kontexten auf andere Weise und es lässt sich darüber reflektieren, wo die Unterschiede liegen, aber im Kern bleiben die Werke davon unberührt. Man kann womöglich darüber rätseln, wo und wie ein Gemälde besser (oder weniger wertend, anders) an diesem oder jenem Ort zur Geltung kommt, aber es verliert auf keinen Fall seine Wirkung dadurch. Eine solche Behauptung würde das Werk selbst schmälern.

An diesem Punkt lässt sich offensichtlich mit Betrachtungen zu Film und Kino anschließen. Nicht ohne Grund habe ich oben dem filmischen Diskurs den Begriff „working system“ entlehnt, mit dem das Verhältnis von Film im Kino beschrieben werden kann: Die Filmkopie wird in der Projektion als performativer Akt zur Aufführung vor einem Publikum gebracht. Ähnlich wie im Fall der Gemälde Tizians haben sich im Laufe der Filmgeschichte jedoch alternative Wege etabliert, Film außerhalb dieses „working systems“ zu rezipieren (der Vergleich ist natürlich nicht perfekt – der Film als reproduzierbares Kunstwerk, wie auch als zeitbasierte Kunstform, was mit ihrer spezifischen Aufführungspraxis zusammenhängt, hat seine Eigenheiten – dennoch finde ich, dass die fruchtbaren Anknüpfungspunkte eines solchen Vergleichs die partikularen Kritikpunkte überwiegen). Ohne das Kino als primären Ort filmischer Wahrnehmung in Frage zu stellen, lässt sich , wie ein Blick in die Kunstwelt zeigt, womöglich dennoch einiges aus dem Vergleich des Kinofilms als „working system“ und seinen diversen Faksimilierungen gewinnen.

Rainer on the Road: Im Land der Bolschewiken

Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki
  • Ostseeküste, Polen. Mit meinem Leihwagen kämpfe ich Meter für Meter über die ramponierten polnischen Landstraßen. Auf Usedom hat man am Straßenrand Europas größte Schmetterlingsfarm beworben, hier sehe ich Reklame für ein 6D-Kino, später für ein 7D-Kino, ein 8D-Kino. Umso weiter ich mich von der deutschen Grenze entferne, desto erbitterter wird der Kampf der D-Superlative.
  • Kolberg, Ostseeküste, Polen. Das Erdgeschoss meines Hotels beherbergt ein 6D-Museum, am Weg zum Strand passiere ich ein 8D-Kino im Kioskformat. Auf einem Monitor kann man von außen die mutigen Touristen beobachten, die sich ins Innere gewagt haben, um sich der Urgewalt, der bis dato unbekannten Dimensionen auszusetzen.
  • Leba, Ostseeküste, Polen. Auch Dünen sind hier ungleich größer dimensioniert, als man das gewohnt ist. Im Slowinzischen Nationalpark werden sie über vierzig Meter hoch. Zu diesem Anlass habe ich sogar meine Wanderschuhe geschnürt (obwohl ich Wandern hasse). Ich fühle mich ein wenig wie Lawrence von Arabien, als ich durch den weißen, aber kühlen Sand stapfe und stelle mir vor hier einen Wüstenfilm zu drehen. Wo könnte man die Kamera aufstellen, dass kein verräterischer Baum im Bildausschnitt zu sehen ist?

Slowinzischer Nationalpark

  • Wien, Herbst 2012. Im ersten Semester hat man uns an der Universität den Kuleschow-Effekt erklärt. Der Filmemacher und -theoretiker hat, so zumindest die Überlieferung, drei identische Aufnahmen des russischen Schauspielers Iwan Mosjukhin jeweils mit dem Bild eines Tellers Suppe, einer schönen Frau und eines Sargs montiert, woraufhin unbedarfte Betrachter emotionale Reaktionen im Gesicht Mosjukhins priesen und ihn für seine schauspielerischen Fähigkeiten priesen, obwohl das Gesicht sich nicht veränderte. Ob dieses Experiment jemals wirklich in dieser Form stattgefunden hat ist nicht belegt, es steht jedoch exemplarisch für die Kraft der Filmmontage, die die sowjetischen Filmemacher der 20er Jahre zu Höchstleistungen anregte.
  • Zurück in Berlin. Im Arsenal wird Lew Kuleschows Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki (einer der grandiosen Titel der Filmgeschichte) gezeigt. In einer nicht angekündigten Einführung beschreibt Ulrich Gregor kurz den Kuleschow-Effekt und weist daraufhin, dass Kuleschow vom amerikanischen Kino, vor allem von Mack Sennett, beeinflusst war.
  • Ulrich Gregor hat Recht mit seinem Verweis auf Sennett: die Raufereien und vor allem die Verfolgungsjagden sind virtuos inszeniert. Der Film handelt vom Amerikaner Mr. West, seines Zeichens Vorsitzender der YMCA, der die Sowjetunion besucht, um dort seine Vereinigung bekannt zu machen. Begleitet wird er von seinem Bodyguard Jeddy, einem waschechten Cowboy (oder zumindest so waschecht, wie es das Kostümdepot von Goskino zulässt). Nach einigen Missgeschicken verlieren sich Mr. West und Jeddy aus den Augen, was den panischen Jeddy dazu veranlasst mit einem gestohlenen Pferdeschlitten vor der Polizei zu türmen. Der Cowboy lenkt das Gefährt dabei selbstverständlich im Stehen von der Rückbank, wie er es von den Kutschen daheim gewohnt ist. Kuleschow hat sich nicht nur einiges bei den Meistern des amerikanischen Slapsticks abgeschaut (einige der Stunts würden Keaton stolz machen), sondern nutzt in diesen Szenen auch den culture clash, um zusätzlichen komödiantischen Effekt zu erzielen.
  • Der Cowboy Jeddy wird von Boris Barnet verkörpert, auch Wsewolod Pudowkin ist als Gaunerboss in einer der Hauptrollen zu sehen. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie kleine Gruppen von Pionieren und Freigeistern die Filmkunst vorangetrieben haben, wie regionale Bewegungen internationale Bedeutung erlangt haben (in diesem Zusammenhang ist das Projekt Kino-Atlas von Lukas Foerster und Hannes Brühwiler, das versucht ebensolche Gruppen zu katalogisieren und ins Rampenlicht zu rücken eine Erwähnung wert).
  • Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki lohnt auch in mehreren anderen Punkten eine nähere Betrachtung. Besonders auffallend ist der verwegene Einsatz von Schriftelementen im Bild, teils wie Untertitel, teils großflächig über den Bildausschnitt gelegt, womit die Anzahl der Zwischentitel reduziert wird. Ich werte diese Experimente als Versuch mehr Kontrolle über den Rhythmus des Films auszuüben. Ebenfalls ungewöhnlich ist Kuleschows Mut zur Hässlichkeit (vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Film trotz allem um ein Propagandaprodukt handelt) – den Großteil der Laufzeit scheint der Film die Vorurteile der westlichen Welt zu bestätigen –, Häuser, Möbel und Kleidung sind überaus schäbig, womit der prächtige Militäraufmarsch am Ende noch mehr an Gehalt gewinnt. In gewisser Weise durchlebt man als Zuseher die gleichen Eindrücke wie Mr. West im Film. Zuerst findet man sich an einem schrecklichen Ort wieder, der allen abwertenden Übertreibungen der amerikanischen Presse gerecht wird, um dann am Ende umso stärker von der aufstrebenden Dynamik im Land überzeugt zu werden. Das ist ein dialektischer Ansatz, wirkt aber im Unterschied zu so vielen anderen propagandistischen Arbeiten der Epoche nicht zu didaktisch und pathetisch, weil es mit einer stattlichen Menge von Selbstparodie versüßt wird.

Rainer on the Road: 9. Berlin Biennale

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

Es kommt es mir so vor – und das schreib ich in meiner Rolle als Filmmensch, der keinen ganzheitlichen Überblick über die Entwicklungen in der Kunstwelt hat –, als ob die Gegenwartskunst nach gut zwanzig Jahren die Ideen der Postmoderne wieder verstärkt aufgreift. Nachdem die große digitale Euphorie und die damit einhergehende Verheißung totaler Demokratisierung der Produktions- und Distributionsmittel mittlerweile abgeklungen ist, hat sich zwar die Welt und die Gesellschaft verändert, vor allem hinsichtlich der Pflege sozialer Kontakte und unserer medialen Exponiertheit, aber die Kunst (und auch das Gegenwartskino) beschäftigt sich wieder zunehmend mit sich selbst – Selbstreferentialität ist einmal mehr en vogue. Innovation und Weiterentwicklung künstlerischer Positionen scheint immer stärker an technologischen Fortschritt gekoppelt, weil das gut erzogene Publikum sich kaum mehr schockieren oder in die Irre führen lässt. Paul Feyerabends programmatisches Credo „everything goes“ für uneingeschränkte Methodenvielfalt in den Wissenschaften hat offensichtlich in der Kunstszene mehr Resonanz gefunden, als in allen anderen Bereichen des Lebens. Im Kampf um Aufmerksam und (finanzielles) Überleben biedert sich die Gegenwartskunst auf jeden Fall zunehmend der marktliberalen Leitideologie des langen 20. Jahrhunderts an, was sie jedoch vehement abstreitet: und hier kommt die Postmoderne ins Spiel, denn diese Anbiederung wird mit einem mehr oder weniger aufgesetzten Augenzwinkern übertüncht. Man spiele ja nur mit diesen Ideen und dieser Ideologie und versuche sie durch Assimilation zu korrumpieren, hört man dann. Das alles sei eigentlich eh kritisch gemeint und man nutze nur die Mechanismen des Markts für seine eigenen Zwecke. Das ist offensichtlich Bullshit und das Augenzwinkern als fadenscheinige Ausrede ist nicht einmal gut gespielt.

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

Die kuratorische Linie der 9. Berlin Biennale ist ein Musterbeispiel für eine solche Vorgehensweise. Der Folder sieht aus, wie die Broschüre einer Sprachschule; klinische Reduktion, die vor fünfzig Jahren als minimalistische Positionierung noch schockiert hätte, wird als leere Floskel zum Leitmotiv auserkoren; das Glas- und Betonmonstrum der Akademie der Künste mit ihrem Flair eines überdimensionierten Konferenzraums dient als Hauptquartier; und mit der ESMT (European School for Management and Technology) wird ein Gebäude bespielt, das ehemals vom Parteiapparat des SED genutzt wurde und heute eine Wirtschaftsschule beherbergt. In gewisser Weise ist die ESMT, wo nebenher weiter der reguläre Universitätsbetrieb läuft, der Gipfel dieses Konvoluts an Widersprüchlichkeiten und Gefallsucht. Interessant, dass es jedoch gerade hier, abseits der großen Hauptausstellungsorte die Mixed-Media-Installation von Simon Denny und Linda Kantchev tatsächlich schafft die sperrigen Gegensatzpaare künstlerisch fruchtbar zu machen. Sie nähern sich mit Bewegbild, Text, Skulptur und Raumkonzept alternativen Geldmodellen wie Bitcoin und deren Ideen eines Anarcho-Kapitalismus, was wunderbar mit der Idee der Verzahnung von Form, Inhalt und Architektur korrespondiert. Hier lässt sich am besten eine konsequente Umsetzung der ansonsten recht hohlen Phrasendrescherei erkennen (nach rund zwanzig Minuten hat sich diese Keimzelle der kuratorischen Gedanken aber auch erschöpft und man hat den dortigen Ausstellungsbereich durchwandert). Es ätzt sich leicht über die Aufmachung dieser Veranstaltung, das ist insofern tragisch, als dass man darüber leicht die einzelnen Arbeiten aus dem Blick verlieren kann. Viele der teilnehmenden Künstler und Künstlerinnen haben sich dem Diktat des neo-postmodernen Augenzwinkerns nämlich standhaft widersetzt. Umgeht man die fehlgeleiteten post-post Orgien eines Simon Fujiwara und seines Happy Museum und sieht man über manche Absonderlichkeiten, wie Josh Klines single-channel Installation Crying Games in einer black box voll Katzenstreu (?) hinweg, dann finden sich einige sehr spannende Arbeiten, die besser mit den Herausforderungen, die sich der Kunst im 21. Jahrhundert stellen, umzugehen wissen, als es das Gesamtkonzept vermuten lässt. Einige dieser Arbeiten –ich habe mich dabei auf Werke beschränkt, die mit Bewegbildern arbeiten – möchte ich im Folgenden kurz vorstellen.

View of Pariser Platz von Jon Rafman

View of Pariser Platz von Jon Rafman

Es ist bezeichnend, dass die gelungensten Arbeiten an der Peripherie der Biennale zu finden sind. Da ist zum einen die kleine Ausstellung in der ESMT und da sind zum anderen Kellerräume und Dachgeschoss. Im KW, neben der Akademie der Künste am Pariser Platz der zweite Hauptausstellungsort der Biennale, hat man den geräumigen Keller für die Bewegbild-Installation What the Heart Wants von Cécile B. Evans buchstäblich unter Wasser gesetzt. Die ganze Halle, die einzig durch die Videoprojektion erleuchtet ist, wurde geflutet. Umgeben vom kühlen Nass, betritt man die zentrale Plattform, die sich zentral vor der Leinwand befindet, lässt sich in eines der Sitzkissen fallen und genießt ein ganz besonderes synästhetisches Erlebnis. Das Wasser ist mehr als eine leere Geste, wie man das zunächst vermuten könnte (auf einer Biennale voller leeren Gesten). Es verändert das Klima, die Akustik und die Lichtverhältnisse im Raum. Hier ist es merklich kühler, der Hall wie in einer Grotte gedämpft und auf der Oberfläche spiegelt sich die Projektion. Das Wasser erweitert sozusagen die Leinwand und lässt die Seherfahrung zu einer ganzkörperlichen Sinneserfahrung werden – Virtual Reality ganz ohne Brille.

Der Balkon des Dachgeschosses der Akademie der Künste bietet ein ganz anderes Schauspiel. Dort wird man als Besucher gebeten eine Virtual Reality Brille aufzusetzen und zunächst den Ausblick auf den CGI-animierten Pariser Platz zu genießen. Während man sich in dieser virtuellen Welt zurechtfindet, beginnt sich ein seltsames, schauriges Schauspiel zu entfalten. Körperschemen erheben sich in die Lüfte, die umgebenden Ausstellungsobjekte erwachen zum Leben, schließlich bröckelt der Boden und man fällt (Höhenangst sorgt für Extra-Nervenkitzel), um schließlich zu schweben. Luft, Wasser, beinahe hält man den Atem an, versucht den Schattenkörpern auszuweichen und bestaunt die abstrakten Objekte und Formen, die jegliche Raumorientierung zunichtemachen. View of Pariser Platz von Jon Rafman war meine erste Erfahrung mit Virtual Reality und dementsprechend enthusiastisch bin ich nun ob der neuen kreativen Möglichkeiten dieser Technologie.

The Tower von Hito Steyerl

The Tower von Hito Steyerl

Sieben Stockwerke tiefer sind zwei Arbeiten von Hito Steyerl zu sehen, die in vielerlei Hinsicht miteinander sprechen. Da ist zum einen The Tower, in dem ein russischer Programmierer von seiner Arbeit als Designer von virtuellen Realitäten spricht und zum anderen Extra Space Craft über den Einsatz von Drohnen im Irak. Die beiden Filme verbindet eine Animationssequenz des ehemaligen Sternobservatoriums des Iraks, dass durch die Kriege der letzten dreißig Jahre arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der russische Programmierer hat es mittels Computeranimation als eine Art neuen Turm zu Babel zum Leben erweckt und in Extra Space Craft dient es als Metapher für die Sehnsucht nach den Sternen. Steyerls Arbeiten im kahlen Kellergewölbe scheinen gegen die isolierte Kunstwelt zu intrigieren, Verbindung zur Außenwelt und zu den tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen herstellen zu wollen. Sind sie deshalb verbannt worden, an diesen unwirtlichen Ort, der als einer der wenigen nicht durch die Ästhetik des Konferenzraums und/oder des Hipster-Schicks korrumpiert worden ist? Ich wünsche mir einen Zufluchtsort für diese verbannten Arbeiten, einen Ort, wo sie in Dialog treten können mit den verbannten (Kino-)Filmen dieser Erde.

Rainer on the Road: Museo Nazionale di Cinema in Turin

Mole Antonelliana

Ein verregneter Samstagnachmittag in Turin. Trotz der ungünstigen Wetterverhältnisse bebt das historische Zentrum der piemontesischen Stadt mit Leben. Die Torinesi schützen sich vor dem beharrlichen Prasseln des Regens mit überdimensionierten Regenschirmen, die an jeder Ecke von Straßenverkäufern feilgeboten werden. Ich verwende ungern Regenschirme. Sie sind für mich Ausdruck der menschlichen Hybris, die glaubt sich den Naturgewalten mit einer dünnen Schicht Kunststoff entziehen zu können. Sperrig sind die Dinger auch, anderen Passanten sticht man bei der kleinsten Unachtsamkeit die Augen aus und im Übrigen schaffe ich es nie den Schirm so gen Himmel auszurichten, dass ich auch tatsächlich trocken bleibe. Außerdem hat man ohnehin nie einen dabei, wenn es nötig wäre. Kurz, Regenschirme sind eine riesige Mogelpackung und eine große Enttäuschung und deshalb hab ich den Spleen kultiviert, keine zu verwenden. Ich verstehe ohnehin nicht ganz, weshalb die Turiner Bevölkerung überhaupt auf diese unsinnige Erfindung zurückgreift, denn die Boulevards in der Innenstadt sind von großzügigen Arkaden gesäumt, die auch bei unfreundlichsten Wetterbedingungen eine trockene Fortbewegung ermöglichen. Das Rätsel scheint gelöst, als ich in eine der Seitengassen einbiege, die von der Via Po (und ihren Arkaden) abzweigen. Dort hat sich eine lange Schlange von Menschen gebildet, die unter freiem Himmel, aber mit aufgespannten Regenschirmen, vor dem Eingang des Museo Nazionale di Cinema ausharren. Tragen die Turiner deshalb Regenschirme mit sich herum, dass sie jederzeit trocken ins Kinomuseum gelangen können? Ist das Museum deshalb auf dem italienischen Zwei-Cent-Stück abgebildet?

Das alles ist das Wunschdenken eines Cinephilen, denn nach einer kurzen Erkundung der Lage zeigt sich, dass die lange Schlange dem Panoramalift gilt, der die Besucher bis an die Spitze der 167 Meter hohen Mole Antonelliana bringt. Die Mole, ursprünglich von der jüdischen Gemeinde Turins als Synagoge in Auftrag gegeben, ist das Wahrzeichen der Stadt. Der Architekt Alessandro Antonelli hatte damals in einem Anflug von Größenwahn ein Gebäude geplant, dass die Mittel der Auftraggeber bei weitem überstieg, weshalb die Mole nie als Synagoge genutzt wurde und bereits vor ihrer Fertigstellung an die Stadt verkauft werden musste. Das Museo Nazionale di Cinema ist erst seit 2000 im Gebäude untergebracht, und bequem über einen zweiten Eingang (ganz ohne Schlangestehen) zu erreichen. Das ist gut so, denn eine Stunde im Regen ist ein Besuch nicht wert.

Museo Nazionale di Cinema

Grob lässt sich der Aufbau des Museums in drei Teile einteilen: eine umfangreiche Sammlung über Pre-Cinema, eine Art Abenteuerspielplatz im Erdgeschoss der riesigen Kuppelhalle und einem Ausstellungsbereich in der Galerie darüber. Zusätzlich gehört zum Museum noch ein Kino, das im Gebäude nebenan untergebracht ist und als Cinemathek und Festivalkino genutzt wird. Wie ich schon in meinem Text über das Museum für Film und Fernsehen in Berlin angemerkt habe, ist die Idee eines Museums, das sich mit Film beschäftigt ohne die Werke selbst ins Zentrum zu rücken problematisch. Das Museo Nazionale di Cinema umschifft das zunächst geschickt, indem es sich im ersten Teil der Ausstellung als Technikmuseum präsentiert und sich auf prä-kinematographische Formen konzentriert. „Archäologie des Kinos“ heißt der Rundgang, der mehrere hundert Jahre an Entwicklung im Bereich optischer und audiovisueller Medien abdeckt. Dabei erfüllt die Ausstellung alle Anforderungen eines modernen Museums, kombiniert theoretische Erklärungen der Funktionsweise von Linsen und Gerätschaften mit interaktiven Elementen. Von unterschiedlichsten Linsen- und Spiegelsystemen über Kaiserpanoramen bis hin zum Kinetoscope lassen sich alle diese frühen Formen audiovisueller Medien und optischer Spielereien ausprobieren und anfassen. Es gibt im wahrsten Sinn des Wortes viel zu tun und zu sehen. Was man sieht ist allerdings eine andere Frage: Erschreckend wie viele der Ausstellungsstücke als Digitalisate präsentiert werden, und das ohne in irgendeiner Weise auf den Faksimile-Charakter der Exponate hinzuweisen. Es ist sinnlos Laterna magica-Projektionen mit dem Beamer zu simulieren, sinnlos in ein Kinetoscope einen kleinen Bildschirm einzubauen, sinnlos Filme der Gebrüder Lumière digital zu projizieren und mit dem Rattern eines Projektors zu unterlegen. Es ist sinnlos und falsch. Es verleitet den Besucher diese Formen des Audiovisuellen mit dem Seherlebnis eines Flachbildschirms oder einer DCP-Projektion zu vergleichen. Dieser Vergleich führt unweigerlich zu einer Herabstufung des Pre-Cinema als primitive Vorstufe in einer imaginierten linearen Entwicklungsgeschichte der medialen Bilderproduktion, anstatt sie als eigenständige Phänomene zu verstehen, die unter den gegebenen technischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen, bestimmte Bedürfnisse der Menschen nach Bildern und Geschichten befriedigten. Es ist erschreckend und fatal, dass sich ein Kinomuseum (und das Museo Nazionale di Cinema ist darin nicht das einzige) mit der Glorifizierung und Nostalgisierung des Kinos zufrieden gibt und sich nicht darum bemüht Erklärungen zu geben, wie und warum Film, Kino und Gesellschaft nunmehr über hundert Jahre so eng verzahnt sind. Es lässt seine arglosen Besucher ohne tieferes Verständnis dessen zurück, was ihnen eben aufgetischt wurde, indem es sogar noch versucht seine Täuschungspraktiken zu verschleiern, anstatt sie selbstkritisch zu thematisieren.

Museo Nazionale di Cinema

Spätestens am Ende des Rundgangs, wenn nach der Vorführung einiger Lumière-Filme die Leinwand hochgezogen wird und einem das Modell einer Lokomotive entgegenkommt, hat sich der Eindruck bestätigt, dass sich das Museo Nazionale di Cinema eher als Vergnügungspark denn als Museum versteht. Dementsprechend geht es im zweiten Teil des Museums, in der majestätischen Kuppelhalle der Mole Antonelliana, weiter. Dort wird ein publikumswirksames Popspektakel mit viel Pomp und Trara geboten, fast ohne jegliche Kontextualisierung oder kritische Distanz. Die Räumlichkeiten sind grob thematisch geordnet (Western, Musical, Horror,…) und beherbergen bunt zusammengewürfeltes Stückwerk aus Filmausschnitten, Plakaten, Setfotos und Starporträts. Alles reiht sich willkürlich aneinander und giert um die Aufmerksamkeit der Besucher, die zu diesem Zeitpunkt wohl gar nicht mehr anders können, als „Film“ und „Kino“ als eine lang vergessene Kulturpraktik zu verstehen, die früher einmal so etwas wie gesellschaftliche Relevanz hatte. Man wähnt sich im Inneren eines Süßwarenladens, alles ist bunt, schrill und zuckersüß und zu viele Kostproben führen zu Herzrasen, Kopfweh und Bauchschmerzen. Der Begriff von Kino, der hier vermittelt wird, ist der eines abgedunkelten Orts, an dem man sich gegenseitig mit Popcorn bewirft.

Flüchtet man sich schnell aus der Kuppelhalle in die Galerie, findet man dann auch kaum mehr Gefallen an der imposanten Sammlung kubanischer Filmplakate, die im Moment als temporäre Ausstellung zu besichtigen ist. Nach so viel Abstumpfung und Ärgernis versucht man diesen wohl interessantesten Teil des Museums möglichst schnell hinter sich zu bringen, um sich im Regen von der klebrigen Gefallsucht und Marktheischerei reinzuwaschen. Die Kühnheit, Unangepasstheit und Abstraktion mit der die kubanischen Zeichner sich in ihren Gegenständen näherten, sollten sich die Kuratoren (wenn überhaupt jemand in diesem Museum diese Bezeichnung verdient) auch zu Herzen nehmen. Das nächste Mal stelle ich mich auch lieber in den Regen und warte auf den Panoramalift.

Rainer on the Road: Museum für Film und Fernsehen

Marlene Dietrich Schrein

Prolog

Seit Frühjahr dieses Jahres wird das Wiener Kulturangebot durch ein Literaturmuseum ergänzt. Untergebracht ist es standesgemäß im Grillparzerhaus, dem ehemaligen Hofkammerarchiv, also der langjährigen Arbeitsstätte des österreichischen Nationaldichters in unmittelbarer Nähe zum Metro-Kino. Da ich am Aprilwochenende der Eröffnung rund zwei Stunden in der Innenstadt totzuschlagen hatte, der Besuch zum Auftakt kostenlos war und ich mir wenig darunter vorstellen konnte, wie man Literatur museal aufbereiten könnte, sah ich mir die Sache mal an. Es stellte sich heraus, dass die Kuratoren meine Phantasielosigkeit teilten. Zwar entpuppte sich der Rundgang als beeindruckender historischer Parcours durch die jüngere österreichische Geschichte, aber darüber hinaus wurde mein Verständnis von Literatur durch die Masse an ausgestellten Manuskripten, Briefen und Urkunden nicht sonderlich bereichert. Es scheint, die verstaubt, schummrige Atmosphäre des Standorts hat auf die Gestaltung der Ausstellung abgefärbt: der Rundgang ist öd, lieblos und viel zu oberflächlich. Das Museum ist gefühlsmäßig dazu konzipiert Deutschlehrern das Langweilen ihrer Schulklassen zu erleichtern. Dementsprechend fehlt die kritische Distanz zu Literatur und Politik, fehlen die Verknüpfungen zwischen Kunst und Gesellschaft, die vielerorts angedeutet werden. Man begnügt sich mit einer mäßig kontextualisierten Flut an Schaukästen, die mehr oder weniger interessante Fundstücke präsentieren, die sich über die Jahre in der Nationalbibliothek zusammengesammelt haben.

Filmhaus Berlin

Berlin, August 2015. Déjà-vu.

Ein Besuch im Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz führt unwillkürlich zu einem Zurückerinnern, an diesen Samstagvormittag im April. Das Filmhaus, ein modernes Gebäude am Potsdamer Platz, wirkt imposant – ein prächtiger, moderner Palast einzig und allein dem Bewegbild gewidmet. In den Obergeschossen sind die Studenten der dffb untergebracht, darunter die Büros der Deutschen Kinemathek und des Berlinale Forums, sowie im Kellergeschoss die beiden Kinosäle des Arsenals. Die Ausstellung selbst, die im September 2000 eröffnet wurde, speist sich aus den ergiebigen Sammlungen der Deutschen Kinemathek – würde man sich alles, was es hier an Ton- und Bildaufnahmen zu entdecken gibt zu Gemüte führen, dann könnte man wohl mehrere Nachmittage im Museum verbringen. Nur: Warum sollte man das? Die Deutsche Kinemathek als Forschungszentrum und Archiv ist eine großartige Institution, umso krasser der Schock, wenn man sich mit der Aufmachung der permanenten Ausstellung konfrontiert sieht. Diese lässt leider weniger auf ein kuratorisches Gesamtkonzept, als auf eitle Gefallsucht und profitorientierte Touristenabfertigung schließen. Zugegeben sind die ersten Schritte in die Ausstellung atemberaubend, eine Art Spiegelkabinett mit Videomonitoren, doch schon bald müssen sie lieblosen Schaukästen weichen. Skizzen, Verträge, Manuskripte und Briefe sind hier aneinandergereiht, dazwischen wird die deutsche (bzw. Berliner) Filmgeschichte im Eiltempo abgehandelt. Man schmückt sich mit den großen Namen jener, die ihren weltweiten Ruhm der amerikanischen Filmindustrie zu verdanken haben. Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Marlene Dietrich sind die Helden und Idole der Vergangenheit, denen gehuldigt wird. Es ist eine regelrechte Fetischisierung dieser internationalen Größen aus besseren Tagen, denen ganze Ausstellungsräume als pervertierte Devotionalienschreine gewidmet sind. Billigster Populismus ist das, unkritisch und nicht einmal besonders gut recherchiert (Plakatives Beispiel: als bedeutender Regisseur des „Proletarischen Kinos“ der Zwischenkriegszeit wird Phil Jutzi angeführt – ohne darauf hinzuweisen, dass derselbe wenige Jahre danach seine Parteimitgliedschaft wechselte und fortan Propagandafilme für Goebbels drehte). So spannend der Prozess der Kanonbildung auch ist, von einem Museum dieser Größenordnung darf man sich doch mehr Tiefgang und historische Präzision erwarten. Es wird ein Bild der deutschen (bzw. Weimarer) Filmindustrie beschrieben, das aus heutiger Sicht schlicht nicht haltbar ist. Hollywood wird als Antipode dargestellt, als Mekka des Kommerzes, während in Berlin zur gleichen Zeit jene künstlerisch wertvollen Filme gedreht wurden, die heute als Klassiker gelten. Diese Sicht ist nur erklärbar, durch die fehlende Tiefe der Aufbereitung, denn das neben den Langs und Murnaus auch in den deutschen Filmstudios industrielle Massenware à la Hollywood im Akkord gefertigt wurde, ist kein filmhistorisches Geheimnis. Doch die Fetischisierung und Nostalgisierung nimmt noch kein Ende. Ähnlich verzerrt werden die Protagonisten des Neuen Deutschen Kinos vereinnahmt und zu Rebellen verklärt. Kaum ein Wort zu den spannenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die in der Nachkriegszeit in der kulturellen Explosion der unzufriedenen jungen Generation gipfelte.

Auf einer anderen Ebene kann man sich fragen, ob es überhaupt Sinn macht, Film und Filmgeschichte so zu präsentieren. Die Nähe zum Material ist nicht gegeben, sofern man vom Material als den Filmen selbst ausgeht. In anderen Kunstmuseen werden mir doch auch keine Originalpinsel oder Auktionsberichte präsentiert, sondern die Werke selbst. Alles in allem, könnte man nun zur Verteidigung vorbringen, geht es hier ohnehin mehr um Kinokultur, Filmindustrie und eine sehr verkürzte und deshalb problematische Präsentation einer sehr verengten Sicht auf die Filmgeschichte. Daraus folgt eine sehr zwiespältige Programmatik, denn das propagierte Genietum der großen deutschen Meisterregisseure lässt sich nur schwer mit der arbeitsteiligen, industriellen Fertigung von Filmen, wie sie nebenan glorifiziert wird, in Einklang bringen. Das ist alles sehr schade, denn ohne Zweifel haben Film, Kino und die Sammlung der Deutsche Kinemathek mehr zu bieten. So jedoch, ist es sinnvoller seine Zeit drei Stockwerke tiefer im Arsenal Kino zu verbringen.

Rainer on the Road: Venezia

Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Im größten Saal des Dogenpalasts in Venedig, dem Sala del Maggior Consiglio, in dem in früheren Jahrhunderten die aristokratische Führungsriege der Lagunenstadt tagte, nimmt ein riesiges Ölgemälde die gesamte Stirnseite des Saals ein. Zur Zeit seiner Fertigstellung war Das Paradies das größte Ölgemälde der Welt. Mehrere Jahre arbeiteten zunächst Paolo Veronese, und nach dessen Tod Jacopo Tintoretto, beide große Meister der venezianischen Malerei, an der Fertigstellung des Bildes. Der überwältigende Eindruck dieses riesigen Tafelbilds wird weder durch die Dimension des Saals, noch durch die Pracht der vorhergehenden Räume abgeschwächt. Körper über Körper sammeln sich in diesem Paradies und was aus der Nähe wie ein verwirrendes Konvolut aus Gliedmaßen, Köpfen und anderen Körperteilen aussieht, wirkt aus einigen Schritten Entfernung üppig, majestätisch und seinem Titel höchst angemessen. Meine Begleitung konnte sich jedoch nicht ganz mit dem Gemälde anfreunden und fand die Körper im Hintergrund zu verworren, irritierend, ja gespenstisch. Diese Einwände führten dazu, dass ich eingehender darüber nachdachte, was es mit diesem Bild auf sich hatte. Tatsächlich wirkte eine Sache etwas befremdlich auf mich und zwar, dass die Figuren im Vordergrund dunkler gehalten sind, als die Massen im Hintergrund. Ein Geniestreich Tintorettos wie mir scheint, denn anders als gewöhnlich die hinteren Bereiche im Schatten zu belassen, strahlt das himmelblaue Paradies scheinbar aus der Tiefe des Bildes. Die Hauptfiguren im Vordergrund werden also von hinten erleuchtet und so von der Menge abgehoben (ähnlich wie durch ein back light im Film), während die dutzenden, verworrenen Körper im Hintergrund noch erkennbar und identifizierbar bleiben.

 Das Paradies von Jacopo Tintoretto

Keine große Erkenntnis für einen Kunsthistoriker, aber sehr wohl für mich, der die bildende Kunst nur aus der Sicht eines Laien betrachten und beschreiben kann. Normalerweise begeistere ich mich eher für modernere und abstraktere Kunst, aber dieser Venedig-Besuch letzte Woche hat mir in mancher Hinsicht die Augen geöffnet. Mir war es als bis dato leichter gefallen die Besonderheiten abstrakterer Kunstströmungen zu erkennen und zu wertschätzen, als die Arbeit der Alten Meister, die durch ihre handwerkliche Brillanz erst jene Konventionen schufen, denen sich spätere Strömungen schließlich widersetzen konnten. Erst die Bilder der Venezianischen Renaissancemaler machten mir bewusst, dass es in ihren Werken vor allem um Licht geht, beziehungsweise um die (gedachten) Lichtquellen, die die Figuren in Szene setzen, um Komposition, die verschiedene Figuren in Verhältnis zueinander setzt und dabei sehr viel subtilere Nuancen zulässt als schnöde Symbolik. In mancherlei Hinsicht haben mich diese Überlegungen wieder zu einigen Gedanken zurückgebracht, die ich mir in letzter Zeit auch zum Film gemacht habe. Auch hier haben sich (sehr viel schneller und einheitlicher als in der Malerei) Konventionen gebildet, die von verschiedenen Strömungen späterer Jahrzehnte angefochten wurden. Diese Konventionen nennt man heute das klassische Hollywoodkino, ergänzt durch einige Sedimente, die ein paar der bedeutenderen Neuen Wellen der Filmgeschichte hinterlassen haben (auch das, eine Parallele zur Bildenden Kunst).

Das bringt mich zurück ins Kino, wo es zurzeit einiges an Konventionen, in Form der Technicolor Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums zu sehen gibt. Dort ertappe ich mich dabei immer mehr Gefallen an Musicals zu finden, aus heiterem Himmel einen Fred-Astaire-Fetisch zu entwickeln und mir Gedanken über Bombastik und Spektakel im Film zu machen. So sehr ich mich für das Kunstkino begeistern kann, und so sehr mich die Bildgewalt der großen Autorenfilmer in ihren Bann zieht, so sehr kann und will ich nicht den puren Spektakelwert des Films vernachlässigen, der es erlaubt Feuerwerke zu zünden, die statt weit entfernt am Nachthimmel, direkt vor unseren Augen im Kinosaal explodieren. Spektakulär ist die Lichtsetzung in Cavalo Dinheiro ebenfalls, aber ich meine Spektakel im Sinne von Attraktion in Eisenstein’schen Vokabular (wenngleich die Attraktion in diesen Filmen in gar nicht Eisenstein’schen Sinne zum Zwecke des Eskapismus eingesetzt wird), eine sensorische Macht, die audiovisuelle Fessel, die den Verstand erstarren lässt und über jeden Anspruch von Authentizität und Wahrscheinlichkeit erhaben ist.

The Band Wagon von Vincente Minnelli

In solchen Momenten kommen mir die Welt und das Kino sehr simpel vor und frage mich, wie es mit der vielbeschworenen indexikalischen Beziehung zwischen der „echten“ Welt vor der Kamera und der kinematischen Projektion tatsächlich aussieht, denn wo sehe ich in The Band Wagon etwas von der echten Welt? Diese Filme können nicht dadurch irritieren, dass ihre Gesangs- und Tanznummern mit der Logik ihrer Welt brechen, denn die Logik ihrer Welt sind ebenjene Revuenummern. Fred Astaires Beine sind der Inbegriff der Balazs’schen Geste! Natürlich ist Film mehr als The Band Wagon und auch mehr als Fred Astaires Beine (schade eigentlich), aber wenn man dem Kern des Mediums näherkommen will, der Essenz dessen, was Film und Kino ausmacht, dann empfiehlt sich eine intersubjektive Betrachtungsweise, die diesen Spektakelwert (und Fred Astaires Beine) zumindest nicht aus den Überlegungen ausschließt, ohne ihn dabei so strikt zu trennen, wie manche Fehlinterpretation von Tom Gunnings Text Cinema of Attraction es vorschlägt. Furchtbar konsensual eigentlich, aber die beiden Ebenen des Natürlichen und Konstruierten, des Schauwerts und des Erzählwerts sind wohl nicht zu trennen, und wenn sich eine Ausnahme finden lässt, dann bedeutet das nicht, dass es sich dabei um den Film handelt, der die eine Theorie bestätigt und der vielbeschworenen Essenz des Films am nächsten kommt, sondern wiederum um eine Reaktion und Kritik gegen die propagierte Unmöglichkeit der Trennung der beiden Ebenen. Ein furchtbar relativierender Ansatz, der sich schließlich im Kreis dreht. Warum ich mich trotzdem weiter mit diesen Fragen beschäftige? Weil es die Fragen sind, die der Nachforschung wert sind, nicht ihre Antworten (eine Binsenweisheit).

Palazzo Ducale / Dogenpalast

Eine kleine Nachrede zu Patricks Bemerkung über Kategorien in Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Kategorisierungen sind an und für sich keine schlechte Sache. Sie erlauben es schnell und halbwegs effizient Informationen zu kommunizieren. Filme in ein bestimmtes Genre einzuordnen, oder sie der Form nach als dokumentarisch oder fiktional zu kategorisieren macht meines Erachtens so weit Sinn, so lange nicht mehr über die Kategorisierung nachgedacht wird als über den Film selbst. Denn wenn der Film schwierig zuzuordnen ist, macht es meist mehr Sinn zu fragen warum es denn so schwer fällt eine Entscheidung zu treffen, als partout eine Lösung zu finden. Kategorien sind für mich offene, dynamische Gebilde, deren Grenzen im Dialog immer neu festgesetzt werden, aber die auf einer unbestimmten geteilten Wissensbasis beruhen.

Ich denke, so in etwa meint Patrick das auch, wenn er Schubladendenken kritisiert, dem es scheinbar nur darum geht möglichst suchmaschinenoptimierte Tags zu generieren oder Meta-Diskurse, die sich mehr um ihre Eitelkeit drehen als um die Sache (die Filme) an sich.

Rainer on the Road: Das Leopold Museum und der filmische Blick

Der Häuserbogen II, Egon Schiele 1915

Es war so ein trüber Novembertag, sie beschlossen ins Museum zu gehen.
Da gab es eine große Schau mit Bildern von Gustav Klimt zu sehen.
Das ist ein weltberühmter Maler, doch den beiden gefiel nicht viel,
und irgendwann sagte sie sogar: Scheiß Jugendstil! (Funny van Dannen, „Scheiß Jugendstil“)

Sammlung von Jugendstilmöbeln

Der Novembertag meines Museumsbesuchs war nicht wirklich trüb und auch gegen Klimt hege ich keine so starke Abneigung wie die Protagonistin des oben angeführten Lieds. Dennoch kann ich mich der Grundaussage anfreunden: Jugendstil gefällt mir nicht, vor allem die Möbel und Gebrauchsgegenstände, die in der Wiener Werkstatt angefertigt wurden und es nun zu Ausstellungswürden im Museum gebracht haben, finde ich ziemlich hässlich. Das ist natürlich ein rein subjektives Geschmacksurteil. Eine Argumentation für oder wider die ästhetischen Prinzipien einer Kunstrichtung zu führen übersteigt meine Kenntnisse Bildender Kunst. Trotzdem: Scheiß Jugendstil!

Nichtsdestotrotz, wagte ich mich in die Heiligen Hallen der Wiener Kunstszene des fin de siècle um meinen Horizont zu erweitern; und wenngleich ich die Ausstellungsräume voller Jugendstilramsch zügig durchschritt, verweilte ich an anderer Stellen länger. Das Besondere am Dispositiv Museum ist für mich die Freiheit, die es dem Besucher in der Rezeption der ausgestellten Werke überlässt. Schlendernd bewege ich mich durch die Säle, verharre wenn mich ein Stück besonders anspricht; mit bewusst filmischem Blick taste ich mich durch den Raum. Eine der großartigsten Eigenschaften der bildenden Kunst ist für mich, dass ich, im Gegensatz zum Kino, meine Perspektive frei wählen kann. Dabei kann es sich um einen hundertachtzig Grad Rundumgang um eine Skulptur von Giacometti handeln, oder um den vergleichenden Blick auf ein Gemälde vom anderen Ende des Raums und aus wenigen Zentimetern Entfernung. Die kurze Distanz, das museale „extrem close-up“ übt eine besondere Faszination auf mich aus. Hier wird die spezielle Haptik der bildenden Kunst deutlich, die am Filmstreifen nicht zu finden ist (und den Filmliebhaber immer wieder in Erklärungsnot bringt, wenn es um Analogizität des Filmmaterials geht). Umso größer die Farbkleckse, umso unkontrollierter die Farbakzente, umso mehr gibt es für mich zu entdecken. In der unruhigen Oberfläche eines Ölgemäldes ist der Entstehungsprozess des Bildes eingeschrieben – Farbkombinationen, Pinselführung werden aus nächster Nähe nachvollziehbar, während sich aus der Ferne ein ganz anderes Bild ergibt.Paar im Grünen, Richard Gerstl 1908

Exemplarisch hierfür ein Bild von Richard Gerstl, „Ein Paar im Grünen“. Gerstl, dessen künstlerische Tätigkeit erst nach seinem Tod gewürdigt wurde, ist im Leopold Museum ein eigener Raum gewidmet. Betritt man diesen Ecksaal sieht man sich mit einer Reihe von Landschaftsbildern und Porträts konfrontiert. Aus der Distanz wirken diese Bilder nicht weniger realistisch wie z.B. die Bilder Koloman Mosers in den Räumen zuvor. Nähert man sich den einzelnen Werken, so erkennt man eine gröbere Struktur, eine stärkere Haptik der Gemälde. Aus nächster Nähe betrachtet lösen sich Gerstls Bilder in abstrakte Farbkompositionen auf und das in viel stärkerem Ausmaß als z.B. jene der impressionistischen Meister. Diese bereits vorhin angesprochene Divergenz zwischen Nah und Fern beeindruckte mich nachhaltig und machte den „Gerstl-Raum“ zu meinem Lieblingsraum der „Wien um 1900“-Ausstellung.

Selbstbildnis mit Lampionfrüchten, Egon Schiele 1912

Von Gerstl zu Schiele. Ich muss ganz einfach auch über Schiele schreiben. Einerseits, weil es sich bei der Schiele-Sammlung im Leopold um die größte der Welt handelt und andererseits, weil Schiele der berühmteste Sohn meines Heimatorts Tulln ist. Von klein auf, wird man in Tulln mit Schiele konfrontiert was natürlich unweigerlich dazu geführt hat, dass ich jahrelang eine besondere Abneigung gegen diesen Menschen hegte: Was man mir partout schmackhaft machen will, lehne ich aus Prinzip ab. Aus heutiger Sicht bin ich etwas verärgert über mein jugendliches Ich, dass sich Schieles Genius so vehement widersetzt hat. Denn Schieles Arbeiten sind erstaunlich vielfältig (nicht bloß nackte ausgemergelte Gestalten, sondern auch farbenfrohe Straßenzüge), schlicht aber expressiv, und zugleich nobel-zurückhaltend wie polemisch-extrovertiert. Paar am See, Ernst Stöhr 1897-1903

Aber noch einmal zurück zu den Möglichkeiten eines filmischen Blicks im musealen Dispositiv. Das klingt furchtbar klug, was ich damit meine ist aber durchwegs banal. Man nehme z.B. ein Bild wie Ernst Stöhrs „Paar am Ufer“, das sich recht problemlos innerhalb der Wiener Secession einordnen lässt. Was genau dieses Gemälde kunsthistorisch auszeichnet kann ich nicht beurteilen, aber für meine Zwecke ist es sehr dienlich. Man muss sich vorstellen diesem Werk aus fünf Metern Entfernung gegenüberzustehen. Es eröffnet sich ein Blick auf ein Paar, das am Ufer eines Sees, genauer, auf einem Steg, ins Alpenpanorama blickt und uns dabei den Rücken zukehrt. Verlässt man diese statische Position und nähert sich dem Bild langsam an, so entsteht ein wundersamer Dollyeffekt. Wie wir uns dem Paar nähern, erwarten wir beinahe ihre Stimmen zu hören, wie sie sich übers Wetter unterhalten oder charmante Komplimente austauschen. Es bleibt still. Auch Bewegung ist keine erkennbar. Kurz meint man die beiden würden sich umdrehen um uns, den Dazustoßenden zu begrüßen, aber wir nähern uns, und das Bild bleibt unverändert. Aber bleibt es unverändert? Die Dynamik, die diesem Bild innewohnt, hat mich immerhin zu dieser kleinen Geschichte inspiriert, die schließlich damit endet, das wir am Ende unserer Dollyeffekt angekommen, ganz nah am Gemälde zwischen den Köpfen des Paares hindurch sehen und nun das Alpenpanorama aus deren Perspektive betrachten. Ist diese Dynamik nicht der Film, der sich im Kopf des Zusehers abspielt, wie Alexander Kluge das so treffend formulierte? Ist die Welt innerhalb des cadres nicht ebenso mit dem filmischen Blick erforschbar wie die Welt des caches?

Rainer on the Road: Besuch in der Cinemateket Kopenhagen

Die Cinemateket von außen
Reisen bildet. Über Ostern verschlug es mich deshalb ins (überraschend) sonnige Kopenhagen. Als begeisterter Cineast zog es mich natürlich auch in die „Cinemateket“ des dänischen Filminstituts.
Die Cinemateket von außenEin modernes, fast schon zu slickes Gebäude erhebt sich gegenüber des ehemaligen Königsschlosses Rosenborg (das u.a. eine beeindruckende Schatzkammer beherbergt) an der Gothersgade. Schon von weitem ist der Schriftzug „Cinemateket“ zu erkennen, sonst hebt sich das Gebäude nicht sonderlich von seinen Nachbarn ab. Hier scheint das Filmherz Dänemarks zu schlagen: Habe ich die Schilder an den Eingängen richtig gedeutet, beherbergt dieses Gebäude nicht nur die Cinemathek samt Café und Bar, sondern auch die dänische Filmkommission und diverse andere Räumlichkeiten des Instituts. Betritt man die heiligen Hallen ähnelt der Aufbau dem vergleichbarer Institutionen, eine Kassa, ein kleiner Verkaufsbereich mit Buch- und DVD-Sektion, im hinteren Bereich befindet sich ein Café. Publikationen liegen vornehmlich in englischer Sprache vor, gefolgt von deutsch und dänisch (zu meinem Erstaunen fand sich aber auch Französisches und Italienisches). Im Herzen des Baus befinden sich die drei Kinosäle – „Biograf“ auf Dänisch, ohne ein Dänisch-Etymologisches Wörterbuch zu Rate zu ziehen tippe ich auf die Biograph Studios als Namensinspiration – getauft sind sie Asta, Carl und Benjamin.
Das Ticket in die Heiligen Hallen
Im Kino Benjamin wird nicht nur Christensen gezeigtMich verschlug es in den Bio Asta, der sich im Keller befindet, dort ist auch eine Bar eingerichtet, die allerdings am Ostersonntag geschlossen blieb. Auch insgesamt war Publikum eher spärlich anzutreffen und das obwohl das April/Mai-Programm meines Erachtens vergleichbar leicht Zugängliches bot: zwei Retrospektiven zu William Friedkin und Alejandro Jodorowsky, Filme von James Gray und eine Schau zu New York im Film. Vielleicht waren die dänischen Cineasten aber auch bloß vom CPH PIX Filmfestival geschlaucht, dass am Tag vor meiner Ankunft zu Ende gegangen war, oder sie genossen lieber das zugegebenermaßen blendende Wetter im Park gegenüber.
Begleitend von den letzten Sonnenstrahlen des Tages begab ich mich also in den Keller um dem Jodorowsky-Kult zu frönen – meine Entscheidung war auf Santa Sangre gefallen, dass zusammen mit Jodorowskys Erstlingskurzwerk La Cravate gezeigt wurde. Als „Mr. Midnight Movie“ wird Jodorowsky im Programmheft bezeichnet und der Kinosaal war in etwa so schwach gefüllt wie man es von obskuren Midnight Movie Programmen gewohnt ist, die Hälfte davon dem Gefühl nach Anhänger des Jodorowsky-Kults, die andere Hälfte Film-Aficionados.
Bio Asta von innenAls zwei Stunden zwanzig später die Lichter wieder angingen ließ mich Jodorowskys verrückter Surrealismus halb geschockt und halb amüsiert zurück. Oft an der Grenze zum guten schlechten Geschmack und ein paar Mal deutlich diese Linie überschreitend, ähnelt Santa Sangre einem Besuch in einem nicht-jugendfreien Zirkus in dem es vor allem um Gewalt und Sex geht – und ein bisschen um Verstümmelung. Jodorowsky versammelt eine ganze Reihe von Horrorfilmmotiven und teilweise wirkt der Film wie ein postmodernes Konstrukt aus allzu offensichtlichen Inspirationsquellen. Vom Lon Chaney Vehikel The Unknown bis Hitchcocks Psycho findet sich so einiges, und auch der Geist Buñuels scheint gegenwärtig zu sein, wo der Spanier aber politisches Agenda-Setting betreibt, findet sich bei Jodorowsky eine kindliche Freude an Provokation und ein Interesse, die Grenzen des guten Geschmacks auszutesten.
Das aktuelle Programmheft der CinemateketAber wieder zurück zu den Rahmenbedingungen: vorgeführt wurde die Originalversion mit schwedischen (!) Untertiteln auf glorious 35mm. Was ich nicht wusste bevor es losging – Santa Sangre ist ein englischsprachiger Film. Das lag zum einen an mangelnder Recherche meinerseits, zum anderen an Fehlinformationen des Kassiers. Nachdem ich mich also schon mental auf ein Spanisch-Schwedisches Duett vorbereitet hatte, verstand ich dann doch worum es ging (was bei Jodorowsky allerdings nicht allzu viel zur Sache tut). Das Ganze ist nun zwei Wochen her, die Eindrücke verblassen bereits. Ganz warm bin ich nicht geworden mit der Cinemateket. Weder das Programm, noch die Aufmachung konnten mich überzeugen – in Wien ist man eben verwöhnt.