Rotterdamnation: Fireworks Despite the Night

  • Malgré la Nuit von Philippe Grandrieux hinterlässt eine wollüstige Wunde, die die Tage davor und die Tage danach überschattet. Die Fetzen einer Tragödie brechen durch die Poren, durch Haut, Gesang und Schatten und in diesen Augenblicken scheinen mir die Gesichter und Körper schöner, als sie je waren. Es geht um Liebe. Nein. Es fliegt und schwebt und stürzt um Liebe, denn „um Liebe“ bedeutet auch um Schmerzen, Schuld, Eifersucht, Rache, Hass, Verlust. Aber vor allem um Fragilität. In einem Liebesdreieck/Liebesviereck/Liebesfünfeck in dem die am stärksten gespürte Figur die abwesende ist, ist jeder und jede zugleich Waffe und Wunde. In hypnotischen Nummern scheint Roxane Mesquida mehr mit den Augen, als mit der Stimme zu singen. Die grüngoldene Schuppen eines Fisches bedecken die Rache eines possessiven eifersüchtigen Vaters, der Körper wird ständig verletzt. Grandrieuxs sinnesschmierender und sinnesangreifender Malgré la Nuit fällt vom Himmel über die Stadt in den tiefen Abgrund des Waldes und es scheint, dass der Himmel schon immer ein Abgrund war. Wenn es sich bei Sombre und La vie nouvelle manchmal so anfühlte, als würde das Sehnen nach einer Essenz in eine Kontraktion münden, dann fühlt es sich bei Malgré la Nuit so an, als würde es zu einer Ausdehnung führen, bei der sich die Intensität steigert, statt sich zu vermindern.

 

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  • Wegen dieses kränklichen Drucks, auf einem Festival so viel wie möglich zu sehen, die Zeit auszunutzen, habe ich mich forciert wieder ins Kino zu gehen, obwohl ich genug für den Tag bekommen hatte. Ich war aber verwirrt und dachte, dass ich mehrere Kurzfilme sehen werde, unter ihnen auch Ego, den neusten von Nicolas Provost. Ego habe ich dann wirklich gesehen, aber als Vorfilm zu einem Langfilm, den ich nicht im Plan hatte und inzwischen schon halbwegs vergessen habe.

 

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  • Obwohl es überall stand, dass das Festival zwischen dem 27. Januar und dem 7. Februar stattfindet, gibt es am 7. nichts außer Bowies Blackstar, Radiohead Musik und Internet im halbverlassenen Café des Festivalzentrums. Es gibt auch die Möglichkeit, manche Filme online zu sehen. Dafür müsste man aber einen noch verlasseneren Ort finden. Am letzten Tag des Festivals, der eigentlich kein Festivaltag mehr ist, scheint  die Sonne zum ersten Mal seitdem ich hier bin. Man freut sich darüber, weil es sowieso keine Kinos mehr gibt, in die man gehen kann.

Rotterdamnation: Grégoireisation

  • Vom Bildschirm eines Festivalrechners schaut mich Grégoire Colin böse an und das freut mich sehr.

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  • Oberfächlich passend zu Philippe Garrels L’ombre des femmes war L’Accademia delle Muse von José Luis Guerin, in dem, unter anderen, auch das Verhältnis vom persönlichen und professionellen Leben ‘untersucht’ wird. Die Beziehungen zwischen einem Universitätsprofessor und seinen Studentinnen, die er zum Musewerden auffordert, springen aus dem rein intellektuellen Kontext raus und landen im Leben. Die Hauptfrage, mit der der Film spielt, bleibt eine, die schon in den anfänglichen Seminardiskussionen und Küchengesprächen (die sicher keine sind) zwischen dem Professor und seiner Frau formuliert wird: Inwiefern ist Liebe ein intellektuelles Konstrukt? Der Sprung von der theoretischen Behandlung des Musentums zum Exerzieren des Musentums im Leben, zu den in Affäre/n des Professors mit seinen Studentinnen, ist eigentlich gar kein Sprung. Einerseits bleibt man im theoretischen Bereich, andererseits fragt man sich, ob der theoretische Bereich jemals theoretisch genug war. All diese Verwirrungen bezüglich Beziehung und Bildung bringt L’Accademia delle Muse mit viel Humor und Spielfreudigkeit auf die Leinwand.

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  • Das Festival ist doch nicht aus, diese viele Menschen, die ich nicht kenne, hatten sich alle nur vor mir versteckt. Ich weiss es jetzt, weil ich zufällig im Festivalzentrum war, als sie alle von der Preisverleihung rausgekommen sind.
  • Notfilm, von dem ich schon vor einem Jahr erfahren hatte und dessen stark mediatisierten Förderungskampagne ich neugierig beobachtet hatte, war letztendlich eine ziemlich bittere Erfahrung. So erfreulich es sein mag, dass Ross Lipman noch nicht gesehene Outtakes von Film gefunden hat, sowie Voice Recordings von Beckett, dessen Stimme man bislang nicht kannte (das waren die Gründe für meine bislang immer steigernde Neugierde auf diesen Film), so dubios sind Lipmans Entscheidungen für wie diese Entdeckungen präsentiert werden sollen. Notfilm wird von sentimentalen Eskapaden und merkwürdige Hypothesen über die Ähnlichkeit zwischen Beckett und Keaton (als Menschen) erschwert. Dass der Film eine Powerpoint-Ästhetik hat, macht aber Sinn, schließlich erwähnt Lipman immer wieder, dass sein Film kein (not) Film ist, sondern ein digitales Werk. Notfilm ist weder poetisch, noch informativ genug, um genießbar zu sein. Die unglaubliche Unterstützung aus der Filmwelt, die das Projekt bekommen hat, bleibt unbelohnt.

 

  • 22:30 war eine gute Uhrzeit um den positiv überraschenden Évolution von Lucile Hadzihalilovic zu sehen. (Das Positive kommt größtenteils davon, dass Hadzihalilovics‘ Innocence, den ich vor einigen jahren gesehen habe, in meinem Gedächtnis Jahr für Jahr schlechter wird). Ich hatte Angst im Film, obwohl ich richtige Angst bei einem Film eigentlich nur dann habe, wenn viel mehr Leben eindringt. Die Insel in Évolution hat mich daran erinnert, dass ich am Mittag wieder auf dieser entfernten traurigen Insel mit den zwei Kinos war und gedacht habe, dass die Nacht mich nicht dort finden darf.
  • Das Critics’ Choice Heft sieht dieses Jahr wieder sehr spannend aus, ich bringe es mit.12665802_10206824797353392_706107552_n

Rotterdamnation: “Being a buffalo is an art”

  • Highlight des Festivals bislang (wenn ich das nach Entdeckungen betrachte und Philippe Garrel um einige Zeilen verschieben darf)  ist Pietro Marcellos Bella e perduta. Die (innere) Stimme und die Augen (keines Esels, sondern) eines Büffels fungieren als emotionale und philosophische Führer  durch einen Film, der vermutlich unvereinbare Register, die ich vielleicht ein anderes Mal genauer beschreiben muss, auf eine wunderbare, Seltsamkeitsgefühle induzierende Art vermischt. Es geht dabei nicht nur um die Vermischung vom Dokumetarischen und Fiktionalen, von der “Hybridität” des Films, die an sich, egal wie meisterlich verwoben, schwer noch das Gefühl einer frischen Entdeckung verursachen kann. Mit verlassenen Schlössern, einer commedia all’improvviso Figur, die die Kommunikation zwischen den Toten und  den Lebenden ermöglicht und einer merkwürdigen Art, dann und jetzt zu thematisieren und zu zeigen im Kopf, stelle ich den Film beiseite und bereite mich darauf vor, nach dem Festival mehr daran zu denken.
  • Sie saßen auf den Sofas und dann merkte ich, dass sie Chaplin anschauen:

 

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  • Für mich fängt das Festival erst richtig an, für die meisten scheint es schon aus zu sein. Einige Sofas und Tische, wo manchmal Interviews geführt werden, sind seit gestern verschwunden und Pressescreenings wird es auch nicht mehr geben.
  • In der nicht-wackelnden Fragilität von L’Ombre des Femmes, die zusammen mit einer weichen Klarheit kommt, habe ich etwas gefunden, von dem ich nicht wusste, dass ich an Film vermisst habe. Ich denke da nur zur Hälfte an Stanislas Merhar. Vielleicht ist es Notwendigkeit. Vielleicht ist es die Schönheit des jahrelangen Engagements, sich mit Beziehungen auseinanderzusetzen. Hast du gesehen, wie die Figuren zittern?

 

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  • Entweder springt Regen eigentlich aus dem Boden raus, oder ich habe ein Loch in einem Schuh.
  • Nach dem Festival ist es endlich Zeit, weitere Filme von Artavazd Pelešjan zu sehen und dann Marcellos Il silenzio di Pelesjan. Ich hoffe, dass Pietro Marcello und Julian Radlmaier, dessen Ein proletarisches Wintermärchen mir immer spannender scheint, sich kennen. Ich hoffe auch, dass mein Kopf sie nicht wegen Schlössern, sondern wegen einer ähnlichen Auffassung von  Film(emachen) zusammenbringt.
  • In einem Kino gibt es Tati-Poster! Habe ich das letztes Jahr auch gesehen und vergessen?

 

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  • Ich habe in The Whispering Star eine Androidin gesehen, die in einem Raumschiff lebt, dass eigentlich ein Haus aus den 50er(ishen) Jahren ist. Dort sind Insekten (Schmetterlinge) in den Neonlampen gefangen. Fukushima. Es wird nur geflüstert und der Film ist schwarz-weiss mit einer Eskapade in Farbe und ich finde, dass er ein geniesbarer, hüllen-stylisher Film ist und ich hätte ihn vielleicht doch lieber am Anfang meiner Teenagehood gesehen.
  • Ich glaube, dass alle meine Waffel von gestern gesehen haben und auch eine wollten, weil heute, als ich wieder eine kaufen wollte, gab es keine große mehr, nur viele kleinere.

Rotterdamnation: Ein Stapel mit Lee Kang-shengs Gesicht

Als ich Rotterdam erreiche, ist die Hälfte des Festivals schon vorbei. Aus dem Bus, der mich vom Flughafen ins Zentrum bringt, sehe ich viele dubiose Fortbewegungsmittel – Ponys, die eine Kutsche tragen, ein Motorrad mit einem lustigen Seitenwagen, Fahrrad-Autos. Als ich später die nicht-so-kluge Entscheidung treffe, den Weg vom Festivalzentrum zu der entfernten Insel, auf der sich noch zwei Kinos befinden, zu Fuß zu machen, statt auf den Shuttle Bus zu warten, denke ich neidisch an all diesen Transportmittel. Letztes Jahr habe ich den gleichen Fehler gemacht.

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Es gibt diese Filme, bei denen man den Drang spürt, alles so subtil wie möglich zu machen. meist wird dabei eine einzige klare Sache, die den Film vermitteln will, so kompliziert wie möglich kodifiziert und Sprache muss um jeden Preis vermieden werden. Mother von Vlado Skafar war eigentlich nicht so, er hat mich nur an The Gulls von Ella Manzheeva erinnert, den ich letztes Jahr auf der Anonimul Retrospektive in Bukarest gesehen habe. Ich habe bei beiden gespürt, dass die Subtilität nicht unbedingt subtil war und daher das Verzichten auf Sprache als gezwungen empfunden. Mother spricht mehr durch Sinnlichkeit und obwohl das gut klingt, hatte ich den Eindruck, dass seine Sinnlicheit eine Entzifferung verlangt, weile diese Sinnlichkeit nicht für sich selbst steht. Die Ansammlung an Haut, Händen, die mit einem Lichtstreifen, der durch einem Spalt in der Tür eindringt spielen, Körper im Wasser, Körper im Sand war aber doch zu einem gewissen Grad erfreulich.

Ich esse im Festivalzentrum eine Honigwaffel so groß wie mein Kopf und halte die Programmzeitung vor mir, um meine verurteilenswerte Freude daran zu verstecken, obwohl ich Programme nur noch als Apps mit vielen Filtern lesen kann. (Es ist wie mit den Landkarten – sie müssen in der Hosentasche sein und mit mir sprechen – biege links, biege rechts).

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In Minotauro von Nicolás Pereda gibt es, wie bei Apichtapong Weerasethakul, eine Schlafkrankheit, die die Figuren ergreift. Noch mehr erinnert mich der Film an Eugène Greens La Sapienza, vielleicht weil die Figuren sich nicht anschauen und durch das Vorlesen von Buchpassagen (erfundene oder wirklich existierende? Die Passagen scheinen von der “Handlung”, die wir nicht sehen können, zu sprechen) kommunizieren. Sonst berühren sie sich nur indem sie im Schlaf aufeinanderfallen.

Ich habe neugierig durch die zerstreuten Flyers, die hier überall liegen, nach etwas von Interesse gesucht. Und plötzlich fand ich es: mehrere Stapel von Lee Kang-shengs Gesicht. Bild aus Tsai Ming-liangs Trailer für die Viennale. Rückseite: Kalender mit Werbung für die nächste Viennale.

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Chevalier von Athina Rachel Tsangari ist wie eine Mischung aus Miguel Gomes’ A Cara que Mereces und Pablo Larraíns El Club. (Ich werde versuchen, mit diesen Vergleichen aufzuhören.) Mehrere Männer auf einem Schiff starten ein Wer-ist-der-Beste Wettbewerb und das gute daran ist, dass sie Kamera sich manchmal parteiisch involviert durch die Art, in die Figuren kadriert, verfolgt, fokussiert/defokussiert werden. Ohne dass es zum Muster wird.