How To Disappear Completely von Raya Martin


Komm schon liebes Kino, lass uns eine bunte Tablette schlucken, miteinander schlafen und verschwinden. Lass mich die Welt neu sehen, lass sie mich neu erleben. Zu elektronischen Beats treiben Geister und Skateboarder ihr Unwesen im philippinischen Urwald; unscharfe Figuren torkeln durch Zeitlupensequenzen und dauernder, umgestellter Regen lässt die hypnotischen Bilder dampfen. Lass uns im Regen tanzen, durch die ganze Nacht. In einer dolanesquen Geistergeschichte, die den Horror durch Film erzählt statt mit Film Horror zu erschaffen, bedient „How to disappear completely“ auch das Repertoire eines Apichatpong Weerasethakul samt Volkssagen und dem Bruch mit der vierten Wand, die hier sowieso nur zum Dubstep von Eyedress vibrieren würde. In nie gesehenen assoziativen Strömen fängt Raya Martin das Gefühl von einer kindlichen Bedrohung, vom Albtraum der Kinder auf; es ist eine Wahnvorstellung, die sich am Ende gegen sich selbst verkehrt. Ganz so wie, wenn die Skateboardgang am Friedhof Kreuze zerschlägt und dann kleine Mädchen jagt und damit die Stätte des letzten Friedens zu einem Ort jugendlicher Anarchie verkommen lässt, werden auch die Kinder, die Opfer des Blicks und ihrer Eltern sind zu grausamen Tätern; sie verbünden sich mit ihren Ängsten und erschießen eine ganze Generation. 
Warum? Wegen des Gefühls. Das ist zumindest, was im Film zu hören ist. 
Ein Hinterkopf und dröhnende Wellen. Langsam eröffnet sich in der Tiefe des Bildes der Ozean. Und dann sind plötzlich alle Kinder weg. Es ist ein verstörender Film über einen Generationswechsel, ein Schrei nach einer neuen Form des Kinoerzählens. Inspiriert vom amerikanischen Indie-Horror zaubert Martin Stimmungen auf sein Trance-Tablett, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Improvisation und Bewegung, Horror und Drama, Mutter und Tochter, alles vereinigt sich hier; ein inzestuöser Hauch fegt über die kargen Gesichter eines brillanten Casts; überall sind Puppen, die in die Kamera blicken. Martin lässt mich das Denken vergessen, ich nehme noch eine Tablette. 
Film ist das Gefühl von Horror. Film ist das Gefühl. Film ist. Film. 
Natürlich geht Martin am Ende über die Schmerzgrenze, er verliert fast seinen Geschmack. Man schmeckt nichts mehr, wenn man so lange durch die Nacht getanzt hat. In Flammen erscheint der Titel kurz vor Ende des Films auf der Leinwand; der Film brennt. Die zirpenden Grillen des Urwaldes werden auf der Tonebene zu kreischenden Monstern, isolierter Bass drückt das Herz in eine unbekannte Zone, ein Zeh kratz über einen Unterschenkel. Dunkelheit und Licht werfen schon auf dem Zimmerboden der Protagonistin gefährliche Schatten auf die Familie. In einer langen Szene sieht man das Mädchen von hinten am Essenstisch während links und rechts von ihr in der Unschärfe Mutter und Vater beginnen zu streiten. Martin arbeitet mit einer Entfremdung und der surreale „Lost Highway“ transzendierende Horror ist sein unsichtbarer Umhang, der alles Drama hinter einer Maske des Grauens versteckt. Wie eine Welle, die ganze Landstriche unter Wasser setzt, blicken nur noch kleine Hügel heraus. Woher hast du diese Tablette liebes Kino? 

Like someone in love von Abbas Kiarostami


Tatsächlich schaffen es Filme von den wichtigsten zeitgenössischen Regisseuren manchmal, wenn auch mit großer Verzögerung noch zu einem regulären Kinostart. „Like someone in love“ ist Abbas Kiarostamis neuester Film und gewissermaßen zur Abwechslung verlagert der iranische Filmemacher die Handlung nach Japan. Dort lässt er drei Menschen aufeinander prallen. Eine junge Prostituierte, ihr alter Kunde und ihr Freund. Die Prostituierte ist eigentlich Studentin, ihr Freund weiß nichts von ihrer zwielichtigen Arbeit und der ältere Herr, der sich das Mädchen bestellt, baut eher Vaterschaftsgefühle als sexuelles Verlangen auf. Wie man das vom Altmeister gewohnt ist verpflichtet er sich mit Strenge und Brillanz dem Realismus. Lange Einstellungen, die sich mit alltäglichen Bewegungen auseinandersetzen und immerzu mit der Erwartung des Kinopublikums spielen, die Sehgewohnheiten herausfordern und so zu einer tieferen Wahrheit gelangen. Ganze Dramen vollziehen sich dabei wie typisch für Kiarostami im Auto, hinter Glas, in einem isolierten Raum, der manchmal durchdrungen wird und manchmal nicht. 
Was dabei besonders augenfällig ist, sind die simplen Auflösungen, die Kiarostami errichtet, die aber ungeheuer präzise und effektiv sind. Schuss/Gegenschuss heißt bei ihm einen ganzen Raum zu erfassen. Wenn Menschen mehrfach an einen Ort kommen, hat man das Gefühl schon dort gewesen zu sein. Ähnlich wie Michael Haneke gibt es kaum Überreste in den Filmen von Kiarostami, wie ein Philosoph reduziert er auch so die Handlungsträger. Aber es ist kein Minimalismus, der selbstgefällig ist, sondern eine Entledigung von allem Überflüssigen und Konstruierten. In vielen Zweiergesprächen bewegt sich der Film durch die Handlung, Andeutung reichen aus und gehen tiefer als manche psychologische Ausarbeitung bei anderen Filmen. Im Vergehen der Zeit können sich so kleine Zwischenräume offenbaren, die anders gar nicht sicht- oder hörbar wären. Dann gibt es da noch das Auslassen. Es ist die Kunst dieses großen Filmemachers zu wissen, wann er wegschneiden kann ohne seinen Film zu verletzten, sondern ihm im Gegenteil eine weitere Ebene hinzuzufügen. Damit erbt Kiarostami von Michelangelo Antonioni, denn wie der so häufig ist auch „Like someone in love“ am Abwesenden und Nicht-Sichtbaren interessiert. Schon in der ersten Einstellung des Films, einen Blick in eine Bar zeigt uns der Regisseur den Point-of-View seiner Hauptfigur bevor er sie selbst zum ersten Mal ins Bild setzt. Zu hören ist nur ihre Stimme. Und auch später erfährt man immer dann mehr über die Charaktere, wenn diese gerade nicht da sind. So unterhält sich die junge Frau mit der Nachbarin des alten Mannes und bekommt derart eine Idee von dessen Existenz. Fast als abwertende Geste gegenüber den ewigen Steckbriefpsychologien in vielen Filmen („Wie alt? Was arbeiten? Familie? Fetische? Schwächen? Stärken? Hobbies?)  kann man verstehen, wenn der Freier seiner Prostituierten auf Nachfrage sagt, dass sie schon selbst herausfinden müsse, was ihr Kunde beruflich mache. Interpretationsspielräume laden den Zuseher zu genau jenem „selbst herausfinden“ ein. Aber vielleicht-und da sind wir wieder im Kino von Kiarostami-ist die junge Studentin gar keine Prostituierte. Die Schönheit findet sich in den Spiegelungen vom Auto bis hin zum Schlafzimmer des alten Mannes.
Fast schleichend entwickelt sich eine latente Bedrohung, ein Spannungsmoment (Es liegt eine Gefahr in der Luft, die von Minute zu Minute greifbarer wird.), der paradoxerweise mit dem Einschlafen beginnt. Der Film handelt von einer Müdigkeit. Lebensmüdigkeit, soziale Müdigkeit, die Müdigkeit in einer Beziehung und die körperliche Müdigkeit. Somit ist der Film auch ein trauriges Lied auf das innere Absterben. Jene Müdigkeit liegt aber auch in der Perfektion des Films. Hier beherrscht ein Filmemacher sein Handwerk so gut, dass alle Reibungspunkte absichtlich scheinen. Die Rauheit früherer Filme fehlt „Like someone in love“ genauso wie die Doppelbödigkeit, die man von „Close-Up“ bis „Copie conforme“ immer wieder im Schaffen von Kiarostami entdecken kann. Ähnlich wie bei Roman Polanski oder Michael Haneke schleicht sich so der Verdacht ein, dass das Schaffen von Regisseuren, die zu absoluten Meistern ihres Metiers gereift sind, die praktisch alles zu beherrschen scheinen, eine gewisse Glattheit nicht abschütteln kann. Man vermisst Ungereimtheiten, Unstimmigkeiten, die auch oft eine gewisse Tiefe mit sich bringen und eben etwas Aufregendes und Neues bieten. Bei den letzten Filmen von Polanski, Haneke und eben auch Kiarostami erwischt man sich dabei-und ich habe das hier mehr als beabsichtigt getan-dass man mehr über die Markenzeichen der Regisseure nachdenkt als über die Filme selbst, die nur noch wie Varianten von altbekannten Stoffen wirken. Wie viel Potenzial für Abgründe und Unerwartetes in der Beziehung zweier Menschen unterschiedlichen Alters tatsächlich liegen würde, hat zum Beispiel Carlos Reygadas in „Japón“ (wieder Japan) aufgezeigt. Auch dort geht es um Lebensmüdigkeit.  Wie bei berühmten Rockstars fehlt den Spätwerken von großen Regisseuren oft die Unschuld und Direktheit früherer Werke. Dafür gewinnt die Zugänglichkeit. Aber eigentlich ist „Like someone in love“ einer der besten Filme, die man dieses Jahr regulär im Kino sehen konnte bis dato. Und spätestens mit dem Ende zeigt sich wie trügerisch die Glätte und Perfektion des Films doch war. Dann ist der Moment gekommen, an dem man sich einfach nur verneigen und die Überlegenheit dieses ganz großen Regisseurs anerkennen muss.

Das Gold im deutschen Kino


Im vieldiskutierten „Gold“ von Thomas Arslan treibt sich eine Gruppe deutscher Glücksritter quer durch die amerikanische Wildnis, auf dem Weg nach Dawson, wo das titelgebende Gold auf sie warten soll. Vieldiskutiert ist Arslans Goldgräber-Film, weil er mal wieder eine Debatte über Kunst und Kommerz im deutschen Kino auslöste, weil es Dietrich Brüggemann und anderen vehementen Gegnern des Films auf der Berlinale darum ging, dass es doch nicht sein könne, dass es neben dem dominierenden Dummkopfkino von Til Schweiger, Matthias Schweighofer und Konsorten nur die sogenannte Berliner Schule gibt, die unabsichtlich alles unter sich zu vereinen scheint, was nach Anspruch riecht. Was den Film letztlich so angreifbar macht, ist seine Inkonsequenz. Eine Inkonsequenz, die auch schon beim weichgespülten „Barbara“, Christian Petzolds schlechtestem Film bis heute (er ist nicht ganz schlecht, das könnte Petzold wahrscheinlich nicht) spürbar war.  Und dann liegt das unendliche deutsche Kinoproblem vielleicht nicht an einer aufklaffenden Diskrepanz zwischen Anspruch und Unterhaltung, (man muss ja nur mal nach Frankreich schauen wie fruchtbar ein solcher Boden dennoch sein kann) sondern an der fehlenden Radikalität dessen, was sich Anspruch nennt, aber mehr und mehr zu einem Requisitenkino verkommt und natürlich auch der Diskussion selbst, die sich weniger mit den einzelnen Filmen beschäftig als mit Gesellschaftsanalysen. Dadurch werden die Filme aber nicht besser. 
„Gold“ ist ein Anti-Western. Aber eigentlich ist er es nicht. In erschreckend sauberen Bildern marschiert die Truppe von Stereotypen durch die Landschaft und wenn nicht einmal gesagt werden würde, dass die Charaktere aus Bremen oder Hannover kommen, wäre das völlig egal. Für ein Kino der deutschen Identität schaltet man in diesem Land nach wie vor besser den Fernseher an. Arslan dreht also einen Anti-Western, aber bedient sämtliche Klischees eines amerikanischen Genres von dubiosen Indianern, geldgeilen Wegpassanten, Möchtegern-Anführern und einem grausam unpassenden, amerikanischen Verfolgerduo. Immer, wenn der Film etwas anders macht als ein klassischer Western kündigt er das groß an: Jetzt kommt die Frau als Heldin! Jetzt schneide ich weg, weil ich Thomas Arslan bin und ich immer wegschneide, wenn es interessant wird! Das wäre alles okay, wenn das Gesamtkonstrukt nicht in ein derart ebenmäßiges Filmchen gekleidet wäre, wenn nicht alles immer Erzählung wäre. Statt seine Charaktere zu beobachten, diktiert sie Arslan und gibt ihnen kleine Brocken Psychoanalyse ohne sie zu bearbeiten. Also weder Fisch noch Fleisch. Man merkt dem Film in jeder Sekunde seinen Versuch an verständlich zu bleiben und hölzerne Dramaturgien zu entwickeln. Das beißt sich immens mit dem Streben nach Realismus, der in kühlen und distanzierten Ästhetik von Arslan aufgeht. Das ist die Inkonsequenz. Entweder sollte der Film sexy sein und unterhaltsam, ein dreckiger-spaßiger Western eben mit Stereotypen oder er sollte sich mit anderen Dingen auseinandersetzen, vom Leben erzählen mit Individuen und nicht immer daran erinnern, dass es ja eigentlich ein Western ist, aber eben doch nicht. Das kann nicht interessant sein. Nichts über die Charaktere zu erzählen, ist nur dann wertvoll, wenn es etwas zu erzählen gibt. Außerdem ist das Konzept des Anti-Westerns kein wirklich neues. Kinogänger kennen die dramatische Reduzierung in finalen Shootouts genauso wie ungewöhnliche Ängste und Sorgen der Helden. Es ist ja der Western, der tot ist und nicht der Anti-Western. Aber hat Kelly Reichardt in ihrem „Meek’s Cutoff“ den Zuseher Staub fressen lassen und sich einer sinnlichen Meditation des Genres hingegeben und sich „The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford“ von Andrew Dominik der Studie eine Möchtegern-Westernhelden hingegeben, weiß „Gold“ nichts zu erzählen und zu fühlen. Man merkt dem Film in jeder Sekunde an, dass er Förderung gebraucht hat, um überhaupt realisiert werden zu können. Ohne den Berlinale-Schnitt zu kennen, der 13 Minuten länger ist, merkt man der jetzigen Kinofassung einfach an, dass er nicht bis in die äußeren Extreme geht, die ein solcher Ansatz verlangen würde.
Wichtig ist dann immer das Thema. Danach wird man gefragt…“Deutsche Goldsucher in Amerika. Ah, interessant, gute Idee, schaue ich mir an.“ Wenn aber das Thema auch für sogenanntes Kunstkino ausschlaggebend ist, dass der Film überhaupt gemacht wird, dann stimmt da was nicht. Es ist keine Frage, dass auch Filmemacher wie Arslan oder Petzold von ihren Werken leben müssen und man wohl froh sein muss, dass solche Filmemacher überhaupt noch gefördert werden und dass sie daher eventuell auch inhaltliche Zugeständnisse machen und Inhalt und Verständnis daher unnötig präsente Konstanten in der deutschen Filmwahrnehmung bleiben. Bezeichnend ein Artikel der Deutschen Presseagentur über die kürzlich zu Ende gegangenen Filmfestspiele in Locarno. „Aus dem überzeugenden Angebot des Hauptwettbewerbs, in dem 20 Spiel- und Dokumentarfilme liefen, wählte die Jury immerhin zwei Preise für Leistungen aus, die viele Festivalbesucher fesselten.“, heißt es da und immerzu wird darauf verwiesen wie sehr das Festival bei den Preisen auf Kunstfilme reagierte und wie wenig auf publikumsfreundliche Filme. Ein Festival soll also auch noch damit beginnen sogenannte Unterhaltungsfilme auszuzeichnen, damit noch weniger Produzenten sich an schwieriges, eigenwilliges, forderndes Kino wagen? Was ist eigentlich publikumsfreundlich? Mir ist bewusst, dass Film auch und vielleicht vor allem eine Industrie ist, aber die letzten Festungen, die sich dagegen wehren und die schon immer dafür gesorgt haben, dass sich dieses Medium weiterentwickelt und ein Mittel für künstlerischen Ausdruck ist, können doch nicht auch noch einknicken. Wenn in Locarno „Feuchtgebiete“ ausgezeichnet worden wäre, dann hätte das Festival in einigen Jahren keine Bedeutung mehr, denn es sind eben nicht die mittelmäßigen Blockbuster und zeitgenössischen Literaturverfilmungen, die die Zeit überleben und die auch in vielen Jahren noch Bestand haben werden, sondern die großen Filme. Egal, ob Kunst oder nicht, der Film selbst ist wichtiger als sein Publikum.
Womit wir wieder bei „Gold“ wären. Wenn dieser Film ein schwer-zugänglicher Kunstfilm wäre, dann würde er vieles besser machen. Aber da Arslan ein völlig klischeehaftes, sich am Mainstreamkino orientierendes Drehbuch abliefert, wirken die womöglich absichtlich steifen Dialoge einfach nur steif, die überraschenden Schnitte deplatziert und der immer wieder auftauchende Neil Young&Jim Jarmusch „Dead Man“ Gedächtnis-Score nervtötend. Und dann sind wir beim weichgespülten deutschen Kino von Regisseuren, die sich den Förderlandschaften anpassen müssen statt gegen sie zu rebellieren. Es gibt immer wieder Ausnahmen natürlich, aber es scheint mir schon ein Problem zu sein, wenn Deutschlands beste Regisseure nicht mehr gegen das System kämpfen, damit sie drehen können und dürfen. Nicht alles ist schlecht in „Gold“. Die Stimmung und das Raumgefühl, das Arslan erwecken kann, geben an vielen Stellen ein gutes Bild ab, er ist auch keineswegs zu lang oder ermüdend, die Charaktere wissen trotz ihrer einfachen Struktur zu überzeugen, was auch am guten Casting liegt. Es gibt einige intensive Szenen, aber insgesamt ist das alles so wie ein gut aufgewärmtes Mikrowellenessen nach Mamas Rezept. Besser wäre mal etwas neues, auch wenn es völlig schiefgeht. Wo also liegt das Gold im deutschen Kino? Als Nachwuchsfilmschaffender muss man auch möglichst schnell ums Überleben schwimmen, bleibt da Zeit und vor allem Kraft sich aus dem Fenster zu lehnen? Die Vergangenheit scheint mit einem gewissen zeitlichen Abstand natürlich immer etwas besser gewesen zu sein. Womöglich ist es also so wie im Film selbst. Der Weg zum Gold im deutschen Kino ist hart und beschwerlich und die meisten werden scheitern.  Da wohl in baldiger Zukunft niemand eine gute Straße nach Dawson bauen wird, muss man also entweder dort bleiben, wo man ist, die Wege gehen, die alle gehen oder alles riskieren. Vielleicht interessiert das Gold heute aber nicht mehr, sondern nur wie viel es wert ist.

Frances Ha von Noah Baumbach


Georges Delerue mal wieder im Kino zu hören, wäre doch unter Umständen nicht schlecht. Im Stile von „Jules et Jim“ von François Truffaut schneidet sich der Film „Frances Ha“ von Noah Baumbach dann auch konsequenterweise durch seine Erzählung, die um die End-20er Frances kreist. Diese Frances muss dann auch die Herzen des geneigten Zusehers wecken, da sonst vieles an der vom Regisseur anvisierten „kind of instant nostalgia“ verloren geht, denn hinter der Nouvelle Vague von Baumbach versteckt sich oftmals doch nur ein American Indie, der einem dieses bekannte American Indie-Gefühl gibt, bei dem man immer das Schräge und Seltsame als schön und normal wahrnimmt; manchmal ist der Film dazu-dankenswerterweise-aber zu konfus. Frances rennt, stolpert und treibt durch ihr Leben, hat einen eigenen Humor und kommt irgendwie nicht so richtig zu den Dingen, die sie eigentlich machen will (Tanzen). Greta Gerwig versucht zu verzaubern, es gelingt ihr von Zeit zu Zeit, weil sie zu improvisieren scheint und weil sie persönliches mit einbringt. So geben ihre Eltern auch ihre Eltern im Film und allgemein merkt man wie sehr sie involviert war in das Schreiben des Buches und die Produktion des Films. Sie vermag sich mit ihrer speziellen Art in das Herz des Zusehers zu spielen. Zum einen ist „Frances Ha“ daher eine missglückte Reminiszenz an die Nouvelle Vague, zum anderen ein recht charmanter Allenesquer Ausflug in die Welt der jungen Studienabgänger New Yorks, wenn man so will-man muss nicht-Die Stadtneurotikerin. 
Woody Allen ist auch ein Problem in diesem Film, der vielleicht mehr sein könnte, aber sich dann doch immer wieder in absurden Dialogen und einer erzwungenen Leichtigkeit verliert. Dieser tröstliche Blick auf das Leben folgt Mustern, die man schon zu sehr kennt und die Originalität und Offenheit des Charakters droht immer wieder hinter dem Konstrukt zu verschwinden. Denn warum wirken Montage und Mise-en-scène wie eine Skizze, wenn doch wieder alles in Bahnen gelenkt wird? Damit versprüht der Film durchaus den Charme von Truffaut, aber er sprüht ihn nicht wie etwa „Baiser volés“ quer durch den Kinosaal, sondern immer wohldosiert und immer wohlüberlegt. Selbst im Titel spielt der Film ja durchaus mit dieser Unfertigkeit. Aber selbst das löst er auf. Das ist keine „instant nostalgia“ Herr Baumbach, das ist sogar zu lange gekocht. Der Film fühlt sich so an, als würde Arnaud Desplechin tatsächlich wie Woody Allen inszenieren. Dennoch macht er Spaß. Denn „Frances Ha“ ist für Kinoliebhaber gemacht und nicht für Filmkritiker. Es ist ein Film, der dem Sommer die Erbarmungslosigkeit nimmt und einen Lebensentwurf zeichnet, der inspiriert, befreit und zum freundlichen Denken einlädt.
Das liegt dann wieder an Georges Delerue, das liegt an der wunderbaren Ästhetik des Films, an seiner ungezwungenen Art zu schneiden. Die New Yorker-Intellektuellen-Komödie erlebt mit diesem Film durchaus eine Wiederauferstehung. In gewisser Weise bewegt sich der Film also selbst wie Frances fort, eine stolpernde Tänzerin, die die richtigen Gedanken hat, aber nie ganz zum Ende kommt. Also auch eine Parallele zur Regiekarriere von Noah Bau. 

Italienische Dekadenz und Schönheit


Derzeit ist mit „La grande bellezza“ von Paolo Sorrentino ein exzessiver italienischer Film in den Kinos, der die fast vergessenen Bilderfluten eine Federico Fellinis wieder zum Leben erwecken möchte, ein opulente Geschichte vor einem großen Hintergrund: Der alternde, mondäne Schriftsteller Jep reflektiert über sein Leben in der Künstlerwelt des dekadenten Roms; ganz ähnlich also wie in Fellinis „La dolce vita“ mit Marcello dem etwas jüngeren Journalisten. Sorrentino kann sich gar nicht satt sehen an den geschminkten Gesichtern, alten Anzugträgern, dem billigen Sex und den glänzenden Palästen der Stadt. In einer famosen Eröffnungssequenz sprengt er jegliche Partyästhetik mit der beispielsweise der Hipster-Regisseur Xavier Dolan immer wieder in Werbeklischees fällt: Sorrentino betrachtet seine Figuren mit Zynismus und Verachtung, wogegen Dolan seine Figuren die Welt mit Zynismus und Verachtung betrachten lässt. Dabei schließt sich bei Sorrentino eine traumwandlerische Kamerafahrt an die nächste. Doch die Fahrten werden nicht ausgekostete, denn ein paar Meter weiter wartet schon das nächste Bild für die Götter. Dadurch erschafft der Regisseur einen Rauschzustand, der sich fast über die kompletten 2,5 Stunden zieht. 
Immer wieder finden sich absurd-komische Situationen, metaphorische Bilder und satirische Elemente in den Bildern von Sorrentino. Was der Film nicht vermag-und darin liegt gerade im Vergleich zu „La dolce vita“ eine größere Schwäche-ist die ernsten Momente „natürlich“ in das Geschehen einzubetten. Sorrentino wirkt immer ein bisschen wie ein American Independent Regisseur, der Musik und Drama braucht um Ernsthaftigkeit zu konstruieren statt sie einfach passieren zu lassen. Und dann wirkt diese ganze Dekadenz plötzlich gewollt. Auch Matteo Garrone hat versucht Dekadenz in seinem „Reality“ herzustellen mit einer ähnlichen Show-Off-Eröffnungssequenz. Zwar verpufft die Wirkung in „La grande bellezza“ nicht ganz so extrem wie in der Parabel auf den Drang nach medialem Ruhm von Garrone, aber es scheint doch deutlich zu sein wie sehr das italienische Kino seiner glorreichen Vergangenheit hinterherrennt.
Bei Fellini funktionieren diese Bilderfluten über Identifikation. Zwar sind seine Charaktere in Filmen wie „8 ½“, „Fellinis Satyricon“ oder eben „La dolce vita“ oftmals nahe an der bloßen Karikatur, doch im Kern identifiziert man sich mit den Figuren, insbesondere den Protagonisten, die immer wieder aus dieser Welt treten und den Wahnsinn betrachten beziehungsweise daran zerbrechen. Das Surreale ist immer ein Moment des Realen bei Fellini. Keine besondere Erkenntnis, aber womöglich wichtig zum Verständnis der lauten Copy-Cat Versuche von Sorrentino oder Garrone. In „La grande bellezza“ ist es auch ein  zweifelnder Existentialist, der sich die Welt von außen ansieht. Doch seine Entwicklung folgt einem weitaus klassischerem Storybogen, der die Wechsel von ernst und lustig, Ekstase und  Reflektion deutlich holpriger erscheinen lässt als im Kino eines Fellini. So wird uns Jep als eine Figur vorgestellt, die mit einer Zigarette auf seiner Party sein Leben zu genießen scheint und dies auch tut. Die Ambivalenz seiner Figur liegt darin, dass er die Mondänität gleichzeitig verkörpert und verachtet. Nach gewissen, Hollywood-geprägten Vorstellungen von Dramaturgie ein wahnsinnig gut geschriebener Charakter. Auch Marcelo in „La dolce vita“ hat diese Doppelbödigkeit. Aber er verbündet sich nicht mit dem Zuseher. Lässt keinen Einblick in seine Gedanken zu wie Jep. Man blickt vielmehr durch seine Augen. Die Erzählstimme von Jep wirkt wie eine Verfremdung statt Identifikation zu stiften, zumindest ist sie unelegant. Das Problem von einer zu großen Spanne an Gefühlen entsteht für Sorrentino und er packt den Film voll wie eine Reisetasche in die alles rein muss, was man mitnehmen kann. Die Frage, die er sich immer stellen muss, ist: Wo lasse ich den Charakter nachdenklich werden?
Und leider passiert dies zu häufig zu bewusst. Bei Fellini ist es nicht nur Marcello der nachdenklich wird. Es sind viele Charaktere, aber was noch viel deutlicher zum Vorschein kommt ist, dass ein Fellini Film immer von einem bestimmenden Gefühl durchzogen ist. Die neorealistische Überwältigung spielt auch in seinen Spätwerken die alles entscheidende Rolle. Sie hat sich eben nur nach innen, in die Neurosen seiner Charaktere verzogen. Wo Fellini der Zeit Raum gibt und überwältigende Situationen aus etwas alltäglichem entstehen lässt, da muss Sorrentino auf das große amerikanische Vorbild zurückgreifen (sein letzter Film, „This Must Be The Place“ wurde ja auch genau dort gedreht und war ein noch viel mehr gezwungener, klassicher Selbstfindungs-Plot.  ) und die Situationen konstruieren; oder anders: Der nachdenkliche Jep braucht einen Auslöser oder traurige Musik, um nachdenklich zu werden. Sieht man sich an was Visconti oder Fellini gemacht haben in ihren Filmen, bemerkt man, dass es diese dramaturgischen Trigger kaum gibt. Die Spitze dieses verinnerlichten Kinos war dann Michelangelo Antonioni. Bei ihm haben seine Charaktere die gleiche Dekadenz und traumwandlerischen Situationen erlebt wie jene bei Sorrentino. Aber er hat das in seiner Inszenierung völlig versteckt. Bei ihm war alles von Entfremdung (auch wenn der Begriff im Verhältnis zu Antonioni überstrapaziert ist) und der Umwelt durchdrungen. Ein Nachbar, wie jener in „La grande bellezza“ wäre selbst nach seiner Verhaftung nicht von einer Stimme aus dem Off erläutert worden, nicht jede Kleinigkeit wäre in einen Gag verwandelt worden. Die Dinge wären einfach nur. Egal, ob die Charaktere da sind oder nicht wie in „L’eclisse“. Dinge passieren einfach.
Der Unterschied liegt auch in der Form. Ähnelt „La dolce vita“ eher einer Ansammlung verschiedener Episoden, so ist „La grande bellezza“ zu einem merkwürdigen, ganzheitlichem Selbstfindungstrip zusammengeklebt. Bei Sorrentino ist fast alles im Schnitt erzählt, während bei Fellini Personen in der Mise-en-scène plötzlich das Bild betreten und die Kamera sich verschiedenen Bewegungen hingebt und so ganz dem Treiben durch die Nacht entspricht, dem sich Marcello so hingibt. Wenn Maddalena auf der Party zum zweiten Mal auftaucht, wirft sie einen Schleier über Marcellos Kopf, als dieser etwas verloren im Raum steht. Es gibt keinen Schnitt, der sie einführt, sie ist einfach Teil der Szenerie. Auch verlässt die Kamera Marcello immer wieder. Sei es, um den Journalisten verloren im Raum stehen zu lassen wie in der kleinen Strandbar, in der er versucht seiner Arbeit nachzugehen (er versucht es ja im Gegensatz zu Jep) oder um einer anderen Figur zu folgen, wie etwa Steiner als er seinen Sohn im Schlaf herzt. Allerdings handelt es sich dabei immer um einen vermeintlichen POV von Marcello. Wenn Sorrentino solche Situationen sucht, wie etwa bei dem kleinem Mädchen, das schreiend mit Farben eine Leinwand bewirft, dann sucht er sein Heil in jenem surrealen Element, das eben nichts mit Fellini zu tun hat, da es sich vom Protagonisten entfernt und zur bloßen objektiven Realität des Films verkommt. Erstaunlich, dass der Film in seiner Montage dadurch manchmal Ähnlichkeiten zu „Spring Breakers“ von Harmony Korine und „Only God Forgives“ von Nicolas Winding Refn aufweist. Eine losgelöste Montage, um einen schwebenden beziehungsweise körperlosen Zustand herzustellen.  Die Zeit wird aufgelöst und die Geschichte tritt hinter die Montage. Nur leider scheint sich das mit einer auf Figuren bezogenen Identifikation, die der Film anderswo einfordert zu beißen. Bei Korine und Refn wird eher eine auf den Film bezogene Identifikation verlangt, weswegen die Montage dort besser zu funktionieren scheint. In jedem Fall produziert sie einen künstlerischen Überschuss, der wie ein Aufbegehren zu dekadentem Filmemachen im Jahr 2013 wirkt. L’Art pour L’art sozusagen, manchmal mehr, manchmal weniger. Kein Wunder, dass Jep immer wieder über Flauberts Idee spricht einen Roman über das Nichts zu schreiben.
Dennoch kommt Sorrentino erstaunlich nahe mit seiner Geisterbeschwörung des alten italienischen Kinos. Sein Jep ist einer der spannendsten Charaktere des Kinos 2013. Die Art und Weise wie das italienische Kino Pathos in Szene setzen kann ohne dabei billig oder kitschig zu wirken, bleibt beeindruckend. Eine Leuchtturm-Romantik bei Nacht wirkt nicht ganz so verkehrt wie sie sich anhört, die Bilder von Rom lassen Woody Allens traurigen Versuch von einer Stadt, die er nicht kennt zu erzählen, noch viel trauriger erscheinen. In der Breite funktioniert der Film besser als in seiner Linearität. Will heißen, dass das bloße Portrait dieser Gesellschaft weitaus besser gelingt als die Erzählung, in die das ganze eingebettet ist.  Nur würde man sich wünschen, dass „La grande bellezza“ noch mehr Verachtung und weniger Herz beinhalten würde.  Dann wäre er ein richtig schönes Stück dekadentes Kino. Aber vielleicht ist ein Vergleich mit den großen Filmen Italiens der 50er und 60er Jahre auch gar nicht angebracht. Vielleicht soll das ganze einfach ein unterhaltsames Stück Kino sein, mit einem kleinen Fingerzeig in die richtige, schon fast vergessene Richtung. Schließlich enden sowohl „La dolce vita“ als auch „La grande bellezza“ mit einem Bild der weiblichen Unschuld am Meer. Bei Sorrentino geht der Protagonist in seiner Vergangenheit auf die Frau zu, bei Fellini dreht sich der Protagonist winkend ab und geht in eine Zukunft. Und genau hier liegt der Unterschied zwischen der schönen, verklärten Nostalgie und der bedingungslosen Suche nach einer Wahrheit. Fellini überlässt die Erkenntnis dem Zuseher, Sorrentino der Figur.
Trailer
La dolce vita (1960)
La grande bellezza (2013)

Das erste Kinohalbjahr 2013: Entfremdete Mütter

Wie immer möchte ich zur Hälfte des Kinojahres einen kleinen subjektiven Überblick über gesehene Filme geben und dabei nach Gemeinsamkeiten, Auffälligkeiten und besonders eindrücklichen Momenten suchen. Dabei werde ich nicht sämtliche oder gar die „besten“ Filme resümieren, die ich gesehen habe, sondern einen thematisch/formellen Schwerpunkt suchen. 2013 scheint mir bislang ein Jahr der Mutterfiguren im Kino zu sein. Allerdings weniger im Sinn von guten Müttern als Zuflucht und Ort der Geborgenheit/Heimat, sondern harte, brutale Mütter, die ihre Familien wie ein Business führen, die ungewöhnliche Wege gehen, die unter ihren Kindern leiden, die sich erst selbstverwirklichen bevor sie erziehen können oder die schlicht und ergreifend nicht da sind. Jene Vertrauensbasis, jene schützende Hülle unter die sich die Kinder gerne begeben würden, findet sich nicht mehr in der Figur der Mutter im Jahr 2013.

Le passé von Asghar Farhadi

The Place Beyond the Pines von Derek Cianfrance
Man hat viele leidende Mütter gesehen wie die verunsicherte Mutter von Adéle in La vie d’Adèle von Abdellatif Kechiche. Sie führt den inneren Kampf einer Mutter, die das Beste für ihre Tochter will und sich dennoch von den Beziehungs- und Selbstverwirklichungsvorstellungen ihrer Generationen verabschieden muss. Sie ist keine schlechte oder gar böse Mutterfigur, weil sie sich nicht in einer melodramatischen Konstellation gegen das Glück ihrer Tochter stellt. Ihr Widerstand erzählt sich in ihren Blicken, in ihrem Zweifel. Kechiche setzt die Eltern von Adèle in einen etwas zu platten Gegensatz zur Mutter von ihrer Partnerin Emma, die völlig aufgeklärt mit der Homosexualität ihrer Tochter umzugehen weiß. Doch entlang dieser Diskrepanz arbeitet sich der Film an die Wahrheit in Adèle selbst. Es geht eben nicht um familiäre Widerstände, sondern um einen inneren Widerstand, der ihr zu Beginn im Weg steht. In Xavier Dolans Laurence Anyways gibt es diesen inneren Widerstand nicht. In einer fast erschreckend nüchternen Analyse erkennt Laurence, dass sie als Frau leben muss, um glücklich zu sein. Dolan geht es mehr um die Reaktionen von Laurences Umwelt: Ihre Partnerin, ihre Kollegen in der Schule und eben auch ihre Mutter. Diese kommt zunächst gar nicht mit der Geschlechtsverwandlung ihres Sohnes klar. Unmissverständlich macht sie Laurence klar, dass sie bei Problemen nicht anzurufen braucht, sie sperrt sie aus der Familie aus. Doch nach und nach wird klar, dass sie weniger ihrer eigenen Überzeugung folgt, denn der Angst vor ihrem Mann. In einer für Dolan typisch überstilisierten Szene befreit sie sich dann aus dem Diktat ihres ständig fernsehschauenden Gattens und wird zur Verbündeten von Laurence. Manchmal. Also gibt es sie doch, die gute Mutter? Viele Mütter im Kinohalbjahr zerbrechen unter der Last ihrer Verantwortung wie Marie in Asghar Farhadis Le passé. Eine Frau, die zwischen zwei Männern und zwischen zwei Welten agieren muss und unter ihrem Familienalltag zu leiden beginnt; eine liebende Mutter vielleicht, aber die eigenen Sorgen sind zu groß. Ähnliches kann man wohl für Romina in The Place Beyond the Pines von Derek Cianfrance festhalten. Hier haben wir eine Mutter, die bereit scheint ihr eigenes Leben für ihr Kind aufzugeben, die versucht ihrem Sohn ein normales Leben zu ermöglichen. Doch sie kann nicht dagegen ankämpfen, dass der Vater fehlt. Und sie kann nicht dagegen ankämpfen, dass der Vater im Sohn weiterlebt. Sie versagt in ihrer Erziehung, weil sie das Kind nie hätte bekommen dürfen. Im Schicksalsspiel das Cianfrance vor dem Zuseher entfaltet, wird die Mutter ganz der griechischen Tradition in ein besonderes Licht gestellt. Sie wirkt wie ein reines Licht, das langsam zerbricht. In einer sich wiederholenden Szene wird sie zuerst vom Vater und später von dessen Mörder konfrontiert. Beide Male möchte sie einfach nur fahren; sie ist in einer konstanten Fluchtbewegung, in die sie sich selbst gebracht hat. Mit einem eigenen Charakter wird sie darüber hinaus aber nicht ausgestattet. Das Leid hat sich in die Mütter eingeschrieben, dass kein Raum mehr scheint für andere Emotionen. In Before Midnight von Richard Linklater kämpft Celine gegen diese Reduzierung auf die Mutterrolle. Sie leidet ebenfalls, aber sie leidet reflektiert. Etwas zu reflektiert, nicht nur für den Geschmack ihres Ehemanns. Die feministische Mutter, die mit zwei Kindern und ihrem Mann lebt, die ihm folgt, wenn er nach Griechenland reist und an sich selbst genauso zweifelt wie an ihrer Rolle. In ihrem Gesicht spiegelt sich Verachtung, als sie darum gebeten wird im Buch ihres Mannes zu unterschreiben, weil sie doch so eine tragende Rolle darin spiele. Sie kritzelt ihren Namen ins Buch, als wäre er eine saure Zitrone. Und so fühlt sie sich auch als Mutter. Selbstverwirklichung und Mutterpflichten bekämpfen sich und das Kinohalbjahr beginnt laut zu schreien: Bekommt keine Kinder!
Before Midnight von Richard Linklater

Only God Forgives von Nicolas Winding Refn
Aber die leidenden Mütter sind noch harmlos. 2013 scheint bislang auch das Jahr der brutalen, völlig skrupellosen Mütter zu sein. Frauen, die ihr Leben bereits aufgegeben haben und sich entweder völlig den eigenen Lüsten hingeben oder das Wohlergehen ihrer Kinder zu ihrem eigenen Fetisch gemacht haben und mit allen Mitteln dafür sorgen wollen, dass sie ihre Kinder nicht verlieren und dass es ihnen nach ihren verdrehten moralischen Vorstellungen gut geht. In Poziția Copilului von Călin Peter Netzer ist Cornelia eine solche Mutter. Als ihr Sohn ein Kind überfährt, beginnt sie damit alle notwendigen, nicht immer legalen Schritte zu unternehmen, um ihrem Sohn zu helfen. Die Nüchternheit ihres Vorgehens steht in krassem Gegensatz zur fehlenden Liebe zwischen Mutter und Sohn. Immer wieder teilt ihr der merkwürdig passive Sohn mit, dass er nicht fremdbestimmt werden will. Aber die Mutter holt sich alle Informationen die sie braucht bis hin zu den Sexualproblemen ihres Sohnes. Fast logisch, dass sie dessen Freundin nicht leiden kann. Sie ist zugleich ein starker Charakter, der sich den Angehörigen des Unfallopfers stellt, aber sie ist ein schwacher Charakter, weil sie das nur für ihren Sohn tut. Oder ist sie deswegen auch ein starker Charakter? Sie weint und wirkt dabei seltsam hart. Ähnlich opferbereit scheint lange Zeit die Mutterfigur in Kim Ki-Duks Pietà. Hier oszilliert die Mutterfigur zwischen  völliger Hingabe und kalter Racheengel. Die Unsicherheit darüber, ob es sich um die tatsächliche Mutter handelt, spiegelt das merkwürdige Gefühl der Mutterlosigkeit im ersten Kinohalbjahr wieder. Das inzestuöse Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist der Gipfel dieser verschwommenen Wahrnehmung. Auch in Stoker von Park Chan-wook gibt es diesen Hauch von völliger Anarchie und Inzest in der Mutter-Tochter Beziehung. Beide  lassen sich vom Bruder des verstorbenen Vaters verführen, werden fast zu Konkurrentinnen. Die Mutter verzichtet auf Trauer und gibt sich lieber dem eigenen Glück hin, weil sie es nicht anders gewohnt ist. Allerdings handelt es sich bei ihr um eine passive Mutterfigur. Auffallend ist trotzdem, dass sich die Verdorbenheit der Mütter auf ihre Kinder überträgt. Das psychisch gestörte Verhältnis hält dabei immer als altbewährte Möglichkeit zur Interpretation des Geschehens her, ist aber auch absolut handelsantreibend, weil die Mütter eben nicht verborgen im Hintergrund agieren, sondern ins Zentrum der Handlungen gerückt werden. So auch in Nicolas Winding Refns Only God Forgives, in dem die Mutter als eiskalte Furie mit dem Namen Crystal auftritt, um Rache für ihren geliebten Sohn einzufordern. Und zwar von ihrem ungeliebten Sohn. Sie ist die brutale Macht und der Film könnte die Geschichte einer pervertierten Befreiung aus dem Leib der Mutter erzählen. (Er könnte aber auch gar nichts erzählen.) Refn zeigt die Mutter am Ende eines Tisches, sie ist das Oberhaupt; die Familie ist ein Business, alle sind verdorben. Ein Spiel, auf dem Schachfiguren geschoben werden, aus dem auch die Mutter in Borgman von Alex van Warmedam ausbrechen will, bis sie erkennen muss, dass auch sie nur Teil des Spiels ist. Aber trotzdem scheint sie fast dankbar zu sein ihre Familie und ihr Leben zu verraten. Die Mütter leiden unter, regieren oder widersetzen sich ihrer Familien. In The Master von Paul Thomas Anderson tritt Peggy Dodd als eine Art Lady Macbeth, als skrupellose Frau hinter dem Sektenführer auf, um zu einer unsichtbaren Mutter des Clans zu werden, die die Geschehnisse lenkt und bestimmt, und den Vorgaben einer Religion weitaus bedrohlicher folgt, als ihr Mann. Sie holt sich, was sie für richtig hält. Die Mütter sind kalt. Als die Mutter in Tore tanzt von Katrin Gebbe plötzlich mit einsteigt in die grausamen Folterspiele, die mit dem jungen Jesus-Freak in der Schrebergartenanlage durchexerziert werden, wird sämtlicher Glaube an das Gute erschüttert. Wenn Mutterfiguren im Kino jemals etwas Gutes repräsentiert haben sollten, dann hat das erste Kinohalbjahr damit gebrochen. Auf dem Gesicht von Astrid findet sich Gleichgültigkeit, Perversion und nur äußerst selten ein Gefühl von Angst. Dagegen hat Tore selbst keine Mutter.
Pietà von Kim ki-duk

Poziția Copilului von Călin Peter Netzer
Denn manchmal sind die Mütter einfach nicht anwesend. Sie haben ihre Kinder mehr oder weniger aufgegeben beziehungsweise müssen sie aufgeben, denn nicht alle Mädchen in Spring Breakers von Harmony Korine werden zurückkehren. Es gibt Anrufe nach Hause, aber diese sind gekennzeichnet von derselben Entfremdung, die die Protagonistinnen auch vom Leben selbst zu haben scheinen. In merkwürdigen, traumartigen Sequenzen mit einer Mischung aus Voice-Over, Flashbacks und sich ständig wiederholendem Tondesign verfremdet Korine den Kontakt zwischen Kind und Mutter. Keine Realität bedeutet hier auch keine Eltern. In La jaula de oro von Diego Quemada-Díez verhandelt der Regisseur das Fehlen der Eltern fast spiegelverkehrt zu Korine als Zeichen für die Realität. Auf den Weg in die USA machen sich die Kinder hier ohne ihre Eltern, sie werden praktisch dazu gezwungen. Welch ein Unterschied. Während in Spring Break, die Kinder eine Eltern- und autoritätslose Welt feiern, entscheiden sich die Kinder bei Díez dazu ihre Eltern zu verlassen, um Schnee zu sehen. Nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden zu können und an den eigenen Träumen zu scheitern. Beides geschieht ohne Mütter. Auch ohne die Heilige Mutter Gottes wie Ulrich Seidl in Paradies: Glaube bemerken könnte. Sie hat keinen Platz in der Wohnung, alles ist vollgestellt. Wohin mit einer Mutterfigur in dieser Welt? Man stellt sie aufs Bett und erledigt seine Pflicht. So wie ein kurzer Anruf zu Hause, so wie eine Flucht. Wenn die Mütter nicht brutal zurückschlagen, verschwinden sie aus dem Kino. 
Tore tanzt von Katrin Gebbe
La jaula de oro von Diego Quemada-Díez
Der Ausblick auf die Zukunft der noch kinderlosen Frauen ist eine schwarze Leinwand. Zu hören ist das Zusammenpacken von Zelten wie in The Loneliest Planet von Julia Loktev. Kein Wort kann mehr gesprochen werden; eine Fahrt im Karussell wie in Take This Waltz von Sarah Polley. Kein Wort kann mehr gesprochen werden. Fast sarkastisch wirkt da das verfehlte Ende von Jacques Audiard in De rouille et d’os. In seinem Schlussbild zelebriert er das Zusammenkommen einer Familie. In Anbetracht des bisherigen Kinojahres ist dieses ein verklärtes Happy-End. Vielleicht sollte das Ende dieses kurzen Überblicks daher ein betagterer Film bilden, den ich im Filmmuseum Wien sehen durfte und der vielleicht besser beschreibt, wie Mütter sich im Film derzeit fühlen. In Michael Hanekes Lemminge: Arkadien will die schwangere Frau ihr Kind nicht bekommen. Sie sitzt in ihrer Badewanne. Es ist heiß und alles ist angelaufen, es dampft. Sie tritt aus dem Bad und stellt sich vor den Spiegel. Einen langen Moment blickt sie in ihr eigenes Gesicht, das Gesicht einer werdenden Mutter, einer leidenden Mutter, einer kaltblütigen Furie, einer Mutter in der Flucht? Sie versucht dem zu entfliehen. Erststeckt sie sich eine große Ladung Tabletten in den Mund. Dann verlässt sie das Bad und geht in die Küche. Sie beginnt zu springen, klettert auf den Stuhl und springt hinunter, klettert auf den Tisch und springt hinunter. Schließlich klettert sie auf den Schrank und springt von ganz oben auf den harten Boden, fest überzeigt das Kind damit loszuwerden. Sie zögert nicht, sie ist erbarmungslos. Und sie tut es immer wieder.

The Loneliest Planet von Julia Loktev


Ich erlaube mir einige einleitende Gedanken. Häufig beklage ich etwas mystifiziert das fehlende „filmische“ Element in sogenannten Filmen. Damit meine ich immer einen zu großen Fokus auf Themen, Narration und Schauspiel, der das eigentliche Potenzial des Mediums (Bild und Ton) nie ganz ausschöpft, sondern eher in die Nähe des Theaters oder der Literatur bringt. Das mag wie ein völlig veralteter Diskurs klingen, es mag auch ein völlig veralteter Diskurs sein. Aber er ist nicht veraltet, weil Filmemacher und Filmzuseher das immer völlig verstanden hätten, sondern weil man einfach nicht mehr gerne darüber redet. Nicht das Thema ist gestorben, sondern der Diskurs darüber. Es mag ja unterhaltsam und manchmal auf „thought-provoking“ sein, wenn Filme tolle Drehbücher haben oder eine gewisse inhaltliche Tiefe aufweisen, toll gespielt sind und coole Kamerafahrten haben. Das ist die gewinnende Form im Kino; es ist die Form, die die meisten Leute anspricht. Die ins Internet gewanderte cinephile Community (so sollte das nicht heißen) nimmt dann gerne Filme und führt sie wie ein kleines Wägelchen neben sich her und fährt damit in alle gesellschaftstheoretischen Kontexte, Filmtheorien und sehr modern (und ich mache das auch) in eigene Fetische, die gerade so im Trend sind. Das Gespräch über Film ist häufig ein Schwanzvergleich. Wer hat mehr gesehen, wer weiß mehr, wer hat mehr gelesen. Das ist alles irrelevant und hat nichts mit Film zu tun. Es hat etwas mit Film in einem größeren medialen Kontext zu tun, in Film als Unterhaltungsmedium, mit Film als historisches Medium. Das alles kann Film auch sein, aber das alles verdeckt die wahre Kraft des „Filmischen“, von Film als eigenständige Kunst. Man sollte nicht mit dem Film wohin gehen, sondern durch den Film gehen. 
Der von vielen dabei locker dahingesagte Unterschied zwischen Kunst- und Unterhaltungsfilm existiert nicht. Viel eher ist es ein Unterschied in der filmischen Sprache und da könnte man ganz einfach sagen, dass es entweder ein Film ist oder eben ein konsumierbares Laufbild. Es geht mir nicht um die materielle Ebene, also analog vs. digital, obwohl es mir darum auch gehen könnte. Ich denke man kann auch im digitalen Bereich „Filme“ produzieren, die den Eigenheiten dieser Kunstgattung entsprechen. In diesen Filmen erzählen sich die Emotionen nicht durch Dialoge, sondern durch Bilder und Töne; die Form des Films bietet eine Spielfläche für den Inhalt; Mise en scène, Montage, alles ist Teil einer Sprache, die sich autonom vom Inhalt und im Zusammenspiel mit dem Inhalt entwickeln kann. Film bedeutet auch Umgang mit der Zeit, ein Verständnis für Zeit; Zeit muss eine eigene Kategorie in einem Film werden. Diese Gedanken stammen nicht von mir, natürlich nicht. Julia Loktev hat mit „The Loneliest Planet“ einen Film gemacht, der filmischer nicht sein könnte. Es ist ein absolut wichtiger Film, ein wahrhaftiger Film, der es wagt zwischen den Zeilen zu lesen. In diesem Film erzählen sich Emotionen durch den Blickwinkel der Kamera, kleine Geräusche, das Spiel von Licht und Schatten, die Montage, die Plansequenzen, die Freiräume und poetischen Leerstellen.  
Immer wieder sieht man den Nacken von Hauptdarstellerin Hani Furstenberg. Loktev zeigt ihn von nah und fern, von der Seite und im Profil. Ihr zunächst glückliches Paar befindet sich auf einem Trip durch den Kaukasus. Die Natur dringt durch diesen Film zugleich als Schönheit wie als Bedrohung. In einer Szene stoppt der eigenwillige Führer des Paares und deutet den beiden an, dass es eine Gefahr geben könnte. Er blickt ernst und wirkt angespannt. Man hört jeden kleinen Ton. Sie gehen über einen grünes Feld mit großen grünen Blättern und die ganze Geräuschkulisse wirkt wie eine einzige Bedrohung; in jedem Moment der Freiheit und Liebe in diesem Film steckt schon ein bisschen Angst. Loktev inszeniert Liebe nicht als Gefühl, sondern als Gedanken, der in jedem Moment die Flucht ergreifen könnte. Sie erreicht das durch genuin filmische Mittel. So konzentriert sie sich auf Körperteile ihrer Protagonisten statt deren ganze Körper. Sex wird über die Füße erzählt, Nähe mit den Händen. Außerdem findet sich das Grauen immer in jenen Momenten, in denen die Kamera nicht zusieht oder sie geschehen so schnell, dass man nicht genug gesehen hat. Nicht immer sieht man alles. In langen Einstellungen am offenen Feuer bei Nacht verschwinden die Konturen der Charaktere immer wieder in Dunkelheit. Ein unberechenbares Gefühl von Machtlosigkeit entsteht.
Diese Machtlosigkeit wird auf Bild-und Tonebene in eine Bedrohung verstärkt. Zum einen durch totale Einstellungen, in denen die winzigen Charaktere meistens von einem mehr als beeindruckenden Naturhintergrund erschlagen werden; sie bewegen sich durch diese Landschaft wie ein winziger Teil von ihr, der keine Chance gegen die Gesetze der Natur hat. Zudem befindet sich der Ton immer auf Höhe der Kamera. Einmal sitzen Hani Furstenberg und Gael Garcia Bernal auf einem heruntergekommenen Gebäude.  Furstenberg wirft Steine in Richtung der Kamera und der Aufprall ist ganz nahe zu hören. Der Zuseher hat keine Chance zu entkommen, wir sind immer dort, wo das Bild ist, nie da wo unsere Gedanken und Interpretationen sind. Man achtet auf jeden Schritt, jeden Blick, jede Geste. Der Film zwingt einen dazu hinzusehen und hinzuhören. Dabei ist es nur konsequent, dass die georgischen und spanischen Passagen im Film nicht untertitel waren. Man braucht das Wort nicht zu verstehen, um den Film zu sehen. Im Kino von Loktev schwingt etwas Unsichtbares mit, das man erst sehen kann, wenn man sich völlig auf das Sichtbare einlässt.
Wenn die Frau droht ihrer Liebe vollständig zu entfliehen, verzichtet der Film auf jegliche Montage; in einer langen Einstellung sitzt die Kamera mit den Darstellern am Feuer und begleitet jede kleine Regung. Immer wieder queren die drei Figuren das Bild von links nach rechts oder andersherum.  Dadurch, dass der Film das Vergehen der Zeit offenbart, verliert er jegliche Zeitbezogenheit, er wird zeitlos. So wie manche Kritiker die Filme durch verschiedene kulturelle Wissensparten schieben, so fahren auch verschiedene Filmemacher mit ihren Filmen an verschiedene Orte statt durch sie zu fahren. Loktev lässt die Natur in ihren Film kommen; sie inszeniert Realismus, der ihre Sicht auf die Welt genauso inkludiert, wie eine völlige Zurückhaltung. Sie beobachtet. Aber sie beobachtet aus einem bestimmten Blickwinkel. Man muss nicht sprechen, wenn es regnen kann. Der Film trifft den Zuseher auf einer affektiven Ebene. Dies wurd durch eine Tonspur, die ins Schwarz vor und nach dem Film hereinreicht verstärkt, durch Bilder, die sich, wie beispielsweise die Eröffnungsszene nicht vollständig erklären, aber die einen genau deswegen beunruhigen. Könnte man alleine vom Ton in der Titelsequenz noch von allen möglichen Dingen ausgehen, offenbart die erste Einstellung eine etwas verlorene Hanni Fürstenberg, die nackt in einer Dusche steht und auf und ab sprintg. Sie wartet auf ein Handtuch, womöglich ist er kalt. Was beunruhigt ist, dass der Mann nicht da ist und dass er das Handtuch sehr spät bringt.
Damit hat Loktev einen Film gemacht, den man im modernen Kino sonst nur von großen Regisseuren wie Bruno Dumont, Nuri Bilge Ceylan oder Carlos Reygadas erwarten kann.  „The Loneliest Planet“ ist sich seiner Machtlosigkeit bewusst und versucht nichts zu kontrollieren. Es ist kein Film über etwas, sondern mit etwas. Nichts wird hergestellt, weil alles gesehen und gehört wird. Willkommen im Kino.

No von Pablo Larraín

Bei „No“ von Pablo Larraín haben wir es mit einem politischen Film zu tun, der derart souverän sämtliche Fehler anderer historisch-politischer Filme vermeidet, dass man zwar den ganzen Film über kaum spürt, dass es sich womöglich um einen herausragenden Film handelt, am Ende aber einfach keine Schwächen finden mag. Es geht, um die Vergangenheit Chiles, aber irgendwie auch um die politische Irrelevanz im modernen gesellschaftlichen Diskurs. Was muss man tun, damit Menschen zur Wahl gehen? Der Fokus liegt dabei auf René (anfangs gespielt, später verkörpert von Gael Garcia Bernal), einem Werbekreativen, einem Massenmanipulator.
 

  

„No“ vereinigt filmisches und politisches Understatement. Die Bilder kommen im schmutzigen Videolook daher, samt Wackelkamera, fehlendem Kontrast und schmalem Seitenverhältnis. Look also nicht als Spiegel der Zeit wie etwa bei den unmotivierten Boxkämpfen in David O. Russels „The Fighter“ oder Michael Hanekes „Das weiße Band“, sondern Stil als politisches Konzept, als filmische Politik. „No“ zeigt ganz im Kontrast zu vielen amerikanischen Wahlkampffilmen einen Wahlkampf ohne großes Pathos, ohne einen Idealismus, der einem ins Gesicht schlägt und gar nicht mehr atmen lässt. Trotzdem bekommt man Gänsehaut, etwa als einer der Offiziellen zunächst verkündet, dass Pinochet in seinem Amt bestätigt wurde und man die enttäuschten Gesichter im Raum betrachtet. Nur gibt es da zum einen das Gefühl selbst die Wahl zu haben. Selbst! Nüchtern und trocken scheint der Film die Werbespots der Opposition und die der Regierung original hintereinander zu zeigen. Natürlich findet in diesen Szenen bei Larraín ein Auswahlverfahren statt, natürlich hat er Mittel den Zuseher zu manipulieren, auf die Seite der Opposition zu bringen. Aber er gesteht auch deren Schwächen ein. Immer wieder musste ich dabei an die Diskussion gegen Ende von „Aprés Mai“ von Olivier Assayas denken: Inwiefern sollte eine Revolution sich der (filmischen/künstlerischen) Mittel der herrschenden Partei bedienen? In anderen Worten: Hier werden Bilder einer nicht-kapitalistischen Opposition mit den puren Mitteln des Kapitalismus, werbeästhetischen Bildern, die Freiheit als Produkt bewerben, gezeigt, um die Menschen politisch zu aktivieren. Keine intellektuelle Montage also und keine wirkliche Freiheit für den Betrachter/Wähler. Wir holen uns den Wähler, als würde er Cola kaufen. Doch denkt man beispielsweise an Fernando Solanas‘ „La hora de los hornos“ einem purem Aufruf in eine Revolution, bemerkt man, dass Werbeästhetik und Revolution durchaus zusammen gehen. Und irgendwie sind die klagenden Gesichter in Eisensteins Montageorgien doch auch nichts anderes als die Umkehrung des lachenden Milchschnitte-Gesichts.

Zum anderen versteckt der Film eigene Schwächen genauso effektiv wie die No-Kampagne selbst. Gewissermaßen stiehlt die Verfilmung damit das Erfolgskonzept ihrer realen Vorlage. In einer Szene wird auf einen der Mängel innerhalb des Wahlkampfes hingewiesen, die scheinbare Willkür des Regenbogens als Logo. Doch in einer spontanen Interpretation der Farben durch die kreative Leitung (ähnlich der Ausmessung der Größe von Ausschnitten in „Aviator“ von Martin Scorsese) rund um René flüchtet sich die Kampagne und damit auch der Film selbst in einen entwaffnenden Humor. Und das Casting von Bernal, der mit seinen treuen Augen ein absoluter Identifikationsstifter ist, selbst wenn der Film es gar nicht darauf anlegt, tut sein Übriges. Früher, da hätte Bernal mal das Milchschnitte-Gesicht sein können. Heute trägt er aber einen Bart und doch ist er auf merkwürdige Weise Kind geblieben. Ein Playmobil-Zug fährt durch seine Wohnung und als Vater wirkt er eher wie ein Bruder. Er liebt bunt und schön und positiv. Genau daraus macht er seine Kampagnen. Aus positiven Werten, die dieser Charakter (vielleicht ist Bernal auch immer noch in einem seiner selbstzusammengebrauten Träume aus „Science of Sleep“ von Michel Gondry gefangen?) lebt, wird das politische Schicksal eines Landes gestrickt. Immer wenn es droht sich ein wenig zu sehr in einem Überrealismus wie bei Finchers „Zodiac“ zu verlieren, erinnert sich der Film daran, dass er seine Botschaft ja an den Zuschauer verkaufen muss. Also bauen wir schnell noch einige tatsächlich bewegende Szenen ein. Nicht weil man so etwas nicht schon tausend Mal gesehen hätte, sondern weil einem die Vielschichtigkeit des Lebens von René gewahr wird, wenn dieser Mann, den man so häufig in seinem Job sieht, als Profi, plötzlich eine zutiefst zerbrechliche Fassade hinter seinem Harmoniedrang offenbart. Das könnte alles so danebengehen, funktioniert hier aber im Zusammenspiel ganz wunderbar.

Am Ende ist man sich dann auch gar nicht so sicher, was jetzt gewonnen wurde in dieser medialen Politikschlacht. Das spezielle an diesem Film von Larraín ist die Überzeugung, die man allen Beteiligten anmerkt. Bis zum letzten Komparsen vermittelt dieser Film eine Freude und eine Begeisterung für den Film. Dadurch wirkt der Film lange nicht so gefangen wie etwa Gus Van Sants „Milk“, der sich alleine auf seinem Hauptdarsteller ausruht und sich ansonsten, wie so oft im amerikanischen Kino, um die Wiederherstellung einer zeitlichen Epoche mehr bemüht als um alles andere. Dadurch hat man oft, dass Gefühl, dass irgendwer gleich „Print“ schreit und all diese schönen Schauspieler nach Hause gehen und etwas anderes machen. Bei „No“ dagegen wird man überzeugt. Vielleicht wird man auch manipuliert, aber der Film macht das so unheimlich clever, dass es einfach nichts dagegen zu sagen gibt.

Auf seine Art bildet der Film sozusagen ein Gegenstück zu Paul Thomas Andersons „The Master“. Dort wo Anderson aus jeder Pore nach Meisterwerk schreit, versteckt sich „No“. Dort wo bei Anderson eine politische Brisanz auf die Charaktere überspielt wird, zeigt „No“ Politik ungekünstelt und einfach. Dort wo Anderson an allen Ecken lose, auf ihre Art wundervolle Momente kreiert, ist „No“ an einer ganzheitlichen Struktur interessiert, die sich allerdings nie in banalen Botschaften oder emotionslastigen Identifikationsnummern verliert, sondern stets Respekt vor dem Zuschauer zeigt. So und nicht anderes sollte politisches Kino in unserer Zeit sein. Am Ende fährt René mit dem Skateboard durch die Straßen: Harmonie und Ästhetik im sozialen Kontext.

Das 1.Quartal 2013-Das Kino flieht vor der Realität


Wie schon im vergangenen Jahr möchte ich auch 2013 alle drei Monate auf das bisherige Kinojahr blicken und dabei nach Ähnlichkeiten und Tendenzen suchen, und (nicht immer) wertungsfrei einen Überblick über jene Filme geben, die es 2013 in die deutschsprachigen Kinos geschafft haben.

Freddie Quell, gespielt von einem losgelösten Joaquin Phoenix, sitzt müde auf einer dieser typischen Abendversammlungen von Lancaster Dodd, dem Sektenführer in Paul Thomas Andersons „The Master“. Alle sind ausgelassen, aber auch angespannt, weil sie die ganze Konzentration im Raum auf Dodd bezieht. In den purpurroten Gesichtern der 50er Jahre spiegelt sich nicht nur beschwipste Freude, sondern auch Angst. Einzig an Quell scheint das Leben im Bewusstsein vorbeizugehen. Er beobachtet Dodd und man fragt sich die ganze Zeit, ob er zu einem Urteil fähig ist. Dodd, dessen Netz aus rhetorischen Rechtfertigungen Philip Seymour Hoffman überzeugend ambivalent wiedergibt, macht sich auf zu einer Orson Welles-„Citizen Kane“-Showeinlage und beginnt vor der versammelten Gesellschaft zu singen und zu tanzen. Durch den beobachtenden Blick von Quell wirkt die Ausgelassenheit angestrengt, die Persönlichkeit oberflächlich. Plötzlich tragen alle Frauen im Raum keine Kleidung mehr. Die Kamera schweift über die nackten Körper. Selbst die schwangere Frau von Dodd sitzt nackt auf ihrem Stuhl und sie blickt Quell direkt an: Erwischt. Wo ist dieser Mann? Als wollte uns Anderson den ganzen Film dieses Abdriften demonstrieren, scheint er selbst keinen klaren Weg in seiner Narration zu gehen, auch er verliert sich in einer Fantasie von sinnlicher Schönheit. Wozu braucht man Realität, wenn man ohne sie viel besser leben kann? 

Es vollzieht sich ein Kampf zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, das Tierische und das perfektionierte Bild des Menschen. Margot sinkt in „Take this Waltz“ von Sarah Polley gegen einen Backofen. Sie denkt nach und wirkt eingesperrt, möchte immerzu fliehen. In völliger Unschärfe erscheint ein Mann an ihrer Seite. Eine Unschärfe, die die subjektive Vermeidung der Realität verdeutlicht und die sich immer wieder im Kino 2013 findet. Sie ist gleichzusetzen mit der Dunkelheit von Kathrin Bigelow’s „Zero Dark Thirty“, in der man sich im Haus von Osama Bin Laden Meter für Meter sich einer Realität nähern muss, die einmal beseitigt seltsam irreal wirkt.  Für Maya, gespielt von einer überzeugend abgestorbenen Jessica Chastain, ist die Arbeit Flucht vor der Realität und wenn sie getan ist, dann gibt es auch keine Realität mehr. Unschärfe, die gleichzusetzen ist mit der verschachtelten Erzählweise von Harmony Korine in seinem „Spring Breakers“; ein Film über die Flucht vor der Realität, der sich genauso taub anfühlt, wie ein Chat im Vergleich zu einem Gespräch. Unschärfe, die gleichzusetzen ist mit dem verhinderten Blick auf den Schützen am Ende von Thomas Vinterbergs „Jagten“, als die Sonne den Blick von Lucas versperrt. Glücklich ist Michelle Williams als Margot nicht an der Seite eines Mannes in ihrer Küche, auch wenn sie vieles daran setzt glücklich zu sein. Glücklich ist sie in der anonymen Farbenpracht eines Karussells. Einer konstanten Bewegung jenseits jeder Verantwortung. Wie Freddie Quell ist sie nicht gemacht für diese Realität.
Doch auch die Filme selbst fliehen vor der Realität, denn so wie die Erwachsenen in „Jagten“ der Fantasiewelt eines Kindes folgen und dabei vergessen selbst zu denken, weil man einem Kind offensichtlich immer genauso lange glaubt, wie man möchte, so verliert „Spring Breakers“ jegliche Beziehung zur Realität und verliert sich völlig in der Videospielwelt seiner Protagonistinnen. Und wenn sie die Kamera lange im Kreis dreht, zu den Klängen von Leonard Cohens „Take this Waltz“, dann wirkt das bizarr und unglaubwürdig, weil man Margot so etwas nicht zugetraut hatte oder weil alles einer Fantasie entspringt und sei es die Fantasie der Regie. Eine Fantasie, die Geschichte umschreibt, wie Quentin Tarantino das in seinen letzten beiden Filmen getan hat, die auch Filmgeschichte umschreibt und wie in „Django Unchained“ einen schwarzen Westernhelden bastelt, einen Sklaven, der zum Racheengel wird, sodass man nur noch schreien will: Mach sie fertig! Und schon ist man in einem filmischen Paralleluniversum, das kaum einer so überzeugend aufbauen kann wie Tarantino. Selbst wenn er droht von der Realität eingeholt zu werden in einigen Sequenzen, in seinen Dialogen, in seiner gewollten Überzeichnung und seiner Inszenierung verlässt er sie wieder. Seinem Credo, dass man Film und Realität klar trennen kann und muss, ist hier leicht zu folgen. 
Selbst wenn die Realität mit aller Grausamkeit zuschlägt, wirkt das seltsam surreal, so wie in der famosen Sequenz in „De rouille et d’os“ von Jacques Audiard, als Stéphanie während einer Dressur-Show am Swimmingpool von einem ihrer Wale angegriffen wird. Audiard findet eine poetische, allein durch Bilder erzählte Sprache, in dem Moment, in dem Stéphanie ihre komplette Existenz verliert. Er lässt einen Moment aus und holt Luft, bis er den Körper von Stéphanie blutend im Wasser schweben lässt. Und gleichzeitig kommt Alain rennend, verschwitzt aus der Unschärfe, in Zeitlupe; das Wasser fließt durch diesen Film, wie es will und erst am Schluss gelingt es durch die Eisschicht darüber zu brechen und es zu spüren. Aber seltsam viel Licht lässt auch dieses Ende trügerisch erscheinen, so wie in „Jagten“ als Lucas die kleine Klara über den Boden trägt, weil sie ihn nicht berühren darf. Der Film spielt damit, dass wir auch beginnen daran zu zweifeln, was wir glauben sollen. Wir reden hier nicht von einem naiven Realismus im Sinne einer Abbildung der Welt wie sie ist, sondern von unserem Glauben an die Bilder. Wie real sind die Überfälle der Mädchen in „Spring Breakers“? Warum stellt Korine seine Welt wortwörtlich auf den Kopf?  Was lesen wir in den Gesichtern von Freddie Quinn, Lucas oder Margot? Wer ist diese Maya, die den gesuchtesten Mann der Welt gefunden hat? 

Ein Shakespeare-Stück, das in einem Gefängnis von Mördern und Dieben einstudiert wird, die sich darin verlieren können, scheint der Inbegriff jenes  Fluchtversuchs des Kinos zu sein. Der Berlinale-Sieger von 2012, „Cesare deve morire“ von den Gebrüdern-Taviani, zeigt genau diese Glorifizierung der Kunst als Möglichkeit zu fliehen. Jemand anderes werden und die grausame Alltäglichkeit hinter Gittern vergessen. Ein Plädoyer für die Menschlichkeit der Kunst, die sich hinter diesem Spiel mit Identitäten verbirgt. Die Taviani-Brüder scheinen dabei in eine schwarz/weiß Ästhetik zu fliehen, um sich der Künstlichkeit der Realität bewusst zu werden. Ein Paradox, dass sich anders auch für Django, gespielt von Jamie Foxx, findet, der Rollen spielen muss, um an sein Ziel zu gelangen. Damit ist er gewissermaßen ein Gegenstück zu Mr. Orange aus Tarantinos früherem „Reservoir Dogs“, ein Mann der so fest an seine Rolle glauben muss, dass ihm alle anderen auch glauben. Das ist ja das Wesen der Filmschauspielerei in vielerlei Hinsicht, aber den Bildern können wir heute nicht mehr glauben und die Regisseure scheinen das zu wissen. Sie sagen uns so lange, dass wir nur einen Film betrachten bis wir es vergessen und uns plötzlich im Chaos einer völlig echten Wohnung in Ulrich Seidls „Paradies:Glaube“ finden, bis wir plötzlich realisieren, dass wir Osama Bin Laden erschossen haben und bis wir eine Freundschaft aufgeben müssen, weil wir an unseren eigenen Prinzipien scheitern, wie Dodd und Quell am Ende von „The Master“. Und dann erkennen wir wie Patrick in „Silver Linings“ von David O.Russell, wen wir die ganze Zeit über, in all den Tänzen, dem Aberglauben, der Flucht vor uns selbst, dem Weglaufen vor der Realität, den pathologischen Anwandlungen geliebt haben und wir stehen auf der Straße und sagen „Ich liebe dich“ und die Kraft der Filme hat nichts verloren, weil wir es glauben.