Filmfest Hamburg: Favula von Raúl Perrone

Favula von Raúl Perrone

Parte 1: la familia

Eine Hypnose, ein knallender Schuss, Musik. Wache jetzt auf-du bist im Urwald des Lebens. Deine Familie wartet mit dir im Flimmern einer Rearprojection. Hast du Angst, dass dein Vater erschossen wird? Ich habe Angst, dass das Haus brennt. Ein Kino brennt, die Bilder brennen vor meinen Augen, es sticht. Die Gesichter sind nicht, was ich verlange. Sie sind eine Blende. Meine Mutter ist ein Raubtier. Raubtiere lauern hinter dem Bild meiner Mutter. Sie schreien auch. Meine Mutter ist besorgt. Wohin sind ihre Kinder verschwunden? Wohin ist ihr Mann? Ein knallender Schuss, die Ecken des Bildes vibrieren, immerzu, eine Framing-Penetration. An wen wurden die Kinder verkauft? Sie haben mich ans Kino verkauft. Ich komme nur mehr zum Essen nach Hause, habe Angst zu vergessen.

Favula von Raul Perrone

Parte 2: el cine

Vögel zwitschern durchs Bild. Sie sind nicht aus dieser Welt. Sie zerbrechen, ob der Bilder. Die Gesichter im Urwald sind nicht dort. Sie sind in einem anderen Bild. Ein Vogel, kleiner kämpfender Vogel, vielleicht ein Kolibri schläft mit einer Frau, sie schwitzt, jeder Tropfen ist im Kino. Ich bin im Kino, oder? Musik, eine Hypnose, wieder ein Schuss im Frieden. Der Schock kommt durch den Rhythmusbruch. The Most Dangerous Game. Wohin wandern wir, wenn wir im Kino träumen? Ich träume, muss träumen, darf träumen, als wären meine Gedanken im Film nichts anderes als eine Rearprojection. Hinter mir ist eine Hypnose. Im Kino sitzt sie neben mir. Ich fliege zum Mond.

Filmfest Hamburg: Hermosa juventud von Jaime Rosales

Jaime Rosales Beautiful Youth

In gewisser Weise fühle ich mich verpflichtet über den Film Hermosa juventud von Jaime Rosales zu schreiben, da er auch Jugend ohne Film heißen könnte. Darin entwickelt Rosales anhand neorealistischer Tendenzen eine politisch aufgeladene Ausweglosigkeit von Twenty-somethings in Madrid. Gleichzeitig macht er sich Gedanken über die Veränderungen einer medialen Welt bezüglich der Bilder des Kinos selbst.

Es geht um Natalia und Carlos, ein hoffnungsvolles und zugleich hoffnungsloses Paar, das in einer erstaunlichen Gewöhnlichkeit dargestellt wird. Dieser Alltag ist deshalb so außergewöhnlich, weil er sich zum einen in ein nicht immer glaubwürdiges Extrem verändern wird und zum anderen, weil Rosales das Leben dieser Figuren fast als Spielfläche des Gewöhnlichen verwendet. Damit soll gesagt werden, dass die Dinge im Film einfach passieren und nicht wirklich aufgebaut werden. Das Leben ist etwas anderes als die Figuren. Eine Nähe zu Roberto Rosselinis sozialrealistischen Angriffen auf die Bequemlichkeit des Alltags durch das Zeigen der Ungerechtigkeit jenes Alltags kann dabei kaum übersehen werden, denn Rosales markiert mit Hermosa juventud einen politischen Verzweiflungsschrei, der sich nicht nur gegen die aktuelle Finanzkrise in Spanien wendet sondern aus ihrem Inneren entsteht.

Oft zeigt er seine Figuren im 16mm Rauschen vor weißen Wänden, die grau wirken. Da ist nichts. Karge Wüstenlandschaften von verdreckten Wohnvierteln, immer wieder sehen wir Türen im Anschnitt, bewegungslose Mütter, die sich dem Schicksal ihrer Kinder anpassen, die nicht mehr helfen können so wie der Vater, der kein Geld mehr hat und seiner Tochter verspricht ihr immer zu helfen. Und mitten in dieser Ausweglosigkeit, die von einer Schwangerschaft und ausglühenden Liebe von Natalia verschlimmert wird, existiert eine mediale Welt. Diese integriert Rosales völlig skrupellos in seine filmischen Bilder. So entwickelt sich vor unseren Augen plötzlich ein pixeliger Internetchat, eine Fotoschau, ein Bildermeer, das sich in einer Geschwindigkeit vor uns abspielt als wäre es eine projizierte Filmrolle. Nur, dass wir die digitalen Bilder dann nicht mehr erkennen können, nur einen Rausch, zu schnell, zu unecht. Es gibt ein Skypetelefonat in Leinwandgröße und auch im Dialog werden diese Welten von japanischen Werbeclips bis zum ewigen Messi Vs Ronaldo Gipfel thematisiert (die Antwort ist Ronaldo). Eigentlich sollte das auch völlig normal sein, denn wenn jemand mit einem Naturalismusanspruch an junge Protagonisten herangeht, die in der Wirklichkeit leben und in dieser leben müssen, dann muss er diese Welten auch mitverarbeiten. Manchem mag da die nostalgische Kinnlade entsagen, aber Film kann nach wie vor die Realität abbilden und das ist die eigentliche Nostalgie.

Beautiful Youth Jaime Rosales

Das ist eine große Aufgabe für Film. Denn schließlich ist diese Onlinewelt auch gleichzeitig der Feind, der Konkurrent, der Freund, die Werbemaschine, der Auswerter, der Verbreiter. Nun ist Film eine Kunst und wird nicht einfach wie das Fernsehen versuchen, das Internet mit in seine Strukturen zu integrieren und über Dinge berichten, die im Internet auftauchen, um eine Art Oberherrschaft zu bewahren. Nein, Film muss sich nicht an diese Regeln halten. Auch aus diesem Grund habe ich mich auch schon mehrfach gegen die große Freude gestellt, die scheinbar davon ausgeht, wenn beliebte TV-Serien im Kino gezeigt werden oder/und wie es hier beim Filmfest Hamburg der Fall ist in Festivals integriert werden. Das ist ein industrieller Hilfeschrei, der weder etwas mit dem Kinoerlebnis noch mit dem TV-Erlebnis noch mit dem Interneterlebnis zu tun hat. Aber Film kann für sich eigene Schlüsse aus dieser Veränderung ziehen und damit spielen. Rosales wagt ein solches Spiel, dass ihm manchmal äußerst gut gelingt und manchmal gar nicht.

Da ist zum einen der Pornokniff. Ähnlich wie in Zack and Miri Make a Porno von Kevin Smith gehen Natalia und Carlos in eine Internet-Pornosendung, um ein wenig Geld zu verdienen und auch, weil es eine sexuelle Fantasie von Carlos ist. Das Bild verändert sich. Statt eines Filmbildes sehen wir nun das digitale Video eines Pornos. Die beiden Laiendarsteller werden auf dem Sofa befragt und schlafen im Anschluss miteinander. Dabei bedient Rosales inhaltliche Klischees, um sie in seiner Form zu brechen. Das Problem stellt sich erst ein als er am Ende endgültig in der digitalen Welt verschwindet und Natalia, die inzwischen in Hamburg arbeitet aus finanziellen Notständen erneut in einem Porno landet. Es scheint mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen, dass sie bei aller Ausweglosigkeit ausgerechnet in einen Porno läuft. Formell dagegen funktioniert der Kniff äußerst gut, denn schließlich existiert am Ende kein Film mehr sondern nur die Pixel zwischen Spanien und Deutschland, das Stocken der platten Bilder, der Voyeurismus. Ähnlich gelungen ist ein schockierender Moment früher im Film als Carlos kurz nach dem Bekanntwerden der Schwangerschaft von Natalia am Bahnhof von einem Unbekannten angegriffen wird. Plötzlich steht das Bild schief. Es hat sich um 90 Grad gedreht und schwenkt im Kreis. Ist das eine Überwachungskamera? Was passiert da? Hermosa juventud ist auch ein Film über die menschliche Unsicherheit in einer digitalen Welt. Einmal fragt Carlos Natalia während eines Skypetelefonats, ob hinter ihr gleich ihr geheimer Freund auftauchen wird. Der Streit, der die Beziehung entzweit passiert fast ausschließlich über SMS und Chat. Damit ist er für uns nicht wirklich greifbar und genau das ist interessant.

Hermosa juventud zeigt, dass die Grenzen für Film nicht unbedingt Filme eingrenzen. Sie können sie gar bereichern. Auch wenn das ein schmaler Grat ist.

Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Turist Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

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Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan

Es gehört normalerweise zur Politik von „Jugend ohne Film“, Filme mit ihrem Originaltitel zu benennen beziehungsweise, bei Sprachen, die nicht westliche Schriftzeichen verwenden, den englischen Verleihtitel. Im Fall des Berlinale-Gewinners „Feuerwerk am helllichten Tage“ müssen wir aber eine Ausnahme machen, da der deutsche Titel hier zum einen deutlich näher an der Übersetzung des Originaltitels ist und zum anderen deutlich näher am Film. Denn zum einen prasselt ein regelrechtes Feuerwerk der Wendungen und Überraschungen auf den aufmerksamen Zuschauer ein und zum anderen steht das Feuerwerk am helllichten Tage für Orte und Ereignisse im Film und vor allem für dieses andauernde Gefühl, dass da etwas ist, was man sieht, aber nicht völlig erkennen kann. Das politische Potenzial dieses chinesischen Films ist auf ein ungutes Gefühl verlagert. Damit manövriert sich Diao Yinan so gut es eben geht vorbei an der Zensur seines Landes und macht einen Film, indem es immer noch einen doppelten Boden zu geben scheint bis wir von unserem Verhältnis zu den Bildern selbst sprechen können, das nie ganz sicher ist.

Black Coal, Thin Ice

Der Film erzählt von einer Mordserie in einer trostlosen Arbeitsgegend im Norden Chinas. Es gibt die Neonlichter, die wir aus chinesischen Filmen kennen, aber sie sind spärlich und sie stehen oft als trostlose Dekorationen in den Ecken der grauen Innenräume. Die Handlung beginnt im Jahr 1999 mit der Entdeckung einer zerstückelten Leiche und führt mit fünf Jahren Verspätung auf die Spur einer Frau, die in einem Reinigungsgeschäft arbeitet. Zuvor erlitt Polizist Zhang Zili ein Trauma, da bei der versuchten Verhaftung eines Verdächtigen zwei Kollegen erschossen wurden. Ganz im Stil alter Noir-Klassiker, versucht er seine Sorgen zunächst mit Alkohol in den Griff zu bekommen. In einer beeindruckenden Szene entdecken wir den zerstörten Mann im Jahr 2004 wieder. Wir verlassen einen Tunnel mit einer POV-Einstellung von einem Moped. Wir wissen nicht, wessen POV wir sehen. Plötzlich liegt da Schnee auf der Straße, ein kleiner Schock. Rechts taucht ein Mann am Straßenrand auf. Er liegt völlig betrunken neben seinem Motorrad. Unser POV fährt an ihm vorbei, verlangsamt dabei sein Tempo und dreht langsam um. Erst jetzt erfahren wir, dass es sich um das Jahr 2004 handelt, eine Grafik zeigt es uns an. Wir fahren noch kurz im Kreis und halten dann. Der POV ist jener eines Unbekannten, der das Motorrad des Mannes am Straßenrand stehlen wird und ihm dafür sein Moped überlässt. Wie wir inzwischen erwartet haben, ist der Mann am Straßenrand unser Protagonist. In der Folge rutscht er wieder in die düsteren Welten der Verbrechensbekämpfung und lernt eine gerade durch ihr scheinbare Unscheinbarkeit unberechenbare Femme Fatale kennen: Wu Zhizhen. Sie ist die Hauptverdächtige.

Immer wieder fließen die Übergänge kaum merklich, aber doch fatal durch den Film. Die Zeit ist eine Frage bei Diao Yinan. Nacht und Tag verschwimmen. Der Winter droht, eine ewige Jahreszeit zu werden. Auch der Zeitsprung von 1999 auf 2004 ist ein in sich gekehrtes Gefängnis. Durch den neuen Präsidenten und die damit einhergehenden politischen Veränderungen hat Diao Yinan sicherlich eine bewusste Entscheidung für einen solchen Zeitsprung gewählt, aber er verkehrt sich in einen nostalgischen Existentialismus und ein Überdauern der Zeit, denn unter dem Schutt verbergen sich noch Verbrechen genau wie unter den Bäumen und in den Erinnerungen. Der Film steckt voller vergrabener Dinge, die zwar von der Zeit gezeichnet werden, aber dennoch nie ganz an ihr vorbeihuschen können. Ganz so wie das Moped schon an dem Mann vorbeigefahren ist, aber dann doch noch einmal umdreht. Die Handlungen selbst ereignen sich oft als Zufälle. So geschieht der Mord an den beiden Polizisten zu Beginn nur durch einen Zufall, da die Pistole des Verbrechers aus seiner Jacke vor seine Füße fällt und auch die Ermittlungsarbeit von Zhang ist geprägt von intuitiven Aktionen und spontanen Einfällen und Beobachtungen. Sämtliche Nebenfiguren und Schauplätze sind derart deformiert, dass man irgendwann dem eigenen Blick nicht mehr traut. In einer Dusche bei Arbeitern der Kohlefabrik duscht ein Mann mit T-Shirt über den Kopf gezogen, ein anderer liegt nackt mitten im Raum. So blicken wir auch immer wieder durch angelaufene Fenster, Spiegel oder in Dutch-Angle Perspektiven (ein weiterer Noir-Verweis) auf das Geschehen. Die Wäschereinigung selbst wird nie in derselben Einstellung zweimal gezeigt. Jeder Establishing-Shot des Gebäudes liefert eine neue Perspektive und vielleicht auch eine neue Wahrheit. Wahrscheinlich geht es zu weit das eindrücklichste Mordinstrument des Films, nämlich Kufen von Schlittschuhen, als eine solche neue Perspektive zu betrachten. Schließlich ist es nicht nur eine Zweckentfremdung eines Gegenstandes, sondern dieser Gegenstand befindet sich gewöhnlich unter unseren Füßen, jenseits unserer Blicke. Einmal sehen wir dann, was ein Kollege von Zhang nicht sieht. Ein klassischer Suspense-Moment als ein potenzieller Mörder sich hinter dem Rücken des Polizisten auf einen Angriff vorbereitet in einer rot-beleuchteten Ecke am Rand der Welt.Die Einstellung ist wie so oft im Film eine tableauartige 2er-Einstellung in einer Halbtotale. Handlungen vollziehen sich immer im Raum, nie nur für die Kamera.

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„Feuerwerk am helllichten Tage“ entfaltet eine Sogwirkung als Fest des Neo(n)-Noir-Thrillers. Fast in jede Szene packt der Regisseur einen kleinen oder großen Twist und vor allem seine Raumsprache ist beeindruckend. So offenbart fast jeder Raum im Film noch ein Geheimnis. Dieses wird manchmal durch Blicke aufgelöst, beispielsweise als Zhang und Wu in einem Riesenrad sitzen und erst nach einiger Zeit klar wird, was man von dort sehen kann und warum sie überhaupt dort sitzen. Zum anderen natürlich durch Bewegung der Figuren wie als sich plötzlich ein kleiner Weg abseits der Eislauffläche offenbart oder durch die Flucht aus einem Restaurant in einen Tanzkeller. Schließlich werden die Räume auch durch Montage und die effektiven Kamerabewegungen, die oft der Logik des Blicks (= Logik des Kinos) folgen, dynamisiert. Immer wenn man glaubt, dass man einen Raum wahrgenommen hat, gibt es einen Schnitt oder eine Bewegung, die einen alles anders sehen lässt. Das fesselnde Ende des Films steckt voller solcher Momente bis man nur noch festhalten kann, dass man nie alles sehen wird. Oder? Sinnbildlich dafür steht eine bemerkenswerte Einstellung in einem Zug. In der Tiefe des Bildes ist durch den Übergang zwischen zwei Wägen, der hintere Wagen zu sehen, der sich aufgrund der kurvigen Gleise immerzu dreht und somit immer wieder unseren Blick auf den Raum verändert. Ähnlich verhält es sich auch auf dramaturgischer Ebene mit den Figuren und ihren Relationen. Die Neigung des Films zu absurden Situationen (man hat das Gefühl, dass frühe Coen-Filme hier Pate standen) und Over-the-Top Momenten hilft dabei, die Unberechenbarkeit aufrecht zu erhalten. Wer hätte gedacht, dass es im Riesenrad zu einer Sexszene kommen würde? Wer hätte gedacht, dass Zhang einen Denis Lavant-Gedächtnis-Tanz hinlegt? Schwarzer Humor dringt immer in das größte Drama und plötzliche Spannung in eigentlich entspannte Szenen. Erwartungen werden in fulminanter Art pulverisiert und alles was einem bleibt, ist dabei zu sein.

Dabei setzt Diao Yinan im Casting und beim Setting auf eine sozialrealistische Alltäglichkeit, die seine Figuren zu irrelevanten Geistern werden lässt. Gefesselt an den Schnee, der heftig vom Himmel kommt, sind sie nicht strahlend, sie bekommen keine Highlights, sie stehen in der Landschaft, die immer ein wenig größer ist als sie selbst. Vielleicht geht dabei ein wenig Noir-Glamour verloren, weil die Faszination an der geheimnisvollen Frau eher aus einer Langeweile und Frustration geschieht, aber vielleicht liegt genau darin auch eine weitere große Qualität des Films. Ein Noir, der außer in einer Szene fast komplett auf Augen verzichtet, der die Zeit nicht mit dem Rauch aus den Mundwinkeln verlangsamt und der nicht schön sein will, sondern es einfach ist. Bei allter Nüchternheit dringt Poesie und ästhetische Schönheit trotzdem durch jedes Bild. Bei aller Kritik, der sich die Berlinale immer wieder stellen muss, sei gesagt, dass sie in diesem Jahrzehnt bei fünf Goldenen Bären, viermal große Filme ausgezeichnet haben, die einen solchen Preis auch absolut verdienen: „Bal“ von Semih Semih Kaplanoğlu, „Nader and Simin, A Separation“ von Asghar Farhadi, „Poziția Copilului“ von Călin Peter Netzer und 2014 „Feuerwerk am helllichten Tage“ von Diao Yinan. Cannes und Venedig scheinen mir keine solche Quote zu haben. Aber so richtig wird man das erst in 50 Jahren wissen.

Enemy von Denis Villeneuve

In “Enemy” von Denis Villeneuve, eine Adaption von José Saramagos „Der Doppelgänger“ entdeckt der Geschichtsprofessor Adam (Jake Gyllenhaal) in einem Film einen Mann, der genau aussieht wie er selbst. Er beginnt den Mann (einen Schauspieler) zu kontaktieren und von da an brechen die Welten und Ebenen des Films in David Lynch-Manier auseinander. Normalerweise weisen Doppelgänger in Filmen immer auf ein twistgeladenes Kino samt SciFi-Elementen, Schizophrenie oder Albträumen hin. Doch Villeneuve, der bislang häufig mit solchen Twists aufwartete (die doch nicht verstorbene Frau in „Polytechnique“, der Oldboy-Moment in „Incendies“ und die Frage des Täters in „Prisoners“), hat nicht nur einen Genrefilm gemacht, sondern zugleich einen Film über das Genre. Der Twist, der die Ebenen in „Enemy“ in der letzten Einstellung des Films verbindet, ist zugleich eine Frage. Er dreht sich einmal um sich selbst und bleibt damit bei sich und dem Film, statt sich zu erklären. Was dann bleibt, ist ein sogenannter Mindfuck, der nie aufhört. Oder?

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Wie meist bei Villeneuve zielt auch „Enemy“ vor allem auf die inneren Organe des Zusehers: Angst, Schock, Verwirrung, Spannung, Staunen, Erotik. Der Regisseur entblößt eine Fantasie. Damit meine ich einen Einfall des Unerwarteten, der sich natürlich schon durch den Auftritt eines Doppelgängers manifestiert. Dabei hilft sich Villeneuve wie schon in „Polytechnique“ mit extrem harten Schnitten, die wie ein Knallkörper in die Ruhe einbrechen und die oft noch durch Musik- oder Soundeffekte verstärkt werden. Außerdem ist jederzeit alles möglich. Das haben wir schon in „Prisoners“ festgestellt als plötzlich Schlangen aus Kisten sprangen. Dazu gibt es einen aufregenden Look, der manchmal etwas zu laut cool sein möchte, aber es prinzipiell schafft das Unheimliche und Fiebrige in einen Stil zu transformieren. Luftaufnahmen aus Hubschraubern, die mit einem zärtlichen Vertigo-Effekt Schwindel erzeugen und Gebäude verformen, ein treibender Score und alles ist wie durch eine gelbe Sonnenbrille gefilmt, eine Schwüle setzt ein, die äußere und innere Welten wie ein Gefängnis erscheinen lässt. Spiegel und Fenster, nackte Körper und Insekten in engen verschachtelten Wohnungen in Wohnblocks, in denen jedes Fenster gleich aussieht. Villeneuve ist im wahrsten Sinne des Wortes ein visueller Geschichtenerzähler. Seine Bilder werden selbst zu Doppelgängern und nach und nach werden wir in einen Zustand versetzt, der jenem von Adam (oder seinem Doppelgänger) gleicht. Die Welt scheint uns verdächtig.

Beide Männer befinden sich in unglücklichen Beziehungen und natürlich könnte man nun beginnen eine psychologische Interpretation anzulegen, die sich von Mutterkomplexen, über Impotenz, hin zu Einsamkeit, Selbstverliebtheit und Selbstzensur ziehen könnte. Die Entfremdung in einer Beziehung während der Schwangerschaft der Frau ist ein offensichtliches Thema. Wahrscheinlich ist auch alles richtig. Aber genauso wahrscheinlich geht es hier einfach um Angst. Die sinnliche Wirkung des Films, die mit jedem Bild und jeder Kamerafahrt, jedem Satz und jedem Ton angereichert wird, entgleitet der ansonsten etwas gewollten Dramaturgie und erzeugt einen Zustand durchgehender Spannung. Der Film fühlt sich an seinen besten Stellen so an als wäre Franz Kafka hinter der Kamera gestanden.
In seinem Gedicht „La nuit de décembre“ erzählt Alfred de Musset von einer Begegnung zwischen zwei sich ähnlich sehenden Menschen:

Du temps que j’étais écolier,
Je restais un soir à veiller
Dans notre salle solitaire.
Devant ma table vint s’asseoir
Un pauvre enfant vêtu de noir,
Qui me ressemblait comme un frère.

(…)

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Dieser Augenblick, wenn man sich selbst in einem anderen sieht, scheint wie für das Kino gemacht. Es ist ein plötzlicher Moment, der in die Zeit einbricht und sich in Blicken offenbart. Da ist zum einen unser Blick auf die Figuren, die wir nicht mehr unterscheiden können (und Villeneuve spielt mit dieser Tatsache…) und zum anderen der Blick zwischen den Figuren, die es nicht fassen können oder fasziniert sind. Eine Angst und ein Begehren setzen ein. Denkt man beispielsweise an „Professione:reporter“ von Michelangelo Antonioni, so legt die Existenz eines Doppelgängers auch die Flucht aus dem eigenen Leben nahe. Ich bin Du und du bist Ich. Etwas Derartiges passiert auch in „Enemy“. Da der Doppelgänger hierbei aber aus einem Film stammt, ist es auch ein Film über Eskapismus. Man schaut zu wie man sich in einer Welt verliert, während man sich in einer Welt verliert. Die Doppelung des Schauspielers wird hier durch den erneut großartig spielenden Jake Gyllenhaal nochmal gedoppelt. Denn nicht nur spielt er zwei Menschen, die gleich sind, sondern er SPIELT auch einen Schauspieler.

Das Kino ist ein Ort der Anonymität bei Villeneuve. Es sind die dunklen Sonnenbrillen, die fragwürdigen Identitäten, die Rätsel, die ihn faszinieren. In „Enemy“ formuliert er eine Liebeserklärung an diese Fragen, indem er sie nicht beantwortet. Allerdings bleibt ein kleiner fader Beigeschmack, denn all diese Fragen sind in sich schon Antworten und der Film gibt sich nie wirklich seinem Fiebertraum hin, da er immerzu sagt: Das ist ein Fiebertraum. Gleiches gilt für den Twist am Ende, der zwar erneute Fragen stellt, aber irgendwie auch alles beantwortet. Ich würde gerne nicht verstehen, warum ich etwas nicht verstehe, aber vielleicht ist das zu viel verlangt. Es tut jedenfalls gut, klassische Spannung im Kino zu sehen.

The Fault in Our Stars von Josh Boone

Shailene Woodley und Ansel Elgort in "The Fault in Our Stars"

Es gibt Momente im Leben, da streitet man sich mit anderen Cinephilen über Boyhood. Da wird dieser Film (vielleicht nicht zu Unrecht) für konventionell befunden und für seinen Industriecharakter kritisiert. Nun gut, in solchen Momenten kommt ein Film wie The Fault in Our Stars ganz recht. Ein Film, der einem wieder hilft Relationen richtig wahrzunehmen. Ein Film, oder besser ein Monstrum an Lachhaftigkeit, der wieder einmal bewusst macht, wie faul, wie manipulativ, wie ideenlos Hollywood wirklich sein kann.

Grob könnte man die Herangehensweise des Films etwa so formulieren: The Fault in Our Stars möchte das Publikum zum Weinen bringen. So weit, so gut, die bewährte Nicholas-Sparks-Taktik eben. Doch es gibt einen Unterschied zwischen The Fault in Our Stars und den Message in a Bottles und The Notebooks dieser Welt. Letztere sind vorhersehbare Liebesgeschichten über Charaktere, die die unwahrscheinlichsten Schicksalsschläge zu überwinden haben, bevor sie am Ende zusammenkommen dürfen. Das sind harmlose Geschichten in denen vielleicht hin und wieder Familien zerrissen oder Bräutigame am Altar stehen gelassen werden. The Fault in Our Stars gibt sich damit nicht zufrieden. Um so richtig auf die Tränendrüsen zu drücken handelt es sich beim Hauptcharakter Hazel Grace Lancaster (Shailene Woodley) um eine jugendliche Krebspatientin. Dem nicht genug, verliebt sie sich in Augustus Waters (Ansel Elgort), der ebenfalls Krebs hat und ziemlich cool ist. Er trägt immer ein Päckchen Zigaretten mit sich, um sich bei passender Gelegenheit eine der Zigaretten in den Mund zu stecken aber nie anzuzünden. Das Ganze soll eine Metapher sein (wie er nie müde wird zu erwähnen), die dümmste Metapher der Filmgeschichte nämlich: „It’s a metaphor, see: You put the killing thing right between your teeth, but you don’t give it the power to do its killing.” Oh God, almighty! Gus hat bereits ein Bein an die Krankheit verloren, lebt nun aber (zunächst) krebsfrei, Hazel ist durch ihre Sauerstoffflasche, die sie ständig bei sich tragen muss, gehandicapt. Gus‘ bester Freund wird Mitte des Films durch seine Krebskrankheit vollständig erblinden. Junge Liebe und Krebs und Tod und Nichtraucherkampagne und auch ein bisschen Holocaust – Subtilität sieht anders aus.

Shailene Woodley und Ansel Elgort in Amsterdam

Hazel Grace und Augustus treffen sich in einer Selbsthilfegruppe, die sie beide natürlich nur sehr ungern besuchen und Hazel Grace und Augustus sprechen sich sehr oft mit ihren Vornamen an, wohl um deutlich zu machen, wie bescheuert sie sind. Das niemand in der Realität so spricht wie die Charaktere in diesem Film, sollte an diesem Punkt selbsterklärend sein. Nicht dass ich Ressentiments gegen non-naturalistischen Sprachgebrauch hätte, aber der Film will schließlich authentisch wirken. Totalversagen, und das obwohl die beiden Drehbuchautoren Scott Neustadter und Michael H. Weber ein Jahr zuvor für das großartige Coming-of-Age-Drama The Spectacular Now (ebenfalls mit Shailene Woodley) verantwortlich zeichneten. Anders als in The Spectacular Now gelang es ihnen aber diesmal nicht eine magische Bindung zwischen den beiden jugendlichen Hauptcharakteren zu generieren. Statt einem Knistern in der Luft, das sich aus dem Umgang der Charaktere im Film ergibt, nimmt man hier nur leere Worthülsen und halb-schrullige Liebesbekundungen wahr – immer hübsch beleuchtet und mit sanfter Popmusik unterlegt. Zugegebenermaßen eignet sich John Greens Bestsellerroman nur bedingt als Grundlage für einen Spielfilm, doch verfügt man über so weniger Gespür und Verständnis für Film, wie die Macher von The Fault in Our Stars, so beginnt man die Fehlersuche am besten nicht beim Quellenmaterial.

Um es kurz zu machen, alles ist aufgesetzt und falsch. Dem Film fehlt die intrinsische Energie, aus sich selbst heraus Emotion zu erzeugen und das Interesse des Betrachters am Leben zu erhalten. Stattdessen arbeitet er mit allen Mitteln daran, das Publikum zu zwingen, genau das zu fühlen, was sich die Macher wünschen. Die filmischen Mittel, die dazu verwendet werden, wirken dementsprechend aufgesetzt, leblos, lieblos. So greift Regisseur Boone z.B. immer dann zu plumper Voice-over-Erzählung zurück, wenn es gilt Zeitsprünge oder anderweitig unerklärliche Stimmungswechsel zu überbrücken. In der Gestaltung der Atmosphäre sticht das Licht negativ hervor, denn selten kommt einem so eine platte und manipulative Lichtdramaturgie unter. Es hat wohl seinen Grund, weshalb der Film nie einen Hinweis auf Datum oder Jahreszeit gibt, denn so konnte Regisseur Boone und schalten und walten, wie es ihm beliebte. In traurigen Momenten präsentiert sich die Welt grau und farblos, an besseren Tagen, wenn die Liebe zwischen Hazel und Gus aufflammt sind die Bilder lichtdurchflutet und von warmen Farben dominiert. Besonders anschaulich wird das in den Szenen in Amsterdam, wo von einem Tag auf den anderen, ein abrupter, von Regisseur und Oberbeleuchter initiierter Wettersturz die herbstlichen Niederlanden in ein sommerliches Paradies verwandelt. In solchen Momenten zeigt sich die fehlende Subtilität und überbordende Ignoranz gegenüber denkenden Zusehern. Buchcover: "The Fault in Our Stars" von John Green

Amsterdam ist in gewisser Weise der Dreh- und Angelpunkt des Films. Weshalb sich die beiden dorthin begeben und was sie dort erleben ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Holen wir etwas weiter aus: Hazels Lieblingsbuch ist „An Imperial Affliction“, eine Geschichte über das Sterben eines krebskranken Mädchen, verfasst vom mysteriösen Peter van Houten, der trotz seines holländischen Namens Amerikaner ist. Das mag vielleicht daran liegen, dass sich somit auf abstruse Weise eine Verbindung zu Amsterdam ziehen lässt, vielleicht aber auch um die Rolle mit dem Amerikaner Willem Dafoe besetzen zu können. Wie auch immer, das ist eines der weniger gravierenden Probleme des Films. Nachdem Hazel Gus dazu überredet das Buch ebenfalls zu lesen und es ihm gelingt Kontakt mit van Houtens Assistentin aufzunehmen (van Houten selbst hat nie auf die unzähligen Anfragen geantwortet, die Hazel ihm geschickt hat) planen die beiden mithilfe der „Genie Foundation“ (einer Gesellschaft, die todkranken Kinder und Jugendlichen einen letzten Lebenswunsch erfüllt) einen Trip nach Amsterdam. Da Hazel ihren Wunsch bereits vor Jahren für eine Reise nach Disneyland verbraucht hat, wird dazu der Wunsch von Gus verwendet. Die beiden machen sich also zusammen mit Hazels Mutter (Laura Dern) auf nach Amsterdam um ihren Helden Peter van Houten zu treffen. Einstweilen hat Hazel versucht Gus klarzumachen, dass sie nur mit ihm befreundet sein will, um ihn durch ihren möglichen Tod nicht zu verletzen (auch dafür gewinnen die Autoren keinen Originalitätspreis). Wenig subtil machen uns Kamera, Licht und Musik aber deutlich, dass die beiden der unumgänglichen Filmliebe nicht entrinnen können. In Amsterdam treffen sie schließlich van Houten, der seit dem Krebstod seiner Tochter (auf dem das Buch basiert) Misanthrop und Alkoholiker ist. Derart asozial gebart sich der Autor und die beiden verbringen den Nachmittag mit van Houtens Assistentin im Anne-Frank-Haus. Womöglich ist das Anne-Frank-Haus der Grund weshalb sich diese Szenen in Amsterdam abspielen – es gibt womöglich keinen unpassenderen Ort für einen ersten Kuss und das endgültige Entflammen einer jungen Liebe.

Es kommt, wie es kommen musste, an diesem geschichtsträchtigen Ort, der dem Andenken an ein junges Holocaustopfer gewidmet ist, küssen sich die beiden unter dem Applaus der umstehenden Museumsbesucher (die anscheinend nicht allzu viel für Pietät übrig haben) und ihre junge Liebe entflammt. Dieser dramaturgische Höhepunkt des Films, fügt dem denkenden Zuseher durch seine Lächerlichkeit, körperliche Schmerzen zu. Nach diesem einen Kuss muss es natürlich schnell gehen mit den beiden um die restliche Handlung in einer halben Stunde unterzubringen. Das heißt Gus kommt nach monatelangen Anstrengungen und der Opferung seines „Genie“-Wunsches endlich zum Zug – die beiden haben Sex im Hotelzimmer. Ein weiterer verstörend schneller Sinneswandel, der an diesem Punkt aber kaum mehr zu schockieren vermag. Die Lungenkranke und der Blinde

Um die moralischen Beweggründe von Augustus nicht hinterfragen zu müssen, stellt sich nach der Rückkehr heraus, dass seine Krebserkrankung wieder zurückgekommen ist, und nun doch er, und nicht Hazel, dem Tode nahe ist. Das wäre an und für sich ein smarter und überraschender Twist, aber an dieser Stelle ist der Film längst verloren. Die letzten Minuten verbringt man schließlich mit wiederholtem Blick auf die Uhr mit dem Warten auf den Tod, inklusive halblustiger Probegrabreden. Am Ende des Films lebt Hazel noch immer – zumindest das kommt überraschend – man wünscht sich allerdings, sie wäre schon eine Stunde früher gestorben, um den Kinosaal schneller verlassen zu können. Das mag zynisch klingen, ist aber leider die traurige Wahrheit. Ein Film, den nicht einmal Shailene Woodleys umwerfendes Lächeln retten kann.

Life Itself von Steve James oder Ein Abschiedsbrief

Roger Ebert Archivaufnahme aus "Life Itself"

Das Gros aller Dokumentarfilme beschäftigt sich mit aktuellen Themen. Das bedeutet, dass diese Filme ein Ablaufdatum haben, dann nämlich, wenn das Publikumsinteresse am besagten Thema zu schwinden beginnt, weil es nicht mehr aktuell ist. Die Dokumentarfilme, die zu Klassikern werden, tun das meines Erachtens nicht wegen, sondern trotz ihres Themas. Sie zeichnen sich durch formale Güte aus, also durch die Art und Weise, wie sie ihren Gegenstand behandeln. Im kollektiven Gedächtnis bleiben Dokumentarfilme aus den gleichen Gründen wie Spielfilme – weil und wenn sie gut gemacht sind und die Grenzen der filmischen Form transzendieren. Hin und wieder sieht man sich aber auch Dokumentarfilme an, die einen thematisch ansprechen, da sie eine Person, einen Sport oder ein Milieu zum Gegenstand haben, an dem man persönliches Interesse hat. So kommt es, dass ich z.B. letztes Jahr sowohl We Steal Secrets: The Story of Wikileaks als auch The Armstrong Lie von Alex Gibney gesehen habe, obwohl Gibneys Filme denkbar weit von den Grenzen der filmischen Form entfernt sind. Diese Filme stehen und fallen mit ihrem Inhalt, erinnern stilistisch an Fernsehdokumentationen und sind formal, gelinde gesagt, langweilig. Aber, Lance Armstrong ist nun mal eine interessante Persönlichkeit und Radsport gehört zu meinen Lieblingssportarten. Es spricht absolut nichts dagegen, sich diesen Film aufgrund seines Inhalts anzusehen, man sollte jedoch seine Erwartungen im Vorhinein kritisch hinterfragen.

Life Itself beruht auf der gleichnamigen Biographie des US-Filmkritikers Roger Ebert. Ebert, Anfang April vergangenen Jahres verstorben, zählte ohne Zweifel zu den bekanntesten Filmkritikern der Welt und war als einer der wenigen seiner Zunft, vor allem dank seiner Fernsehsendung „Siskel & Ebert“ (mit Gene Siskel), auch der breiten Masse (zumindest in den Staaten) bekannt. Durch diese landesweiten TV-Auftritte überstieg seine Popularität selbst die einer Pauline Kael. Zwei Dinge zeichnen Eberts Schaffen meines Erachtens aus: die Passion für Film, die er selbst in seinen letzten, von Krankheit geprägten, Jahren nicht ablegte und sein non-elitärer Gestus und Schreibstil, immer darauf bedacht auch non-cinephile Schichten zu erreichen. Fakt ist, Ebert hatte eine gewichtige Stimme in der Filmwelt, ein enthusiastisches „Thumbs Up“ konnte einen quasi unbekannten Film mit einem Mal ins Rampenlicht befördern und Ebert nutzte diese Macht immer wieder aus, um seine Favoriten zu pushen. Einer dieser Favoriten war der Film Hoop Dreams aus dem Jahr 1994. Sowohl Gene Siskel als auch Roger Ebert sprachen sich begeistert für diesen Film aus, und hatten nicht unerheblichen Einfluss an seinem kommerziellen Erfolg. Regisseur dieses Films war Steve James, den seit diesen Tagen eine freundschaftliche Beziehung mit Ebert verband. Nicht verwunderlich also, dass James mit der Adaption von Eberts Autobiographie bedacht wurde.

Szene aus der Fernsehshow "Siskel & Ebert"

Und nun kommen die Erwartungen ins Spiel. Steve James ist ein renommierter Dokumentarfilmer, mit Auszeichnungen bedacht und seit Hoop Dreams aus der Filmszene nicht mehr wegzudenken. Alex Gibney ist Oscarpreisträger – so viel dazu. Auch wenn klar war, dass ich mir den Film aus Interesse an Ebert ansehen werde, waren meine Erwartungen moderat. Life Itself ist nicht The Act of Killing oder Stories We Tell, um zwei aktuelle Beispiele zu nennen, die spielerisch die dokumentarische und filmische Form ausreizen. Life Itself besteht aus Einblicken in die letzten Tage und Wochen von Ebert, in denen er sich größtenteils im Krankenhaus aufhielt, aus Archivaufnahmen und Fotos, aus Interviews mit Weggefährten und Freunden und aus Voice-over Passagen aus dem Buch, die als roter Faden in der Narration dienen. Diese Elemente werden von Steve James gekonnt arrangiert. Der Mann beherrscht sein Fach, und weiß an den richtigen Momenten den Informationsfluß zu unterbrechen und einen emotional zu werden. Der Film ist für James, das wird sehr deutlich, mehr Herzensangelegenheit, Selbsttherapie und Abschiedsbrief als Aufarbeitung von Eberts Leben. Das soll nicht heißen, dass der Film nicht auch Einblicke ins Leben von Ebert und seinen Vertrauten gibt, aber an einigen Stellen, ich meine an den richtigen, wird der Film zum Requiem. Das bedeutet, dass er nach anderen Maßstäben gemessen werden muss als andere Dokumentarfilme. Rein formal, macht das den Film natürlich nicht besser, aber in den richtigen Momenten, die richtige Dosis an Emotion einfließen zu lassen, gehört auch zum Handwerk eines Filmregisseurs. Darum ist Life Itself ein großartiger Film. Er kommt ohne Metaebenen, ohne besondere Kameraeinstellungen und ohne schicke Animationen aus um das Leben eines Mannes Revue passieren zu lassen, den viele Menschen gern hatten und ich denke der Film funktioniert für die Zuschauer am besten, die selbst in gewisser Weise eine emotionale Beziehung zu Ebert haben. Bei mir war das der Fall. Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine persönliche Beziehung, aber prägende Momente in meiner Entwicklung, die ich u.a. Ebert zuschreibe.

Das Internet war, bevor ich es in die Großstadt geschafft habe, der einzige Ort an dem ich mich über Film austauschen konnte. Ich fand dort Menschen aus der ganzen Welt, die meine Leidenschaft teilten. Diese Freunde waren und sind größtenteils aus dem anglo-amerikanischen Raum und haben meine Sicht auf Film entscheidend geprägt. Eine Zeit lang, war ich ganz zufrieden mit meiner Situation, die zahlreichen Cinephilen und Filmbuffs der Internetcommunity überzeugten mich, dass man Film auch als Hobby betreiben kann. Diese Zeit war auch der Sommer meiner Studienwahl. Ich musste mich also entscheiden, ob ich mich beruflich oder hobbymäßig mit Film beschäftigen will. Drei Faktoren beeinflussten mich schließlich entscheidend, doch die journalistische Schiene (grob gesagt) einzuschlagen. Erstens, die Berichterstattung von den Olympischen Sommerspielen, zweitens, Armin Wolfs Auftritte in den ORF-Sommergesprächen und drittens, Roger Ebert. Natürlich ist und war mir bewusst, dass es im deutschsprachigen Raum bzw. überhaupt außerhalb der USA keine Filmkritiker im Sinne von Ebert gibt, aber in dem Moment, wo ich mich entscheiden musste, ob ich nicht lieber doch Volkswirtschaft studieren oder Fluglotse werden sollte, zeigten mir Olympia, Armin Wolf und Roger Ebert verschiedene Facetten einer Welt, die viel eher meinem Naturell entspricht, als ökonomische Modelle und Luftverkehr.

Das Martyrium des Roger E.Ich habe Roger Ebert nie gedankt, nicht per E-Mail, nicht per Twitter, nicht per Facebook. Das soll sich nun ändern. Auch wenn ich in meiner Entwicklung mittlerweile Abstand vom amerikanischen Filmdiskurs genommen habe, kehre ich immer wieder gerne zu Eberts Blick auf die Dinge zurück. Nicht weil ich ihm öfter zustimme als anderen Kritikern, sondern weil sich in jedem seiner Artikel eine schlüssige Argumentation findet, der man entweder zustimmen, oder die man ablehnen kann – in jedem Fall muss man aber darüber nachdenken.

Life Itself gab mir die Möglichkeit, noch einmal über mein Verhältnis zu Ebert nachzudenken und ihn zu bewundern, seinen Lebensgeist, der in selbst in Stunden der schweren Krankheit nicht verlässt. Das ist die größte Leistung von Life Itself – für zwei Stunden Ebert wieder von den Toten zurückzuholen, sodass man ihn sehen und vielleicht sogar besser verstehen kann. Klar, der Film zeichnet ein Idealbild des Mannes, es ist eine Hommage und kein kritisches Porträt, aber genau in so einem Film zeigt sich, dass nicht immer alles reflektiert und durchdacht sein muss. Dem Film fehlt Distanz, weil dem Filmemacher Distanz zu seinem Gegenstand fehlt – den Tod eines Freundes zu dokumentieren ist keine dankbare Aufgabe. Gerade diese fehlende Distanz zeichnet den Film aus, denn so entsteht emotionale Nähe, die dann auch einen weniger Vertrauten, wie z.B. mich, in ihren Bann zu ziehen vermag. Ist der Film besonders gut? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ist er etwas Besonderes? Ja, für mich ganz bestimmt.

Aimer, Boire et Chanter von Alain Resnais

Ich habe nichts gesehen von Alain Resnais. Nur seine Filme. Jetzt ist er tot, er verstarb am 1.März dieses Jahres im stolzen Alter von 91 Jahren. Erinnere ich mich noch an ihn, an seine Filme? Ich sehe Korridore, Posen, höre Stimmen und vergesse nicht. „Aimer, Boire et Chanter“ ist der Schlussakkord einer beeindruckenden Karriere. Oh, die letzten Filme der großen Meister, gibt es da ein Muster: „Saraband“ bei Bergman, „Offret“ bei Tarkowski, „Al di là delle nuvole“ bei Antonioni, „Big Trouble“ bei Cassavetes, „La voce della luna“ bei Fellini, „Eyes Wide Shut“ bei Kubrick oder “ Le petit théâtre de Jean Renoir“ von Renoir? Mancher antizipierte sein Ableben schon im letzten Film, andere waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt, für andere war es einfach Arbeit, wieder andere waren weit über ihrem Zenit. Das absolute Meisterwerk einer Karriere steht jedoch selten am Ende. Alain Resnais-das dürfte keine Überraschung für regelmäßige Leser dieses Blogs sein-ist für mich in seiner Spätphase ein schwieriger Fall. Da bildet „Aimer, Boire et Chanter“ keine Ausnahme. Seine theaterhafte Künstlichkeit, seine intellektuellen französischen Kaffeehausdialoge und sein völliges Aussparen von Körperlichkeit und Rhythmus, sind nicht von der Hand zu weisen. Jedoch bleibt Resnais ein Meister der filmischen Zeit und damit verbundener Verunsicherungen, bei ihm pulsiert der Off-Screen und damit auch unser neugieriger Blick. Die Lockerheit und Verspieltheit ist zudem aufregend und wie offen sich Resnais hier-wie schon in seinem vorletzten Film „Vous n’avez encore rien vu“- mit dem Tod und dessen Folgen beschäftigt, ist äußerst interessant. Der Film wirkt so als würde ihn Resnais nach seinem Tod auf der Welt gelassen haben, um das Publikum zu beobachten.

Aimere, Boire et Chanter

Basierend auf dem Theaterstück „Life of Riley“ von Alan Ayckbourn erzählt der Film von einem Mann, den wir nie sehen werden: Riley. Er ist Ippolit und Nastasja zugleich, um es mit Dostojewski zu sagen. Er ist krank und liegt im Sterben und bringt gleich drei Paare (Kathryn und Colin, Tamara und Jack, Monica und Simeon) ins Wanken, weil die Frauen beginnen, ihn zu umgarnen und ihn ihm alles zu sehen, was ihren männlichen Partner fehlt. Nach einer gewissen Zeit geht es um die Frage: Wird eine der Frauen mit Riley nach Teneriffa fliegen und damit ihre Beziehung aufs Spiel setzen? Den Rahmen des Films bilden die Proben zu einem Theaterstück bei dem die viele der Protagonisten teilnehmen. Allerdings sehen wir auch diese Proben nie. Was wir sehen, sind von britischem Humor durchzogene Gespräche zwischen den Figuren in unterschiedlichen Konstellationen vor künstlichen (auch britischen) Decors und Kulissen, Überblenden mit Gemälden der Locations und kurze Phantom Rides zwischen den Szenenwechseln. Resnais spielt erneut das doppelte Spiel mit Theater und Film. Er lässt seine Figuren auftreten, er interessiert sich nicht für den Raum. Es ist eine Bühne, die da auf der Leinwand erscheint. Sie zeigt die Gärten der bürgerlichen oder ländlichen Anwesen. ( Es gibt vier Gärten, später einen Friedhof). Erst ganz gegen Ende blicken wir tatsächlich Backstage und gehen vom Garten in das Haus. Die Künstlichkeit macht einem die erbärmliche bürgerliche Fassade bewusst.

Es entfaltet sich (empfehlenswert dazu: Ein Glas Wein oder etwas Britisches) ein munteres Spiel der Eifersucht, der sexuellen Frustration und der warmherzigen Schrulligkeit in uninteressanten bürgerlichen Beziehungen. Riley ist das aufregende Pendant zu dieser Welt und es erscheint absolut logisch (zu logisch), dass die Frauen mit seiner folgenlosen Welt flirten. Dabei ordnet Resnais wieder viel seiner Schauspielführung unter. Auch hier verschreibt er sich den Theaterprinzipien: Es gibt Auf-und Abtritte, offensichtliche Signalwörter, große Monologe und die Figuren positionieren sich immer so, dass das Publikum sie gut sehen kann. Zu sehen sind die bekannten Gesichter aus dem Resnais-Ensemble: Sabine Azéma,, Hippolyte Girardot und Michel Vuillermoz unter anderem. Neu dabei ist Sandrine Kiberlain, warum auch nicht. Was im Film-wie so oft bei Resnais-also wirklich interessant ist, ist das was wir nicht sehen, die Erinnerung und unsere Imagination.

Aimere, Boire et Chanter

Dabei geht es nicht nur um das fehlende ins Bild setzen von Riley, sondern auch um die Häuser selbst, die nur als Vorhänge und Kulissen, sozusagen als Background fungieren. Was wir eigentlich sehen, ist eine Darstellung, womöglich ein Theaterspiel vor unseren Augen, copie conforme als Studie des Theaters und dann die Frage: Wie verhalten sich Menschen, wenn ich sterbe? Dass diese Frage von einem Mann gestellt wird, der nur wenige Tage nach der Weltpremiere des Films auf der Berlinale verstarb, zeugt von ungebremster Persönlichkeit. Es ist auch als würde Resnais-ewig jung geblieben-die gängigen Vorstellungen von Naturalismus angreifen und eine ganze Palette von Bildstrategien ausspielen, die oft-auch von mir-verpönt werden. Das Artifizielle als Rebellion. Damit steht Resnais näher an Xavier Dolan als an Agnès Varda oder Chris Marker. Wie Roman Polanski zuletzt macht Resnais seine Filme nur noch über den Kopf. Waren seine frühen Reflektionen über Erinnerung und Vergangenheit noch beseelt von einem Tastsinn, so sind es jetzt abgefilmte Dialoge, intellektuelle Spielereien. Aber ist es so einfach?

Schließlich überträgt er genau wie früher seine kopflastigen Ideen auf die filmische Form. Nur dass er dafür eben genuin nicht-filmische Sprache verwendet. Resnais scheint mir zu jener Sorte der großen Filmemacher zu gehören, die in ihrem letzten Werk einfach weitergearbeitet haben. Das lässt sich wohl trotz seines Thematisierung des Sterbens sagen. Denn eigentlich hat Resnais immer und immer wieder von seinem eigenen Tod erzählt. Dabei war immer entscheidend, dass die Zeit vielleicht nicht das ist, was sie zu sein scheint. In „Aimere, Boire et Chanter“ ist es auch die Zeit, die nicht stimmt. Zum einen gibt es da den Countdown des Todes für Riley. Dann gibt es die Vergangenheit der Figuren, die häufig verheimlicht wurde. Die Uhren im Haus von Kathryn und Colin gehen alle unterschiedlich, jeden Abend versucht Colin sie zu synchronisieren. Wüsste er, dass er sich in einem Resnais-Film befindet, würde er es vielleicht bleiben lassen. Die Zeit macht was sie will, genau wie die Tochter von Tamara und Jack, genau wie die Bilder oder der abrupt einsetzende Score von Michael Snow, die Montage, die dann doch plötzlich in ein Haus, also hinter die Kulissen schaut und Riley, der gerade deshalb so interessant ist weil wir ihn nicht einordnen können. Resnais ist jetzt selbst im Off-Screen, sein Schaffen ist jetzt ein ewiges Erinnerungsbild, das mit uns macht, was es will. Und genau das zeigt, dass Resnais in seinen Filmen trotz all seiner entgegengesetzten Versuche immer Kino gemacht hat.

Der Film läuft ab heute im Stadtkino Wien

Die Tiefenschärfe in Snowpiercer

In „Snowpiercer“ machen Regisseur Bong Joon-Ho und sein Kameramann Hong Kyung-Pyo auffallend häufig Gebrauch von der Tiefenschärfe. Immer wieder verlagert er in den engen Gängen des Zuges die Schärfe, sei es zwischen Personen, zwischen einer Person und dem Raum, zwei Gruppen oder dem Innen des Zuges und dem Außen der kalten Schneewüste. Nun sind seit den Tagen von Gregg Toland und Orson Welles schon einige Jährchen vergangen und man kann sich durchaus fragen, inwiefern die filmische Sprache, die von der Möglichkeit einer inneren Montage mit neuen technischen Möglichkeiten zu Beginn der 1940er Jahre maßgeblich geprägt wurde, sich immer noch dieses Stilmittels bedient. Ich schaue mir das vor allem deshalb an einem Unterhaltungsfilm wie „Snowpiercer“ an, weil dort viele Wahrheiten über die Tiefenschärfe verborgen liegen, die sie als Notwendigkeit auslegen und nicht als künstlerische Souveränität. Dennoch findet sich in „Snowpiercer“ gerade, wenn man den Einsatz der Tiefenschärfe betrachtet ein Versäumnis des Films: Die Verwendung des Stilmittels als Ausdruck einer inneren Welt, als wahrhaftig filmische Sprache, die einen POV des Filmemachers jenseits der nach Identifikation lechzenden Klassendynamik erst ermöglichen würde. In diesem Sinn kann man die Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ auch als Hau-Drauf-Stilmittel verstehen, dass völlig gefühlslos das poetische Potenzial dieser Technik ignoriert. Ich werde die Aspekte der Tiefenschärfe in „Snowpiercer“ anhand folgender Begriffe untersuchen:

1. Die Tiefenschärfe als Effekt

2. Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

3. Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

4. Die Tiefenschärfe als Entfremdung

Snowpiercer

Die Tiefenschärfe als Effekt

Snowpiercer

Von im Vordergrund fokussierten Schneeflöckchen, bis zu den betont coolen Einstellungen in Actionsequenzen kann Bong Joon-Ho seine Vorliebe für die Tiefenschärfe kaum zurückhalten. Gedreht auf 35mm scheint er dieses Mittel auch deshalb besonders zu lieben, weil es eines der wenigen Merkmale seines Films ist, das nicht nach einem Videospiel aussieht. Doch der Effekt geht darüber hinaus, ist er doch auch eine Bastion des räumlichen Sehens gegen die 3D-Dominanz im Blockbuster-Genre. Die Tiefenschärfe ermöglicht ein ganz ähnliches, wenn nicht gar überlegenes Gefühl, weil sie-wie im Fall von „Snowpiercer“-ebenfalls blicklenkend und räumlich betonend funktioniert, aber nicht 2/3 des Bildes für unwichtig erklärt. Wer braucht 3D, wenn es Tiefenschärfe gibt, mag man sich fragen. Nun zeigt die Tiefenschärfe bei Bong Joon-Ho zumeist an, dass etwas besonders scharf ist. Nur selten wird auch darauf verwiesen, dass etwas unscharf ist. Dabei liegt genau darin die Chance der Tiefenschärfe. Denn scharf sein, kann heute jeder bei sich zuhause, im Kino kann es auch den Mut zur Unschärfe geben. Zwar spielt der Film an vielen Stellen elaboriert mit den Gegensätzen von Licht und Dunkelheit, Schatten und Sonne oder Vorne und Hinten, aber trotz seiner inhaltlichen Bevorzugung der Schattenwelten gewinnt die Unschärfe nur aus ihrer Relation mit der Schärfe an Bedeutung. Damit will ich sagen, dass alles glänzen muss in einem Film der Klassenkampf zur heuchlerischen Angelegenheit eines kommerziellen Interesses macht, das nicht nur seine Individuen vergisst, sondern auch vor lauter soziologischer Weltanalyse vergisst, dass es Momente außerhalb der Schärfe geben muss, damit eine Welt zum Leben erwacht. Die filmische Welt, die mit der Schärfe den Blick einnimmt, ihn gefangen hält, ihn am Streifen über das Bild hindert, ist nichts anderes als billigeres 3D und wird immer nur in einen Zug gequetscht, der keine Wahrheit, sondern nur aufgesetzte Spannung transportiert. Das wird insbesondere dann frappierend, wenn Bong Joon-Ho es für richtig erachtet, die Blicke der oberen Schicht auf die untere Schicht mit Tiefenschärfe anzuzeigen und die Blicke der unteren Schicht auf die obere Schicht auch. Es entsteht die Frage, warum uns ein streifender Blick verneint wird, wenn der Regisseur selbst formal schon keinen dezidierten Blick hat. Es scheint mir dafür nur zwei Antworten zu geben: 1. Die Tiefenschärfe soll uns hier etwas über den Raum sagen, nicht über die Figuren und ihre soziale Gefühlswelt. 2. Bong Joon-Ho mag die Tiefenschärfe und verwendet sie gern. Für den zweiten Punkt sprechen die zahlreichen verspielten Schärfenverlagerungen, die ein wenig an beginnende Kameramänner erinnern, die zum ersten Mal diese Möglichkeit an einem Gerät entdecken.

Die Tiefenschärfe als Kompensation für fehlenden Raum

Snowpiercer

Eigentlich ist es doch ganz logisch. Wenn man sich als Filmschaffender die Frage stellt, wie man ein aufregendes visuelles Design erstellen kann, in einem Film, der fast durchgehend in einem fahrenden Zug spielt, dann wird man früher oder später mit dem Einsatz der Tiefenschärfe konfrontiert werden. Diese ermöglicht einfach ein räumliches Gefühl, eine-wie der Name sagt-Tiefe im Raum, die der drohenden Monotonie eine scheinbar unendliche Palette an möglichen Einstellungen und Blickwinkeln gegenüberstellt. Auf diese Art gelingt es „Snowpiercer“ insbesondere zu Beginn ein Gefühl für die Enge (oder besser: den Dreck), in der die Unterschicht leben muss, zu vermitteln. In einem langen Gespräch zwischen Curtis und Edgar wird zudem nicht nur auf deren Verhältnis geschlossen, sondern retrospektiv auch auf die innere Schuld, die Curtis in Verbindung mit dem jungen Mann plagt, der wie ein Schatten im Bett unter ihm liegt. Der räumliche Effekt der Tiefenschärfe deutet auch auf die Motivation der Protagonisten hin, denn deren Ziel ist das Erreichen der Spitze des Zuges ist. Diese verbirgt sich in der Tiefe des Ganges, hinter zahlreichen Türen, die sich wie in eine unbekannte Unendlichkeit erstrecken. Auf narrativer Ebene setzt Bong Joon-Ho der Unsicherheit, die durch die Tiefe und Unbekanntheit des Raumes evoziert wird, ein aufklärendes Element entgegen und verrät dadurch nicht nur seine Bilder, sondern auch einen essentiellen Spannungspunkt seines Film. Die Figur Yona ist nämlich in der Lage, durch Türen hindurch zu sehen. Damit werden die vom Set-Design wunderbar installierten Möglichkeiten zur Unsichtbarkeit, zur Unschärfe weiter eliminiert. Es beginnt ein merkwürdiges Wechselspiel zwischen Transparenz und Ungewissheit und man mag mir Recht geben, wenn ich sage, dass man sich ob der Spannung und auch ob der Frage nach dem Blick des Autors wünschen würde, dass ein wenig mehr Ungewissheit herrschen würde. Aus ähnlichen Gründen der räumlichen Eingeschränktheit hat dies in letzter Zeit beispielsweise „Locke“ von Steven Knight deutlich besser gemacht (auch wenn er zu oft schneidet). Es scheint doch so: Die Transparenz im Zug geht von vorne nach hinten und die Unschärfe von hinten nach vorne. (Transparenz im Film, das sind zum Beispiel die Telefone, die Kontrolle über Licht, die Fenster, die Größe der Räume, die Helligkeit etc) Der Film folgt Protagonisten von hinten nach vorne. Er tut dies mit einem offensichtlichen Blick aus Sicht der Protagonisten, den er aber nicht formal, nur narrativ bedient. Und deshalb herrscht eine Klarheit gegenüber dem Raum, wo eigentlich Unsicherheit ist. Man merkt, ich ende immer am selben Punkt. Noch aber bin ich nicht bei jenem Aspekt angelangt, den ich als das größte Versäumnis von „Snowpiercer“ im Verhältnis zur Tiefenschärfe ansehe.

Die Tiefenschärfe als Zeichen für Gegensätze

Snowpiercer

This Way

Snowpiercer

Or That Way

Pier Paolo Pasolini hat zu seinem „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ geschrieben, dass die Bedeutung in der Form liege. Er hat sich in seinem Leben viele Gedanken zum poetischen Potenzial der filmischen Sprache gemacht und zudem hat er als polemischer Marxist immer wieder aus der Sicht Unterdrückter Filme gemacht. Doch man kann mit großer Sicherheit sagen, dass er niemals die Regierenden und die Unterdrückten mit einer Orgie aus Schärfe und Unschärfe gegenübergestellt hätte, die mit dem Holzhammer in „Snowpiercer“ deren Relation anzeigt. Am auffälligsten ist die Verwendung der Tiefenschärfe als Indikator für Klassengegensätze, wenn Mason vor die Unterdrückten tritt und ihnen erklärt, dass sie an ihrem angestammten Platz leben. Bei Pasolini dagegen zeigt die Form immer ein inneres Leben an. Deshalb wirkt alles klinisch und symmetrisch in „Salò“, deshalb wird die Tiefenschärfe in „Edipo Re“ immer extremer. Dabei geht es Pasolini weniger um eine Identifikation, sondern um die Möglichkeit der Neutralität in der subjektiven Darstellung. Er verglich sein Vorgehen mit jenem einer indirekten Rede in der Literatur. Man sieht es etwas, in der Art, in der es die Figur und/oder der Autor sehen (bestenfalls teilen Protagonist und Autor ihre Sicht auf die Welt) und folgt dem ganzen distanziert. Was Bong Joon-Ho macht, erinnert dagegen mehr an agitatorische Identifikationsrhetorik aus dem frühen sowjetischen Film. Das ist für sich genommen gerechtfertigt, allerdings wechselt er (ich komme wieder zu meinem Punkt) dabei ständig die Perspektive, als wolle er anzeigen: Eine Vereinigung ist nicht möglich, weil alle auf unterschiedlichen Planeten leben. (der Planet der Schärfe und der Planet der Unschärfe) Er verpasst es mit seiner Tiefenschärfe von der Wechselwirkung zwischen Oben und Unten zu erzählen. Trotz Schärfenverlagerungen wird mit ihr nur die Starrheit eines Systems angezeigt, denn die Menschen stehen hier für eine größere politische Idee und diese Parabelhaftigkeit wird mit dem ständigen Spiel zwischen Scharf/Unscharf und der räumlichen Gegenüberstellung bis zur Schmerzgrenze betont. Diese formelle Kleinigkeit wirkt auf schmerzliche Weise konträr zur eigentlichen Haltung des Films, der Veränderung und Aufbruch propagiert und ein humanistisches Weltbild fordert. So sehen wir in der Tiefenschärfe weder die Sicht der Unterdrückten, noch jene deutlich klinischere der Unterdrücker. In der Form liegt immer auch ein politisches Potenzial, womöglich sogar das einzige politische Potenzial. Nun mag man mir vorhalten, dass ich viel zu viel hineinlege in einen Actionfilm. Aber gerade dieses Genre eignet sich hervorragend, um politische Haltungen subtil zu vermitteln, wie die amerikanische Filmgeschichte vom Anti-Nazi bis zum Anti-Russland Kino immer wieder gezeigt hat. „Snowpiercer“ ist-ganz ein Produkt seiner Zeit-übermäßig um politische Korrektheit bemüht (man achte auf die Ausgeglichenheit von Geschlecht und ethnischer Herkunft) und stets werden die Ungerechtigkeiten von Oben nach Unten thematisiert. Nun hatte Bong Joon-Ho die Möglichkeit diese Haltung mit einer klar positionierenden Form zu unterstützen oder er hatte die Möglichkeit sie gewissermaßen zu entfremden, sie zur freien indirekten Rede zu machen. Aber der überschätzte koreanische Regisseur vermag lediglich mit seiner Form zu sagen: Da sind Gegensätze! Er findet keine Möglichkeit uns filmisch zu vermitteln welcher Art diese Gegensätze sind, welche Position er dazu hat und ob diese Gegensätze stabil oder fragil sind. Am Ende des Tages ist die Schärfenverlagerung von einer Waffe auf ein zitterndes Gesicht, dann nicht der Schlag in den Magen, der es sein sollte, sondern lediglich ein Ausdruck technischer Fähigkeiten zur Herstellung konventioneller Bildsprachen. Es wäre aufregend gewesen, wenn die Unterdrückten immer nur als unscharfer Schatten fungieren würden in diesen Szenen genauso wie es spannend gewesen wäre, die Unterdrücker als unscharfe Bedrohung, als Untouchable am anderen Ende des Zuges zu inszenieren. Dadurch wäre auch eine Haltung des Filmemachers erwachsen.

Die Tiefenschärfe als Entfremdung

Snowpiercer6

„Snowpiercer“ verzichtet fast gänzlich darauf zu vermitteln wie es sich anfühlt 17 Jahre unter solchen Bedingungen zu leben. Erstaunlich ist, dass die Menschen zwar davon erzählen und zum Beispiel kurze Schocks bekommen, wenn sie vom Licht geblendet werden, aber ihre Wahrnehmung der Welt nicht darunter gelitten zu haben scheint. Dabei würde gerade die Tiefenschärfe die Möglichkeit beinhalten, anzuzeigen, inwiefern man sich-gerade im Hinblick auf die abstruse Backgroundstory von Curtis-von sich selbst entfremdet. Wo ist der Schutzwall, den die Überlebenden in ihrer Wahrnehmung aufgebaut haben müssen? Wo ist ihre Leere? Wo ist ihre Dauer? An dieser Stelle mag man nun wirklich einwenden, dass es niemals das Ziel von „Snowpiercer“ sein kann, ein menschliches Drama zu erzählen. Darum geht es auch nicht, sondern lediglich darum wie einfach und subtil der Film ein Gefühl für diese Figuren mit der Tiefenschärfe hätte erreichen können und wie er trotz seiner häufigen Verwendung dieses Stilmittels nicht ein einziges Mal in die Verlegenheit kommt es zu tun. Lediglich ganz am Ende, wenn Curtis für einige Momente alleine im Herz des Motors steht und alles um ihn herum unscharf wird, erfährt man einen solchen Moment. Der Gedanke von Bong Joon-Ho ist, dass man in einer solchen Umgebung niemals alleine sein kann, dass also so etwas wie inneres Leben, wie Nachdenken kaum stattfindet. Aber gerade das Fehlen dieser Rückzugsmöglichkeiten etabliert doch eine solche Entfremdung. Man merkt der Bildsprache nicht an, dass dieser Zug ein Gefängnis ist. Wenn ein Film eine ganze Welt in einen Zug verlegt, dann wird er sich solchen existentialistischen Themen stellen müssen. Insbesondere, wenn er am Ausgang damit wartet, dass alles Teil eines größeren Plans ist. „Snowpiercer“ bedient diese Gefühlslage inhaltlich, indem er von gescheiterten Fluchtversuchen und von Gefängniskonstellationen erzählt, nicht aber formell. Man denke beispielsweise an die klaustrophobischen Gänge in „Das Boot“ von Wolfang Petersen oder an die verunsichernden Weitwinkel-Unschärfen in Denis Villeneuves „Incendies“. (Ich nenne hier bewusst Filme, die wie „Snowpiercer“ einen Unterhaltungsanspruch haben; wenn man mit der Tiefenschärfe bei Michelangelo Antonioni beginnen würde, wäre das unfair) Dort wird der Raum als eine Beschreibung des Lebens spürbar. Dies geschieht nicht in „Snowpiercer“ und das ist ein großes Versäumnis des Films. Ich fühle nicht, was diese Menschen erleben und deshalb erscheint mir ihr Begehren, ihre Revolution als abstrakte, intellektuelle Idee statt als Notwendigkeit. Einzig eine auch technisch interessante Schärfenverlagerung von der zerstörten Eislandschaft draußen auf das Fenster, das vor dieser Welt zugleich schützt und sie verhindert, zeugen von einer Sehnsucht, die auch in den Bildern greifbar wird.