WdK Tag 5: „Apparatus“ – Die Selbstkritik der Anderen: I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Der Apparat. Der Staatsapparat. Der totalitäre Staatsapparat? Der Apparatschik? Seit Verabschiedung der bipolaren Weltordnung, ruft die Verbindung der Wörter Staat und Apparat seltsame Nicht-Erinnerungen, weil meist nie selbst erlebte, an Fünfjahrespläne, Arbeitserfüllungsquoten und weit verzweigte Labyrinthe kahler, mit Linoleum ausgelegter Korridore hervor; und hinter jeder Tür, dahinten am tiefen Ende jedes Spanholzschreibtisches ein Mann vom Apparat.

Im daran anschließenden Denken ist der Apparat für den einzelnen Bürger einerseits ein Außen, übergestülpt, die Gottmaschine, die alles am Laufen hält, verbunden mit kafkaesken Vorstellungen von Unübersichtlichkeit, Unadressierbarkeit und Unbeeinflussbarkeit. Andererseits ist der Apparat höhere Vorsehung, in welche der Bürger eingeordnet ist, die er als Zahnrad oder Dichtungsring oder Schraube und so weiter in reibungs- und verlustfreier Bewegung hält, allerdings ohne seine genaue Funktion oder seinen genauen Platz in Beziehung zu den anderen Teilen des Apparats zu kennen.

Die westliche Kunst- und Kulturszene erwartet aus jenen Regionen der Welt, denen man im ersten Schritt zuschreibt, nach dieser Logik des Apparates zu verfahren, im zweiten Schritt eine dissidente Kunst, die doch bitte erkennt, wie schlimm das alles ist, für die Freiheit des Individuums und die Selbstbestimmung und die dann – aus diesem Akt der vermeintlichen Erkenntnis nach den Maßstäben und zur Bestätigung einer schon lange kommerzialisierten Selbstfindungs-Metaphysik heraus – eine Geste des Protests, des individuellen Aufstands gegen das System inszeniert. Erst das Zahnrad, das plötzlich bemerkt, dass es eingesperrt und benutzt ist, aber ja gar nicht weiß was es ist und warum überhaupt, und dann der einsame Stinkefinger der Selbsterkenntnis vor den grauen Toren des Systems. Ai Weiwei kann nun auch nichts dafür, dass er berühmt geworden ist und herhalten muss als der gute Dissident, der die gute kritische Kunst zu machen hat; nach Zusammenbruch der Sowjetunion war halt noch China übrig. Das Effiziente an dieser Logik der westlichen Selbstbestätigung über den Umweg der Selbstkritik der Anderen ist, dass sie im Abstand zu dem verschwommenen Dort beinahe jede künstlerische Position zu einer ihr gemäßen individualistischen Kritik umdeuten oder reduzieren kann. In regelmäßigen Abständen adoptiert auch das sogenannte Arthouse-Kino einen Film aus Russland oder China oder dem Iran, um ihn nach dieser Logik zu verwerten und seinem treuen Publikum einen wohligen lau-kalten Schauer über den Rücken zu jagen.

Ai Weiwei - Stinkefinger

Ai Weiwei zeigt den Stinkefinger.

I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang scheint sich auf den ersten Blick dieser Praxis anzubiedern, so wie etwa Andrey Zvyagintsev es mit seinem Kritikerliebling Leviathan tat, der bereits für ein westliches Publikum gemacht schien und sich schon selbst, ohne dass viel nachzuhelfen nötig gewesen wäre, im Honigtopf für Dissidenten ertränkt hatte (Patrick hat dazu einen anderen Ansatz). Die junge Li Xuelian (Fan Bingbing) wurde von ihrem Mann betrogen und kämpft sich nun mutig, aber erfolglos, durch die Institutionen des chinesischen Rechtssystems: für Gerechtigkeit … oder für Wiedergutmachung? Oder für Rache? Oder aus Zerstörungslust? Oder einfach um zu gewinnen? Beim Versuch auf einen Begriff zu bringen, beginnen schon die so notwendigen Probleme, die den Film davor bewahren könnten, verwurstet zu werden, aber wahrscheinlich ebenso davor bewahren werden in Deutschland überhaupt gezeigt zu werden. I am not Madame Bovary lässt sich nicht auflösen in einen psychologischen Realismus, welcher den Selbstbestätigungsmechanismen stets am gelegensten kommt, weil er das Individuum, so hart es auch attackiert wird, stets als seinen Mittelpunkt behauptet. Lue Xuelian ist nicht diese vollkommen transparente Version einer jungen, starken Frau, die ihre marginalisierte Stellung in der Gesellschaft schmerzhaft beigebracht bekommt und daraus die unheimliche Kraft für ihren Kampf zieht. Wir haben es nicht mit der Geschichte einer Bewusstwerdung zu tun, die in all ihren Motivationsmomenten offengelegt wird und so auf eine erwartbare Identifikation hin angelegt ist. Li Xuelian ist eine einfache Frau vom Land, die einfach nicht zu verstehen ist. Sie berät sich mit ihrem Ochsen über ihr weiteres Vorgehen, schleift ein großes Messer unten am Wasser, will töten und ist dann wieder ganz ruhig. Die streng und total kadrierten Bilder des ersten Teils geben immer wieder Momente der Distanzierung und, durch das ikonische kreisrunde Münzformat des Bildes,  Momente der mythischen Aufladung der Figur Li Xuelian. In einigen Einstellungen erinnert sie an eine Rächerin aus der Sagenwelt, der jegliche psychologische Motivation äußerlich ist, die handelt aus Funktion oder aus einem Trieb, der tiefer liegt als das Kausalpsychische.

Vieles über diese Frau bleibt im Dunkeln, immer wieder verlieren wir sie für lange Zeit aus den Augen und der Film vertieft sich stattdessen in die Institutionen, die ihre wahre Mühe mit ihr haben und von der lebendigen Vielzahl ihrer Motivationen und Handlungen genauso überrascht sind wie wir. In der Gegenüberstellung von Individuum und Institution wird am deutlichsten, wo der Film den Mechanismen eines dissidenten Kinos ausbricht. Er teilt nicht auf in einander äußerliche Sphären, selbstverständlich auch nicht in Gut und Böse. Es stehen sich hier nicht das Individuum und die graue Masse des Apparates gegenüber, deren Motivationen und Handlungen unvereinbaren Welten zugehörig sind. Genauso wie die Figur der Lue Xuelian privatpsychologische (die enttäuschte Liebe) mit institutionellen (die Scheinscheidung und ihre Hintergründe in Politik und Arbeit) und mythischen (eine alte Beleidigung, ein Fluch der gesühnt werden muss) Motivationen verwebt, erreichen die Männer der Institutionen teilweise eine starke Individualisierung (der besudelte Justizchef, der in der letzten Szene des Films wiederauftaucht), beweisen in ihrer Rede immer wieder ausgeprägte Vernunft (der hohe Vorsitzende beim nationalen Parteikongress) und sogar Empathie (der Gouverneur am Ende); aber eben auch in anderen Szenen das Gegenteil.

Eine nicht überblickbare Vielzahl von Mechanismen und Motivationen greifen in diesem Film ineinander, deren Verhältnisse – und vielleicht ist das, um sich von einem festlegenden dissidenten Kino abzugrenzen, noch wichtiger als die einfach quantitative Unübersichtlichkeit  – in jedem Aufeinandertreffen von Lue Xuelian und den Funktionären, aber auch in jedem Treffen der Funktionäre untereinander neu ausgehandelt werden. I am not Madame Bovary nimmt die Kontingenz und Widersprüchlichkeit des ewig zu verhandelnden gesellschaftlichen Lebens auf in seine durchaus kritische Betrachtung des chinesischen Rechtssystems und entgeht dadurch – hoffentlich – der Gefahr der Aneignung durch den westlichen Selbstbestätigungsapparat.

Berlinale 2017: Der erste und der letzte Film

Berlin ist für mich mittlerweile die Stadt der Menschenschlangen; zumindest gegen eines von beiden habe ich eine Phobie und die Kombination – das heißt Schlange stehende Menschen – versuche ich zu meiden. Deshalb möchte ich mich nicht auf die Phasen des Wartens, des Durch-das-Programm-Schlängelns, konzentrieren, sondern auf den ersten und den letzten Film meiner allerersten Berlinale.

Der Weg vom Alexanderplatz über die Karl-Marx-Allee hin zum DDR-Premierenkino International war tatsächlich ein Anfang, dem ein gewisser Zauber innewohnte. Eisiger Wind schlug mir entgegen, die kommunistischen Pracht-Plattenbauten strömten den Geist einer verflossenen Utopie aus, das Überqueren der Allee kam einem Übertritt in eine andere Zeit gleich. Ich war schon einmal hier, mit 19 bei einem Lesekreis zu Karl Marx. Damals war es auch kalt, grau und windig, aber die Mission schien ernster.

Diesmal bin ich auf dem Weg zu Eolomea von Herrmann Zschoche. Ein anspielungsreicher, spaßiger DEFA Science Fiction Film aus dem Jahr 1972. Auf den ersten Blick verliebe ich mich in das Kino, auf den zweiten in den Filmbeginn und dann in Frau Doktor Maria Scholl, die stark geschminkt, perfekt frisiert und futuristisch-stilvoll gekleidet mit brennender Zigarette im Mundwinkel, linkisch und cool zugleich, die Weltraumkonferenz betritt. Diese setzt sich aus Damen und Herren der verschiedensten Länder zusammen, deren internationale Herkunft durch ethnische Übertreibungen, wie Frisuren und Tracht, deutlich markiert ist. Zuerst fällt das positiv auf, doch im Grunde bleibt vom internationalen Aussehen der Konferenz nur ein Bild übrig (wenn auch ein positives, integratives), denn die Agierenden sind alle europäischer Abstammung. Frau Doktor wird als schöne, selbstbewusste, unabhängige Frau inszeniert: Sie bietet den älteren, deutschen Herren, die reichlich farblos daherkommen, gekonnt Paroli, steht zu ihren Meinungen, aber verbirgt auch ihre eigene Unwissenheit bezüglich der verschwindenden Raumschiffe nicht. Sieben, nein Acht sind mittlerweile unter ungeklärten Umständen verschwunden, der Beschluss ist ein Flugverbot. Dies erzürnt den Kosmonauten Dan Lagny, der mit einem lethargischen, in sich versunkenen Weltraum-Pionier auf einem tristen Planeten stationiert ist. Er langweilt sich dort zu Tode – einziger Trost sind ihm seine Flasche Cognac und seine Erinnerungen an den letzten Urlaub auf den Galapagos Inseln.

Das Ankommen auf der Insel beschreibt die allererste Sequenz des Films: Nach Musik zu Schwarzbild (ein hochunterschätztes Stilmittel), taucht hinter exotischen Kakteen Dan auf. Die Sonne flimmert auf 70mm-Film und die Exotik des Ortes suggeriert, dass man sich auf einem wunderschönen fremden Planeten befindet. So lange, bis Dan in das leuchtend blaue Meer hineinläuft und gen Himmel schreit, dass er den Kosmos satt habe. Aus der Vogelperspektive zieht die Kamera davon, hinein in den Kosmos und in den psychedelisch-entspannten Vorspann.

Wieder auf Galapagos spielt eine der letzten Szenen des Films. Vor der Kulisse des Meeres laufen Dan und Maria aufeinander zu, in Zeitlupe. Einzelaufnahmen der beiden wechseln sich mit Panoramaeinstellungen vor einer zweifachen Horizontale ab. Mit jedem Panorama bewegen sich die beiden weiter voneinander weg, mit jeder Einzelaufnahme wähnt man sie näher. Diametral, kongenial montiert.

Bewusst ironisch-überkitscht scheinen die Paarszenen, die Dans Hirn entspringen, eine Abziehfolie westlicher Familienidylle zu sein: Liebe, Familie, offene Grenzen und Jetset-Urlaub in der Karibik. Das Berufsleben dem persönlichen Glück zu opfern, die eigenen Ziele über die des Kollektivs zu erheben, ist in Eolomea aber nur möglich, wenn diese rückwirkend wieder der Reputation des Staates, der Gemeinschaft dienen. Grund für das Verschwinden der Raumschiffe ist nämlich, dass Marias Kollege Professor Ole Tal beschlossen hat, in einer exorbitanten Expedition den Planeten Eolomea zu erreichen, der der schönste Planet sein soll, der Liebesstern am Firmament. Für diese prestigereiche Expedition hat er heimlich junge, engagierte Leute rekrutiert, die teilweise selbst nie die Erde gesehen haben und nur für die Kosmosmission leben. Die Fiktion des Planeten Eolomea, dessen mögliche Entdeckung so weit in der Zukunft liegt, dass die Unsterblichkeit des Systems als selbstverständlich vorausgesetzt wird, gewinnt über Dans in Greifweite liegende Träumereien die Oberhand.

Kann man also sagen, dass Eolomea, indem er Dan schlussendlich auf Kosmosexpedition schickt, die Kategorie eines systemkonformen Kinos bedient? Das ständige Changieren zwischen Kritik und Anpassung an das System, zwischen dem Glauben an die Idee der Raumfahrt und dem schlichten Verlangen nach der Erde (ohne Grenzen), zwischen der Sehnsucht nach Familie und der werbeästhetischen Bebilderung derselben gibt Rätsel auf. Gerade deshalb ist Eolomea keine Propaganda, er ist auch keine Anti-Propaganda. Es ist ein Film, der die narrative Form des Science Fiction nicht nutzt, um Klarheiten aufzuzeigen, sondern um die widersprüchlichsten Empfindungen, die ein denkender Mensch in Bezug auf ein System haben kann, audiovisuell experimentierfreudig, bisweilen an das zeitgenössische italienischen Genre- und Autorenkino angelehnt, in Szene setzt.

Für Herrmann Zschoche war Eolomea leider der einzige Regieausflug ins Genrekino. Sein restliches Oeuvre konzentriert sich auf realistische, sehr erfolgreiche Kinder-, Jugend-, und Erwachsenenfilme, die immer nah an der DDR-Zensur vorbei schrammten. Realisten sollten öfters Science Fiction machen!

Der letzte Film – war genau genommen nicht der letzte Film, sondern nur der letzte, den ich zur Gänze gesehen habe. Der Schauplatz ist eines der Kinos am Potsdamer Platz. Mon rot fai von Sompot Chidgasornpongse ist Apichatpong Weerasethakuls Produktionsfirma Kick the Machine Films entsprungen. Der Film erfreut dadurch, keine Kopie der Apichatpong’schen Poetik zu sein, obgleich eine Nähe deutlich ist. Ich sitze normalerweise nie in der ersten Reihe, diesmal schon und zwar mittig, genau zwischen den Gleisen, die sich als erstes Bewegtbild vor mir auftun. Genauer gesagt sitze ich nicht in der ersten Reihe im Kino am Potsdamer Platz, sondern in dem thailändischen Zug. Die Kamera gleitet mit einem neugierigen, suchenden, verweilenden und spitzfindigem Blick über die Passagiere der ältesten Bahn Thailands, die den Norden mit dem Süden verbindet. Verwoben werde ich mit den Eindrücken, der Polyphonie der Gesichter und Erzählungen – das beständige Rattern des Zuges als beruhigenden Rhythmus in Ohr und Körper. Der Blick auf die Mitreisenden könnte mein Blick sein, der Blick aus dem Fenster ebenso und das Erschrecken (vor dem Ähnlichen) könnte nicht größer sein, als sich, je weiter der Zug nach Süden kommt, zwischen meine Mitreisenden plötzlich kaukasische Gesichter, blonde Haare und verbrannte Haut mischen. Störend sind die Archivalien, die den Filmfluss unterbrechen und die Bahn einbetten wollen in eine blutige Geschichte. Viel geschickter macht der Regisseur das am Ende des Films, als er einen Engländer und einen Thai bei einer Konversation in der Landessprache belauscht. Beide sind offensichtlich in demselben Schlafwagenabteil gelandet und unterhalten sich über die Bahnlinie und deren Geschichte, die geprägt ist von den kolonialistischen Bestrebungen der Briten und Kriegsverbrechen vonseiten der Japaner. (Ein Ereignis in der Geschichte der sogenannten Todeseisenbahn, bei deren Bau auch etliche britische Kriegsgefangene ums Leben kamen, wurde folgerichtig zum Hollywood-Epos: The Bridge on the River Kwai von David Lean). Der Brite übernimmt dabei die Rolle eines Eisenbahningenieurs aus der Entstehungszeit der Bahnstrecke und flicht ein Erzählnetz aus historisch plausiblen Anekdoten und Fakten. Dabei sind Bilder aus dem nächtlichen Zug zu sehen, es rattert beständig. Wie Apichatpong Weerasethakul lässt Sompot Chidgasornpongse hier Geschichte auf denkbar kreative Weise in die scheinbare Reisedokumentation einfließen, ebenso wie die Fiktion in ihrer natürlichsten Form: durch einen Erzähler.

Leider endet der Film nicht sobald die Unterhaltung endet und sich die Protagonisten (die einzigen Darsteller des Films) entschließen, schlafen zu gehen. Es wird noch Tag und die Sonne scheint durch die lachsfarbenen Gardinen der ersten Klasse.

Laut Abspann entstanden die Aufnahmen zu Mon rot fai innerhalb der letzten zehn Jahre. Im Laufe dieser Zeit haben sich auch die Materialien geändert, mit denen der Regisseur filmte: Von grobkörnigem Video, über verpixelte Digitalkamera bis hin zu HD-Qualität meine ich alles zu erkennen. Ich würde gerne wissen ob in dem Film, in dem es um eine Eisenbahnlinie geht, deren Bau zur Zeit der Geburtsstunde des Kinos begonnen wurde, auch Filmmaterial genutzt wurde. Die Recherche bleibt ergebnislos, man müsste sich Mon rot fai nochmals ansehen.

Im Nachtzug zurück nach Wien vermisse ich das beständige Rattern der thailändischen Bahn. Der Zug hält zu oft und zu lang an irgendwelchen tschechischen Bahnhöfen. Ich vertreibe mir die Nacht, indem ich meine Mitreisenden fotografiere:

railway sleeper

WdK Tag 7: „Überschwang/Exuberance“ – Beauty without Pain? Planetarium von Rebecca Zlotowski + Fuddy Duddy von Siegfried A. Fruhauf

„Beauty without pain“. Der deutsche Filmemacher Philip Gröning gibt während der letzten Diskussion der diesjährigen Woche der Kritik eine Minimaldefinition von Kitsch um sein Erlebnis der ersten 15 Minuten von Planetarium zu beschreiben. Er habe sich im falschen Film gewähnt, so leer sei diese Schönheit. Der Film bediene da anfangs eine Retro-Ästhetik in vollen, warmen Farben, die sich irgendwann im Laufe der letzten Jahre durch die unreflektierte Übernahme von einem period Film zum immer nächsten als vermeintlich präzise Darstellung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etabliert habe.

Es gibt diese Ästhetik, man muss sich nur die letzten Filme von Woody Allen anschauen. Das ist wirklich sediertes, schmerzbefreites Kino, so unaufdringlich loungig wie die ewig plätschernde Jazz Musik, die aus dem Off kleistert oder auf den Partys der Cafe Society für die rechte Stimmung der Indifferenz sorgt (vielleicht hätte der in Cannes passender die Eröffnungsparty eröffnet als das Filmprogramm?). Stilistisch scheint Planetarium sich da anfangs einzureihen: warme Farbpalette, schwere Kontraste, wohlkadrierte Einstellungen, eine fließende Kamera, historisch korrekte Kostüme in säuberlich akkuraten Sets und, bitte, angenehm geschnitten das Ganze, keine Experimente. Auch inhaltlich passts, oder? Ein Schelm, wer da an Magic in the Moonlight denkt: in Zlotowskis Film sind es zwei junge amerikanische Frauen, Schwestern (Natalie Portman und Lily-Rose Depp), die im Paris der späten 30er Jahre mithilfe ihrer Fähigkeit Kontakt zu Geistern aufzunehmen an ein wenig Geld und Ruhm kommen wollen. Wie Emma Stone in Magic in the Moonlight treffen sie dabei auf einen Mann, der irgendwie im selben Geschäft tätig ist, in dem der Illusion. Der ältere Mann ist nun aber kein zynischer Zauberkünstler wie Colin Firth, sondern ein französischer Filmproduzent namens Korben (Emannuel Salinger), der sich der Schwestern annimmt um mithilfe ihrer Fähigkeiten das Kino zu seiner wahren Bestimmung zu führen: einen echten Geist filmen!

Versteht man Filme als die Summe ihrer Zutaten, die, wenn streng nach Rezept addiert, das Erwartbare ergeben, dann kann man nach 15 Minuten von Planetarium sagen (und es wurde in der Kritik gesagt): Alles da! Freuen wir uns auf ein psychologisches, schönes und ergreifendes Period Piece! Dann wird man aber auch nach spätestens 50 Minuten enttäuscht sein (und auch das war die Kritik), denn Zlotowskis Film bricht und durchlöchert nach und nach die vorgefertigten gültigen Formen eines 30er Jahre Dekadenz-und-Zusammenbruch-Epos. Es gibt da ein Zuviel, einen ‚Überschwang‘, der die gesetzten Erwartungen überdehnt und den Schmerz einholt um den Kitsch zu überholen. Zu viel Präsenz, die Kamera rückt den Gesichtern und Texturen zu nah und führt sie über einen psychologischen Darstellungsmodus hinaus. Salingers große runde Augen sind so unergründbar traurig, Lily-Rose Depp ist so großartig blutleer und ausdruckslos. Das Kino, die Kamera ernähre sich parasitär von ihrem Leben, bemerkt Philip Gröning in der Diskussion. Die Kostüme sind zu extravagant und die Sets zu abgründig, die riesenhaften Knöpfe an Natalie Portmans Hosenanzug weisen darauf hin, genauso wie die ausgestellten toten Mäuse in Salingers Haus: Das ist eine Filmwelt, historische Wahrheiten gibt es hier nicht einfach so zu sehen. Aber was gibt es in Planetarium dann?

Neben dem Zuviel gibt es ein Zuwenig, Lücken, die der Film in seine eigene Form reißt. Am Anfang noch sehr eng erzählt, lösen sich die direkt kausalen Beziehungen der Montage langsam auf und es bleiben lose Enden. Plötzlich sind die Schwestern getrennt und der Jude ist enttarnt. Dann geht alles ganz schnell: der Schriftzug auf dem Spiegel, die Aufsichtsratssitzung, der Schauprozess, das Gefängnis und Korben ist aus dem Film verschwunden. Zwischendurch scheint der Versuch Geister zu filmen nach langen Tests in einem futuristischen Labor gelungen zu sein, um sich dann vor versammeltem Publikum und den Augen der Kamera doch als gescheitert zu erweisen. Der Film schafft hier Unsicherheiten und unlösbare Fragen, die mit der klassischen Form des auf Linearität angelegten ‚Historiendramas‘ nicht vereinbar sind.

WDK17, Planetarium_01

Während in Woody Allens Magic in the Moonlight die romantisierte Liebesgeschichte und die nebulöse, dabei stets verwaschen ungenaue Zauberei-Allegorie in Beliebigkeit aneinander vorbeireden, sind für Planetarium seine Reflexionen des Kinos notwendig Teil der Geschichte die er erzählt und deshalb ebenso historisch eingebunden. Ineinander reflektieren sich die historischen Umstürze der späten 30er Jahre und die Erkenntnismöglichkeiten der spezifischen filmischen Form. In seinem Spiel mit den Zuschauererwartungen versucht Planetarium einerseits sich aus seiner eigenen Form zu befreien, erkennt aber zugleich, dass eine sinnvolle Kritik nur aus dem Inneren der Form möglich ist, indem ihre Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden. Der Film muss vor sich selbst kapitulieren.

Der Vorwurf der Kritik, der Film sei ein „meandering mess“, hervorgebracht von Owen Gleiberman für Variety (und stellvertretend für die amerikanische Kritik überhaupt), lässt sich so als zunächst neutrale Beobachtung aufnehmen und ins Positive wenden. Die losen Enden der Erzählung und einiger Montagesequenzen, sowie die Auslassungen aller Schreckensbilder, die als ewige Erwartungsbilder des Historiendramas sonst da stecken, wo Zlotowskis Film sich selbst durchlöchert hat – keine Gestapo im Regen, keine unberechenbar charmanten SS-Offiziere, keine Menschentransporte, keine Begräbnisse, ja, überhaupt keine Gewalt, kein Tod im Bild – weisen Planetarium als Film aus, der reflektiert hat, dass es Dinge gibt die sich in einer bestimmten Form nicht darstellen lassen. Dabei tappt er klugerweise nicht in die Falle des Bilderverbots, in die Son of Saul sich so überzeugt hineingeworfen hat, als er die Ästhetisierung des Schreckens im Bild einfach ersetzt hat mit der Ästhetisierung des Schreckens im Ton und einem aufdringlich nahen Off. Planetarium hält die Bilder des Schreckens so fern wie möglich, im vollen Bewusstsein, dass er sie eh nicht wird davon abhalten können, die Auslassungen zwischen Festnahme, Gericht, Gefängnis und Verschwinden zu bevölkern.

Der wichtigere Unterschied scheint mir aber zu sein, das Nicht-Zeigen mit den Notwendigkeiten einer historischen Situation und einer inhärenten Formenkritik zu verbinden, statt sich wie Son of Saul damit zu brüsten eine ‚Antwort‘ auf ein etwaiges, externes Bilderverbot gefunden zu haben. Planetariums zunehmend gestörten Erkenntnismöglichkeiten reflektieren den historischen Zustand einer Welt, die, je näher sie dem erwartbaren Abgrund kommt, umso weniger verstehen und glauben mag von dem bevorstehenden Fall. Diese Verwirrung von Erwartungen kann der Film formal einholen, weil er sich einer klassischen, erwartungsbeladenen Form bedient, aus der er sich ebenso wenig zu befreien vermag, wie Salinger, der noch im Gefängnis an das gute Ende glaubt. Das Problem des Verstehens eines historischen Prozesses wird hier konsequent in ein Problem der Formen des Denkens überführt. Wenn die Formen des Denkens nicht Schritt halten können mit den historischen Ereignissen, dann wird ein Verständnis unmöglich. Das neoklassische Historiendrama dekonstruiert sich hier selbst, aber schafft es im Einklang mit der Geschichte nicht, sich ganz zu zerstören, um Platz zu machen für eine neue Form, ein neues Verstehen.

Der im Anschluss vorgeführte Fuddy Duddy, ein etwa 5 Minuten langer Experimentalfilm von Siegfried A. Fruhauf, macht dieses Formproblem offensichtlich. Vollkommen evident erscheint mir die gemeinsame Programmierung der beiden Filme: Fuddy Duddy macht die Bilder, die Planetarium nicht möglich sind. Eine Ordnung von Quadraten zerstört sich in aggressivem Dauerflackern selbst und bildet die Illusion einer Tiefe, eines Abgrundes in der Mitte der Leinwand. Das ist die Umpolung des Kinos – voll auf Angriff! –, die mit Kriegs- und Schreckensbildern quasi die Lücken von Planetarium ausfüllt und  einen direkten Schmerz erfahrbar macht. Der Schmerz in Planetarium selbst ist immer ein indirekter, der aus den Diskrepanzen zwischen dem formal zu Erwartenden, dem Gezeigten und den allseits bekannten historischen Fakten entsteht. Am Ende des Films, im Jahr 1943, steht Laura Barlow (Natalie Portman), inzwischen Schauspielerin, im Set an einem Fenster, schaut in den Sternenhimmel aus Lichterketten und spricht in ihrer Rolle als Waisenmutter: „Tomorrow will be a great day!“

WdK Tag 4: „Unfertig/Unfinished“ – Reaktionäre Träume: California Dreams von Mike Ott

Der Film beginnt mit dem Casting. Menschen sprechen Monologe aus ihren Lieblingsfilmen frontal in die Kamera. Unkontrolliert aber leidenschaftlich sind die Vorträge. Die Vorsprechenden sind allesamt Laien. Mit großen Augen erzählen sie von Liebe, Ruhm und Glück, von Enttäuschung, Tod und Selbstmord. Die großen Gefühle: Bigger than life. Das Kino als Traumfabrik. Aber nur den krassesten Außenseitern unter den Casting-Teilnehmern werden die Imaginationen der Maschine zuteil, sie werden in den nächsten 80 Minuten wieder zurück auf die Leinwand geholt um in mehr oder weniger fiktionalisierten Formen von ihren eigenen tristen Leben und dem Traum eines anderen zu erzählen.

California Dreams entwickelt diese Träume direkt aus der kalifornischen Landschaft. Unweit des paradiesischen Grüns Nordkaliforniens und den Studios Hollywoods leben die Protagonisten des Films in einer dürren, lebensfeindlichen Wüste aus Felsen, Gestrüpp, Fast-Food Restaurants, heruntergekommenen Vorstadtbungalows und endlosen Highways. Doch die Sonne ist dieselbe wie jene, die ein wenig weiter westlich auch die Sets der größten Filme beleuchtet und Träume sind hier ungleich wichtiger. In diesem Licht verwandelt sich das unwirtliche Land immer wieder in die dramatischen Formationen einer ausgesuchten Filmlocation; und auch in den Orten des kalifornischen Alltagslebens findet Mike Otts Kamera Spuren der Mythen des amerikanischen Kinos. Als Corey, der ewige Hauptdarsteller von Mike Otts Filmen, eine Videokassette aufnimmt um seinen Traum der Schauspielerei zu verfolgen, entscheidet er sich für eine alte Holzhütte als Drehort. Eine kurze Kamerafahrt auf das unverglaste Fenster der Hütte ruft unweigerlich den Anfang von John Fords The Searchers ins Gedächtnis. Corey kann das nicht helfen, schon nach wenigen Sätzen kommt er mit seinem Monolog aus The Outsiders ins Straucheln.

WDK17, California Dreams, © Number 7 Films_04

Der Struktur des Films liegt diese Technik des Kontrasts zugrunde, die auch die Inszenierung der anderen Protagonisten bestimmt. Unter ihnen ist Patrick, ein 28-jähriger philippinischer Einwanderer mit Aknenarben und Schnauzbart, der seit Jahren als Parkplatzwärter arbeitet und noch nie eine Frau geküsst hat. Ein sehr explizites Gespräch mit Corey, im Auto vor einer glorreichen kalifornischen Abendlandschaft, erzählt von seinen sexuellen Erfahrungen und Wünschen. Die Antwort des Films folgt sogleich: In anhaltender Zeitlupe sehen wir eine blonde Stripperin die Beiden in einem Motelzimmer aufsuchen. Patrick sitzt zusammen mit Corey rauchend an einem runden Tisch und lässt die Show ganz cool über sich ergehen, kein bisschen Aufregung im Blick, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Musik, die an Scores des Classical Hollywood erinnert, entrückt die Szene endgültig in die Sphären eines kinematografischen Traums. Auch das ist Kino, zumal amerikanisches: eine Welt in der die eigenen Defizite temporär ausgesetzt sind, in der die ersten ebenso wie die letzten Bedürfnisse befriedigt werden; Kino als kurzer aber wiederkehrender Traum eines anderen Lebens. Der Striptease geht nahtlos über in die Wiederholung von Patricks Casting-Monolog aus Forrest Gump, einer Beschwörung des Selbstbewusstseins und der eigenen Kraft, der aus dem Off zu hören ist, während Patrick einsam und zusammengekauert auf der Wartebank einer Bushaltestelle sitzt.

In dieser Szene wird deutlich, wo California Dreams unwiederbringlich schiefgeht. Statt eine Selbstermächtigung seiner Protagonisten zu ermöglichen, stülpt der Film jedem Einzelnen vorbestimmte Normen über. Von vornherein sind Patricks Defizite bestimmt: er hat keinen Sex und kein Selbstbewusstsein. Das ist unaufrichtig und denunziatorisch in einem Film der einen Teil seines Reizes aus der Nonkonformität seiner Außenseiterbande zieht, sie auf diese Weise aber für Momente der Lächerlichkeit preisgibt. Nie gibt es den Versuch das ausgestellte Anderssein tatsächlich für ein Verständnis zu öffnen. Der Film vermerkt es nur schnell in einer schon festgelegten Wertematrix und kramt dann das vermeintlich passende imaginative Gegenmittel heraus. Trotz des teilweise sicheren Gefühls für die Verweiskraft seiner Bilder, reflektiert der Film nicht ein einziges Mal in kritischer Weise die gesellschaftliche Herkunft und Hervorbringung dieser Wertematrix und der aufgerufenen Gegenbilder. In einem Film, der mit Recht auf die imaginative und befriedigende Kraft des Kinos verweist, sollte man erwarten können, dass auch die andere Seite dieser Medaille gezeigt wird: Die Konformisierung und Kommerzialisierung der zu befriedigenden Bedürfnisse durch das Kino, im Besonderen durch das – in California Dreams viel herbeizitierte – amerikanische Unterhaltungskino.

Zudem bleiben die in doppelzüngiger Rede zugleich affirmierten und lächerlich gemachten Kino-Imaginationen der Protagonisten – im Fall einer Obdachlosen ist es die ins Bild gesetzte Oscar-Dankesrede in roter Robe und Spotlight – stets Eskapismus und Flucht in eine Unmöglichkeit, die klar abgegrenzt ist von der umso härteren Realität. Am Ende, als Corey in einer überdrehten Szene Geld auf der Straße findet, verbindet sich das Kino zumindest oberflächlich mit dem Leben, aber eben nur in der reduktiven Weise in der Mike Otts Film Kino denkt: rein als Traum- und Befriedigungsmaschine, die es auch ist, aber niemals ausschließlich. Das Kino kann Möglichkeit sein, tatsächlich Einfluss auf das Leben haben, indem es etwas denk- und fühlbar macht, das abseits liegt, an den wahren Außenseiterpositionen der Welterfahrung. Indem es zum Beispiel zeigt, was Sexualität auch sein kann. Wenn der Film in seiner letzten Szene in anrufender Manier Rainer Werner Fassbinder erwähnt, dann möchte man sich kneifen und aus diesem reaktionären Kino-Traum erwachen.

Berlinale 2017: Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Fragen über Fragen wirft Julian Radlmaiers Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes auf: Kann ein Film zugleich bieder-bildungsbürgerlich, zeitgeistig-verspielt und postmodern-ironisch sein? Haben die langen Festivaltage und kurzen Festivalnächte das Urteilsvermögen getrübt? Warum kann ich diesem scheinbar selbstgefälligen Einblick in eine Hipsterseele so viel abgewinnen? Anhand dieser Fragen wird zumindest eines deutlich, und zwar wie fehlgeleitet es ist, erklärungswütig einzelne Filme zu zerpflücken, um sie in vermeintlich passende, aber letztlich willkürlich gewählte, Schubladen zu stecken. Die Filmkritik bedient sich sehr gerne dieser Kategorisierungen, wenn sie sich in erster Linie als Dienstleistungsservice versteht, die ihren Lesern näherbringen will, was sie sich von einem Film erwarten können – sie also eher über Erwartungshaltungen und Diskurse, über sich selbst und ihr Publikum schreiben – als den Film selbst und ihre Wahrnehmung zu beschreiben. Prinzipiell tritt dieses Phänomen in der Festivalberichterstattung verstärkt auf, wo noch weniger Zeit und Energie vorhanden ist, um mit seinen eigenen Eindrücken ins Reine zu kommen, und das möglichst tagesaktuelle Postulieren einer Meinung im Kampf um Medienöffentlichkeit Konjunktur hat. Gerade bei der diesjährigen Berlinale scheint man sich besonders an haarsträubenden, unüberlegten Zuschreibungen zu ergötzen. Hong Sang-soos On the Beach at Night Alone wird als stimmige Fortführung des Gesamtwerks des Koreaners besprochen, ohne das schwierige Verhältnis des Films zu seiner Protagonistin, diese schwer greifbare und noch schwerer zu beschreibende Brüchigkeit in Hongs Figurenzeichnung zu berücksichtigen. Alex Ross Perrys Golden Exits wird als aufgeblasene Hipsterromantik gedeutet, unter Missachtung von Perrys gut dokumentierter Abscheu für diese Ausformungen der amerikanischen Indie-Tradition und seiner ebenso gut dokumentierten cinephilen Haltung. Und Thomas Arslans Helle Nächte wird unter Nichtbeachtung seiner Entwicklung als Filmemacher in den letzten zehn Jahren, als nicht viel mehr als „noch so ein weiterer“ Berliner Schule-Film abgetan. Bei aller Probleme, die ich mit diesem Film hatte, und trotz Reinhold Vorschneider hinter der Kamera, hat Helle Nächte dann doch relativ wenig mit den Filmen zu tun, die Anfang der 2000er mit diesem Label versehen wurden.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

© faktura film

Würde sich das Gros der medialen Aufmerksamkeit nicht auf den Wettbewerb richten, dann würde es Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes wohl ähnlich ergehen. Eine selbstbezügliche Übung in Narzissmus, eine weitere leere Beschreibung des Lebensgefühls eines Millenials, ein halbironischer Hipsterfilm, ein gekünstelter Studentenfilm. Man könnte diese Liste noch eine Weile fortsetzen, ohne dass einem die Schubladen ausgehen. Der Film scheint darum zu betteln, sich eine davon zu wählen und ihn vorschnell abzuurteilen. Dass man letztendlich damit überfordert ist, die treffendste dieser Kategorisierungen zu finden, dass sich die Frage, was das denn eigentlich für ein Film ist gar nicht so einfach beanworten lässt, ist dann vielleicht schon Antwort genug. Ehrlich gesagt, fällt es mir selbst schwer eine zufriedenstellende Einschätzung des Films abzugeben, immer wenn sich mein Verstand an einem Aspekt des Films abarbeitet, protestiert ein anderer Aspekt lauthals und lässt meinen Urteilsspruch im Ansatz ersticken.

Radlmaier inszeniert sich selbst als im Scheitern begriffener Filmemacher, dessen Sachbearbeiter im Arbeitsamt, ihm zum Äpfelpflücken verdonnert. Eine Kafka (und Straub)-Referenz später sinniert er auf der Apfelplantage, inmitten des Proletariats über Klassenkampf und Revolution. Auf der Suche nach einem Kommunismus ohne Kommunisten (denn die ruinieren immer alles) entsteht schließlich der nächste Film des Regisseurs. Für seine hohlen Phrasen im Publikumsgespräch nach der Premiere dieses Films wird Radlmaier just durch ein göttliches Wunder in einen Windhund verwandelt. Wo die Rahmenhandlung beginnt, die Film-in-Filmhandlung aufhört, wie sich zueinander verhalten, und ob das überhaupt noch etwas mit der Biographie Radlmaiers zu tun hat, lässt sich schließlich nicht mehr nachvollziehen. Anders, als man es wohl im Dramaturgiekurs beigebracht bekommt, entwirrt der Film nichts und widersetzt sich dem Primat einer befriedigenden Auflösung – das Drehbuch wird hier also nicht zum Selbstzweck.

Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

© faktura film

Man dreht sich im Kreis, beim Versuch sich einen Reim daraus zu machen, ob das nun infantiles Spielerei ist, ob man die politischen Aussagen ernst nehmen sollte, oder ob das ohnehin nur aufgeblasenes, gekünsteltes Hipstergehabe ist. Verkompliziert wird dieser Versuch noch dadurch, dass die Selbstkritik am eigenen Film immer gleich mitgeliefert, aber wiederum so selbstgefällig in Szene gesetzt wird, dass man sich abermals kaum sicher sein kann, wieviel Bedeutung man ihr beimessen sollte (die ultimative Kritik des Films an sich selbst, besteht immerhin darin, dass das Alter Ego des Filmemachers wegen seines materialistischen Weltbilds durch die Inkarnation des Heiligen Franziskus in einen Hund verwandelt wird).

Wir schreiben auf Jugend ohne Film gerne über Dringlichkeit und Welthaftigkeit. Dass es uns wichtig ist etwas von der Notwendigkeit in der Kunst zu spüren, wie sie von der klassischen Moderne vorgelebt wurde. Von dieser Notwendigkeit ist in Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes nicht unbedingt viel zu spüren, andererseits geht der Film aber auch weit über ein oberflächliches Spötteln über so einen Kunstbegriff hinaus. Er scheint diese Dringlichkeit vielmehr selbst anzustreben ohne so recht zu wissen, wie sie filmisch umzusetzen ist. Hinter dem Narzissmus verbirgt sich womöglich eine Suche nach einer Form des Ausdrucks, die einer Welt gerecht wird, die in ihrer Komplexität kaum mehr zu beschreiben und zu fühlen ist. Entgegen aller Erwartungen verbirgt sich hinter dem verschmitzten Grinsen des Films, vielleicht eine Thematisierung ästhetischer Ratlosigkeit, der man mit Ernsthaftigkeit entgegen treten sollte. Auf jeden Fall lässt sich mit dieser Herangehensweise mehr aus dem Film mitnehmen, als wenn man gewaltsam versucht ihn in eine Schublade zu stecken.

WdK Tag 6: „Taumel/Vertigo“ – Im Tanz der Nebensachen: Lass den Sommer nie wieder kommen von Alexandre Koberidze

Ein junger Mann kommt vom Land in die Stadt, hält sich mit illegalen Straßenkämpfen und Prostitution über Wasser während er eine Anstellung als Tänzer sucht, verliebt sich in einen Offizier mit dem er einige Zeit verbringt und verlässt die Stadt am Ende des Films wieder um zur Familie zurückzukehren. So in etwa ließe sich die Erzählung des über zweihundert Minuten langen Lass den Sommer nie wieder kommen zusammenfassen. Der Film wäre dennoch verfehlt.

Noch einmal anders. Stark verpixelte Bilder eines Marktes in Tiflis, harte Kontraste und knallige Farben, Menschen erstrahlen im Licht und verschwinden im Schatten, irgendwo im Hintergrund taucht der junge Mann auf, geht durchs Bild und ist wieder weg. Er kauft eine Wurst, dann folgen wieder einige Einstellungen in denen er gar nicht zu sehen ist, sondern dicke Verkäuferinnen, rauchende alte Männer, schlafende Hunde und endlos kreiselnde Limonademixer. Wie passt das mit dem ersten Beschreibungsversuch zusammen?

Der amerikanische Filmemacher und Filmverleger Pip Chodorov beschreibt dieses Problem in der anschließenden Debatte als die ständige Präsenz einer Absenz. Der junge Mann soll Kämpfer und Tänzer sein, so erfahren wir durch den gelegentlichen Off-Kommentar, aber nie sehen wir ihn kämpfen oder tanzen. Der junge Mann soll ein Liebhaber sein, aber nie sehen wir ihn lieben. Er soll einen Brief von zu Hause bekommen haben, der ihn schließlich überzeugt zurückzukehren, aber nie sehen wir diesen Brief, ein Zuhause oder gar eine Familie. Doch die Feststellung, dass der Film ständig auf ein Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Wissen verweist, geht über die instabile, elliptische Erzählhaltung hinaus und formuliert einen Zweifel der selbst schon integraler Bestandteil der Bilder und Töne ist. Auch die österreichische Künstlerin und ‚Taumel‘-Forscherin Ruth Anderwald beschreibt die grob verpixelten Bilder – der Film ist mit einer pre-HD Handykamera entstanden – als „layer of doubt“, als die konstante Verunsicherung einer Repräsentation im Geiste einer Abstraktion, die das Bild auf seine Textur zurückführt. Im Flyer zur Woche der Kritik ist die Rede von explodierenden Pixeln und einem Stummfilm-Kosmos.

Ich halte diese Beobachtungen für sehr zutreffend. Tatsächlich verzichtet Koberidzes Film in seinen ständigen Abschweifungen auf eine zuverlässige Narration, in den pixelsprühenden Bildern auf die Klarheit der Repräsentation und im Ton, der oft die Geräusche der Straße, Stimmgewirr oder vielfach Musik aufnimmt, auf die Verständlichkeit von Sprache. Und doch bleibt die Frage: ist das ein Verzicht? Lässt sich der Film als Dekonstruktion, gewissermaßen als Negativbestimmung des Filmischen fassen?

Let the Summer Never Come Again - Still II

Mit dem von der Moderation vorgeschlagenen Konzept des ‚Taumels‘ rückt eine positive Bestimmung des Filmes näher. ‚Taumel‘ beschreibt den Zustand einer absoluten Destabilisierung, eines vollkommenen Zweifels, der zum einen Kontrollverlust impliziert, aber in der Überantwortung an das Verlorensein eine absolute Harmonie mit der Welt und dem Rhythmus des Lebens verspricht, die etwas Neues hervorzubringen vermag. Exakt diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Produktion macht Koberidzes Film aus.

Als hätte Koberidze die Szene aus Sauve quit peut (la vie) in der Nathalie Baye/Godard sagt: „Ich möchte einen Film nur aus Nebensächlichkeiten machen“ auf drei Stunden gedehnt, erzählt Lass den Sommer nie wieder kommen ein Daneben und eine Gleichzeitigkeit. Erzählt von den spielenden Kindern im Hof, von den Katzen auf dem Dach, von den Schattenspielen, die das Riesenrad auf die Straße malt und befreit dabei die Bilder aus allen hierarchischen Abhängigkeiten. Die Kinder im Hof sind nicht das Ausweichziel eines Blicks, der sich verschämt vom Liebesspiel der Männer im Haus abwendet. Ist das überhaupt der Hof desselben Hauses? Ist das derselbe Tag, dieselbe Stunde? Oft lässt sich das nicht sicher sagen, das Daneben ist ebenso wenig nur räumlich, wie die Gleichzeitigkeit nur zeitlich ist. Die Beziehungen der Bilder sind eher rhythmischer als logischer Natur.

Der Pixelsturm ist nicht nur Auflösung, Abstraktion oder Dissoziation des Bildes sondern bringt einen Eigenrhythmus hervor, ein regelmäßiges Pixelflackern, einen Herzschlag, der sich überträgt auf die Welt aus gleißendem Licht und tiefschwarzen Schatten, der pulsiert in den Farben und Menschen und Lichtern von Tiflis. Die Bilder finden im Rhythmus der Bewegungen eine absolute Präsenz, statt nur auf Abwesendes zu verweisen. Wir sehen den junge Mann nie tanzen? Die ganze Welt tanzt zur Musik der Stimmen und Geräusche. Da warten Welche auf den Bus und statt einer logischen Montage, von leerer Straße, Busankunft und Einstieg sehen wir die Füße der Wartenden in Pirouetten kreisen und einen Stepptanz aufführen. In der einzigen Szene, in der es klar vernehmbaren Dialog gibt, fehlen die Untertitel. Der Sound der georgischen Sprache ist hier nicht mehr sekundär oder nebensächlich, sondern wird zum bestimmenden Rhythmus der Szene.

Während eines anderen, unvernehmbaren Gesprächs der beiden Liebenden auf einem Balkon über der Stadt führt ein Schwenk vom klassischen Two-Shot über die lichtverliebte Hand des jungen Mannes hinunter in die Autoschlangen auf der großen Ausfallstraße. Die folgende Montage von fahrenden Autos und Landstraßen zu den Rhythmen eines Popsongs endet mit Bildern von Wellen, die an das Ufer eines Schwarzmeerstrandes rollen. Obwohl der Film uns nie ein Bild von den Beiden im Auto oder am Strand gibt, ist hier nichts mehr Abwesend. Das war eine Reise ans Meer, allerdings außerhalb einer strengen Repräsentationslogik, vielmehr als Rhythmus einer Erfahrung. Bilder von ephemeren Nichtigkeiten verbinden sich zu einem bedeutenden Weltverhältnis. Die anfangs beschrieben Szene auf dem Markt in Tiflis bildet ein bestimmtes Erleben, vielleicht „Das Kennenlernen einer Stadt“, ohne dabei eines klar definierten Subjekts zu bedürfen. Hier wird nicht in Paaren getanzt, sondern im Fluss; alle Bilder miteinander. 

Selten habe ich mich der Strömung eines Filmes derart hingegeben und dabei so geborgen gefühlt, dass da gar kein Ärger und Kampf war als ich nach knapp zweieinhalb Stunden für einige wunderbar lange Minuten sanft weggedämmert bin. Doch wird der schöne ‚Taumel‘ in diesem Moment nicht wieder zur Gefahr? Zur Gefahr einer Selbstaufgabe und Kritiklosigkeit, die in letzter Konsequenz aus der vollkommenen Immanenz einer Welterfahrung folgt? Koberidze unterbricht den Bilderstrom immer wieder in Momenten der Distanzierung. Mitten im Film eine Schwarzblende und folgender Titel: „Sehen sie jetzt einen Mann der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt.“ Es folgt die zweisekündige Einstellung eines Mannes der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt. Das ist Youtube-Clip Logik und gleichzeitig deren Persiflage. Jetzt kann ich euch alles andrehen, scheint Koberidze hier schelmisch lächelnd zu sagen. Ja, bitte, möchte ich antworten.  

Berlinale 2017: Spell Reel von Filipa César

Spell Reel von Filipa César

Spell Reel von Filipa César beginnt mit flackernden, kopfüber stehenden Schwarzweißaufnahmen eines Waldstücks. Das Digitalisat dieser Archivaufnahmen nimmt nur einen Teil des Filmbilds ein, ein Rechteck auf der linken Hälfte der Leinwand, klar abgegrenzt vom umgebenden Schwarz. Rechts neben diesen Filmaufnahmen erscheint ein weißer Schriftzug, der suggeriert, dass es sich bei den Bildern um die Perspektive eines Baums handle. Die Schrift, wie auch das umgebende Schwarz wird schließlich durch die Farbbilder einer digitalen Filmkamera ausgelöscht. Schließlich verschwindet auch das Rechteck aus dem Bild und überlässt den Bildern der Gegenwart das Frame.

Die Archivaufnahmen stammen aus der Zeit des Befreiungskampfs Guinea-Bissaus, gefilmt von einigen Guerrillakämpfern (darunter Césars Ko-Regisseur Sana na N’Hada), die zu diesem Zweck in Kuba ausgebildet worden waren. Im weiteren Verlauf des Films werden Aufnahmen dieser Art immer wieder auf diese Weise ins Bild gesetzt. In immer gleich großen Kadern verdecken sie dann Teile der Bilder der jüngeren Vergangenheit, die von Césars Kamerafrau Jenny Lou Ziegel gefilmt wurden. Die Digitalisate zwingen sich dem Bild nicht auf, wollen es nicht überwuchern, sondern vielmehr eine ergänzende Sichtweise anbieten, in Dialog treten. Ihre Funktion ist nicht eindeutig festzulegen: sie agieren als Zeitkapseln, als Referenzpunkte, als Kommentare, bedürfen aber selbst der Kommentierung und Kontextualisierung. Sie sind Zeugnisse einer Zeit des utopischen Übermuts, als sich Guinea-Bissau durch bewaffneten Widerstand gegen die Kolonialmacht Portugal zur Wehr setzte, um jenen Vorbildländern nachzueifern, in denen die führenden Köpfe der Revolution studiert hatten und die ihren Unabhängigkeitskampf finanzierten.

Spell Reel von Filipa César

© Stills from Spell Reel

Knapp vierzig Jahre später zählt Guinea-Bissau zu den ärmsten Ländern der Welt. Von der Utopie, die, wie sich schon zum damaligen Zeitpunkt abzeichnete, aus mannigfaltigen Gründen zum Scheitern verurteilt war, sind nur wenige Stunden an Filmaufnahmen erhalten geblieben. Nach den Tumulten des letzten politischen Umbruchs haben sich die archivarischen Bedingungen des halboffiziellen Filmarchivs von Guinea-Bissau zudem noch weiter verschlechtert. Von insgesamt rund hundert Stunden Material aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfs sind heute sechzig Prozent unwiderbringlich verloren und auch die restlichen vierzig Prozent sind stark in Mitleidenschaft gezogen (auch darüber legen die Einblendungen des digitalisierten Archivmaterials Zeugenschaft ab).

Spell Reel entstand, wie auch schon Filipa Césars letztjähriger Berlinale-Beitrag Transmission from the Liberated Zones, aus einem Rechercheprojekt, dass sich dem filmischen Erbe Guinea-Bissaus widmet. Initiiert wurde es durch das Projekt „Visionary Archive“ des Arsenals, finanziert zu großen Teilen vom deutschen Auswärtigen Amt. Die in Berlin lebende Portugiesin Filipa César unternimmt in Kollaboration mit einigen Veteranen der Unabhängigkeitsbewegung eine Spurensuche nach der Entstehungsgeschichte dieser Filmrollen und Magnetbänder, die in Fragmenten den entscheidenden Zeitpunkt in der Geschichte des unabhängigen Guinea-Bissaus festhalten. Spell Reel ist einerseits ein Dokument, dass den Prozess dieser medienarchäologischen Arbeit festhält und andererseits ein Essay zu Fragen des Verhältnisses von Geschichte, Erinnerung und Gegenwart, zur Kolonialgeschichte eines Landes und, darüber hinaus, zu den heute herrschenden Machtstrukturen in der Welt.

Spell Reel von Filipa César

© Stills from Spell Reel

Stefanie Schulte Strathaus, eine der Leiterinnen des Arsenals, sprach in einem Vortrag zum Thema des Archivs kürzlich davon, dass die Aufarbeitung jenes filmischen Erbes, dass in Asien, Lateinamerika und Afrika unter teils katastrophalen Lagerbedingungen seinem Verfall ausgeliefert ist, die Filmgeschichtsschreibung radikal verändern würde. Spell Reel zeugt vom Versuch diesem Verfall entgegenzuwirken. Die verschiedenen Stadien dieses Prozesses zeichnen sich im Film ab. Der Film ist zunächst Zeugnis einer Recherchearbeit, die in der Digitalisierung des Materials mündete. Aus Kostengründen konnte das Material zwar nicht in seiner analogen Form restauriert werden, aber immerhin ist so ein Faksimile erstellt worden bevor die Filmrollen noch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden sind und ihr dokumentarischer Wert womöglich für immer verloren gegangen wäre. Die Digitalisierung brachte außerdem mit sich, dass die Aufnahmen nun erstmals in größerem Umfang der Bevölkerung vorgeführt werden konnten. Auch von diesen Bemühungen zeugt der Film, wenn er Sana na N’Hada und andere ehemalige Guerrillas bei der Vorführung und Erklärung ihrer Filme zeigt – sowohl für die ländliche Bevölkerung Guinea-Bissaus, als auch bei politischen und diplomatischen Anlässen im Ausland. Spell Reel ist somit nicht nur Teil eines wichtigen Projekts, um Guinea-Bissau sein filmisches Gedächtnis zurückzugeben, sondern lässt auch erahnen, wie wichtig diese Form der Archivarbeit für die Konstitution von Geschichtsbewusstsein und Identität ist – machtlos (bisweilen steckt auch politische Berechnung dahinter) müssen die Staaten des „global south“ mitansehen, wie ihnen ihre eigene Geschichte entgleitet, während in Deutschland, wo die Mittel dafür vorhanden wären dieses Gedächtnis lebendig zu halten, die Archive im Essig-Syndrom ersticken.

Es gibt Grund zur Hoffnung, dass ähnliche Projekte vergleichbare Resonanz erzeugen, den Staaten und ihren Bewohnern ihre eigene Geschichte wieder zugänglich machen und somit Identität stiften. Zugleich ist Spell Reel geprägt von Bitterkeit angesichts des unwiderbringlichen Gedächtnisverlusts, den man durch den Verfall des Materials in den letzten Jahrzehnten hinnehmen musste. Am Ende Films ertönt ein Lied der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba, die als prominente Vertreterin des Panafrikanismus auch den Kampf der Rebellen in Guinea-Bissau unterstützte. An früherer Stelle sah man sie singend in Filmaufnahmen aus der Zeit. Die genauen Umstände dieser Aufnahmen lassen sich heute aufgrund der dünnen Materiallage nicht mehr rekonstruieren. Es scheint, die Idee des Panafrikanismus, die hehren Ideale der utopischen Revolutionäre, sind heute ebenso dem Verfall preisgegeben, wie das Material, dass über ihre Existenz und ihre Erfolge Zeugnis ablegt. Man könnte es auch so ausdrücken: ihrer beider Verfall bedingt sich gegenseitig.

Berlinale 2017: The Party von Sally Potter

The Party von Sally Potter

In der letzten Einstellung von Sally Potters The Party richtet Kristin Scott Thomas eine Pistole direkt auf die Kamera. Die Einstellung wiederholt damit die erste Einstellung des Films, setzt sie für einige Sekunden fort und sorgt damit für die letzte Pointe des Films. Danach wird die Leinwand schwarz, die Credits beschließen den rund 70-minütigen Film. Tosender Applaus im Zuschauerraum des Friedrichstadt-Palasts. Inmitten der jubelnden Masse sitze ich und schüttele den Kopf.

The Party von Sally Potter

© Adventure Pictures

The Party wird von den ersten Festivalkritiken als bissiger oder ironischer Kommentar zum politischen Klima gewertet, die Leistung der Schauspieler und die gekonnte Inszenierung des Kammerspiels gelobt. Bei solchen Einschätzungen beginne ich mein eigenes Urteilungsvermögen in Frage zu stellen – habe ich einen anderen Film gesehen? Einen Film, in dem Schauspieler ihre festgefahrenen, eindimensionalen Figuren nie auch nur ansatzweise aus den streng festgelegten Rollenverteilungen ausbrechen lassen, einen Film, der vielmehr selbstgerecht ein Weltbild bestätigt statt es in Frage zu stellen oder aufzubrechen.

Aber nochmal von vorn: Der Film spielt zur Gänze in der Wohnung der neuen Gesundheitssprecherin im „shadow cabinet“ der Oppostionspartei (die nie genannte Labour Party). Zur Feier des Tages hat sie einige ihrer Freunde eingeladen. Die Gäste sind allesamt wenig komplexe Karikaturen, die all das sagen und sich so verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Janets Jugendfreundin und Altlinke April kritisiert die Behäbigkeit des parlamentarischen Apparats, ihr deutscher Ehemann Gottfried wettert gegen die Schulmedizin und empfiehlt dem todkranken Bill (Janets Ehegatte) auf die Selbstheilkräfte seines Körpers zu vertrauen, die lesbische Vorbildfeministin Martha gibt genau jene Wortmeldungen von sich, die man von einer Professorin für Gender Studies erwartet, der neureiche Banker Tom zieht nach Ankunft in der Wohnung erstmal im Badezimmer eine Line Koks. Man spricht über Genderrollen, künstliche Befruchtung, Alternativmedizin, den Kapitalismus.

Wenn sich im weiteren Verlauf der schrullige Gottfried mit seinem deutschen Akzent über die Inkompetenz der Ärzte ereifert oder Martha eine ihrer feministischen Parolen zum Besten gibt, die seit mindestens zwanzig Jahren Patina angesetzt haben, ist das nicht nur vorhersehbar, sondern auch mutlos – kühl und präzise berechnet, wird geboten, was sich das Arthaus-Publikum wünscht. Postmodern-halbironisch werden diese Figuren durch den Kakao gezogen, alles im Rahmen der Erwartbarkeit, ohne ihnen je Eigenständigkeit oder Brüchigkeit zuzugestehen. Der Film reproduziert jene Stereotypen, mit denen sich die Gesellschaftsschicht, die hier porträtiert wird, und die auch den Großteil seiner Zielgruppe ausmacht, vorgibt allen anderen überlegen zu sein, weil sie ja eh über sich selbst lachen kann. Doch es lacht niemand über sich selbst, niemand bleibt mal ein Lachen im Hals stecken, es gibt in The Party nur das zu hören, was man erwartet und worüber man schon viele Male zuvor gelacht hat. Im Grunde gleicht der Film in dieser Herangehensweise einer filmischen Filterblase, für linksgerichtete, aber bequem in der Bourgeoisie situierte Guardian-Leser, der Babyboomer-Generation. Der Film ist für diese Menschen, das, was Mario Barth und RTL für ein paar soziale Klassen darunter ist: eine selbstgefällige Bestätigung des eigenen Weltbilds. Da hilft es auch wenig, dass der Film seine Pointen mit souveränem Timing vorträgt, oder dass der Raum der gutbürgerlichen Wohnung tatsächlich sehr schön in Szene gesetzt wird.

The Party von Sally Potter

© Adventure Pictures

Nach der Abstimmung der Briten über den Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat man viel darüber gelesen und gehört, dass sich das politische und gesellschaftliche Establishment mit ihrem ironischen Überlegenheitsgehabe zu weit von der Masse der Wählerschaft entfernt hat. Der Populismus hat deshalb Hochkultur, weil es sehr einfach geworden ist, die Arroganz der Oberschicht gegen sie zu wenden. The Party ist ein Film von und für jenen Teil der Gesellschaft, der durch diese Überheblichkeit bereits für Brexit und Trump und Co gesorgt hat.

WdK Tag 3: „Ausbruch/Breakout“ – Wo ist der Punk?

Punk. Peaches ist zu Gast. Programm. Julian Ross, Filmkurator beim Festival in Rotterdam, soll der zweite Mitwirkende bei einer Debatte unter dem Stichwort „Ausbruch/Breakout“ sein. Das Objekt der Debatte: Aroused by Gymnopedies, ein Softporno des altehrwürdigen japanischen Studios Nikkatsu, eine Hommage an die hauseigenen Roman Porno Filme der siebziger und achtziger Jahre. Die Woche der Kritik auf der Suche nach Kontroverse? Ein radikaler Film für Peaches, eine radikale Programmierung für Julian Ross, und die Hoffnung auf eine Debatte, die selbst einmal den Ausbruch probt. Los geht’s.

Ein ziemlich abgewrackter Mann wacht voll angezogen auf und schleicht durch eine Junggesellenküche, aus dem Off fällt Musik ins Zimmer, zieht ihn rüber in die weichgezeichnete David Hamilton-Welt des Blumenzimmers nebenan. Aus dem Ankündigungstext weiß ich: der Mann ist ein alternder Regisseur auf Wanderung durch die Trümmer seiner vergangenen Karriere. Und am Wegesrand nimmt er sich eine Frau nach der Anderen. Da sitzt dann auch eine junge Frau im roten Kleid am spiegelglatten schwarzen Klavier und tropft langsam und schwer Erik Saties titelgebende Gymnopedie I ins Gegenlicht. Die Farben sind saftig ins pastellene übersteuert und alle Blumen stehen in voller Blüte. Ein paar Sekunden Imagination, dann – nach einem Gegenschuss auf den Mann – ist die Frau verschwunden, mitsamt dem Weichzeichner und den überdrehten Farben. Die blühende Imagination ist verwelkt, oder so. Das Zimmer ist mit einem Mal kalt und einfach. Der klebrige Kitsch trifft auf die spiegelglatte Erfahrung von künstlerischer Impotenz. Rutsch nicht aus, alter Mann.

Logischerweise folgt die erste Sexszene sogleich, keine Zeit verlieren, eine Sexszene alle 10 Minuten ist Vorschrift. Gerade erst mit leerem Blick am Fenster hinter dem nun leeren Klavier angekommen, ist er auch schon gefangen vom Anblick der Frau an der Wäscheleine im Garten nebenan, die Blickkontakt sucht, sich langsam entblößt und anfängt sich an einer Hausecke zu reiben. Nach kurzem unbeeindruckten Zögern beginnt der Mann hinterm Fenster zu masturbieren; mehr pflichtbewusst als lustvoll. Ziemlich prosaisch das Ganze. Und genau wie mit dem künstlerischen, will es dann auch mit dem sexuellen Erguss nicht so ganz funktionieren. Der Mann packt wieder ein und verlässt das Haus, die Frau schaut ihm mit ungestillt lustvollem Blick hinterher. Es wird eine Woche voller sexueller Erlebnisse, vonsteigender Aggressivität und Verzweiflung, folgen.

Aroused by Gymnopedies Still II

Nach dieser Eröffnung ist die Hoffnung groß: darüber sollte man doch reden können. Zahllose Fragen sind weit offen: Was ist das Verhältnis von künstlerischer Impotenz und sexueller Lustlosigkeit bzw. sexuellem Pflichtbewusstsein? Sind die sexuellen Abenteuer ein Versuch die Vergangenheit oder eine verlorene Imaginationskraft zu reanimieren? Werden diese Versuche tatsächlich von ihm initiiert oder sich nur opportunistisch angeeignet? Können sie erfolgreich sein? Wer ist hier aktiv und wer passiv? Wer verführt wen und wie konstituieren sich Machtverhältnisse in den Sexszenen? Gibt es Moment der Selbstermächtigung bei den Frauen? Warum ist er so unverhohlen und ausnahmslos unattraktiv und die Frauen alle ebenso ausnahmslos schön? Und was finden die alle an dem? Kann man das überhaupt psychologisierend fassen oder muss man es als eine Mechanik verstehen, die der Film voraussetzt? Gibt es so etwas wie Nähe zwischen den Figuren? Mit wem sympathisiert der Film und wie urteilt er über seine eigenen Darstellungsmodi? Gibt es eine Distanzierung von auf den ersten Blick misogynen Bildtypen? Wie ist das Verhältnis von emphatischem Kitsch und nüchterner Sachlichkeit? Und entsteht daraus eine Komik? Sind das zum Ende des Films Vergewaltigungsszenen? Hinterfragt der Film diese Bilder? Allgemeiner: wie stellt der Film Sexualität dar? Und ist das problematisch oder vielleicht doch subversiv?

Alles kontroverse Fragen, deren Antworten keinesfalls selbstverständlich sind, aber auch alles Fragen, die nach ihrer sehr durchsichtigen Konstruktion in der ersten Szene zunehmend aus der Oberfläche des Films verschwinden und sich in tieferen Schichten ansiedeln, wo sie unter den belanglosen und langweiligen Notwendigkeiten eines kommerziellen softpornographischen Films begraben liegen. In einem mechanischen Trott führt der Film von Sexszene zu Sexszene, ohne die oben gestellten Fragen jemals explizit zu machen oder gar in einem Akt des Experiments radikal umzuwerten. Stattdessen: gleichmäßige Gedanken, betäubende Wiederholung. Was für eine große Belanglosigkeit, dachte ich im und auch noch lange nach dem Kino.

Aber vielleicht, denke ich jetzt während des Schreibens, liegt gerade in dieser repetitiven Struktur die radikale Darstellung einer Welterfahrung, in der nicht mal mehr das sexuelle Abenteuer – sonst oft Sinnbild eines transgressiven Erlebens – eine Zustandsveränderung herbeiführen kann, so sehr man sich auch bemüht. Sex wäre für den Protagonisten dann nicht mit Lustgewinn, Befriedigung oder gar Transzendenz verknüpft, sondern mit harter, willentlicher Anstrengung die in Gewalt endet. Im Ende, in dem die Vergangenheit – die im Koma liegende Ehefrau – zuerst durch besonders gewaltsamen Sex mit der behandelnden Krankenschwester reanimiert wird, um kurz darauf doch zu sterben, würde dann der ganze Zynismus des Films offenbar. Der filmische ‚Ausbruch‘ würde gerade darin liegen, ein absolut unüberwindbares ausgeschlossen sein von anderen Menschen und der eigenen Vergangenheit zu inszenieren … Vielleicht.

Den Zuhörern solche Lesarten zu ermöglichen, um sie dann gemeinsam diskutieren und kritisch befragen zu können, sollte die Aufgabe einer Filmdebatte sein. Nach Aroused by Gymnopedies, der seine interessanten und möglicherweise radikalen Fragen sicher hinter den Belanglosigkeiten einer Softporno-Hommage versteckt hält, wäre diese Sichtbarmachung durch eine gute Debatte besonders wichtig gewesen. Umso enttäuschender, dass Dennis Vetter und Julian Ross, statt die wichtigen Fragen zu stellen, dem Film durch die extensive historische Einordnung der Hommage in eine längst vergangene Zeit des japanischen Kinos noch das Letzte an Dringlichkeit nehmen, während Peaches, nicht besonders elaboriert, versucht die Sexdarstellung des Films auf das einfache Stichwort „Vergewaltigung“ herunter zu brechen und so direkt mal eine hohe moralische Mauer auftürmt vor dem gelobten Land der offenen Diskussion. Wenn man sich eine Punkerin einlädt und über ‚Ausbruch‘ reden will, dann muss man an so einer Stelle intervenieren und eine Gegenthese vertreten, sonst nimmt man den programmierten Film nicht ernst und verbannt ihn wieder zurück in eben jene Belanglosigkeit aus der man ihn geholt hat um ein punkiges Programm zu machen. Da muss man auch mal das Risiko eingehen, die eine oder andere vor den Kopf zu stoßen, und sei sie auch ein Gast. Kritische Gespräche entstehen nicht, wo alle der Beteiligten im Sicherheitsmodus bleiben. Wenn es nur darum ginge nichts Falsches zu sagen, dann würde vielleicht nie etwas Richtiges gesagt.