Im Spiegel des Betrachters: Das Selbst im Film

Stendhal vergleicht den Roman mit einem Spiegel, von einem Mann im Korb auf dem Rücken getragen, der sich eine belebte Strasse entlang bewegt. Manchmal reflektiert er in die Augen des Betrachters das Blau des Himmels, manchmal den Schlamm der Strassenpfützen.

Was er nicht sagt: der Spiegel zeigt auch den Betrachter selbst.

Mögen wir Filme nur dann, wenn wir uns selbst darin wiedererkennen? Gibt es überhaupt Filme, in denen wir uns nicht wiedererkennen? Solche, die uns wegführen von uns selbst, in die Welt hinein. Zwangsläufig sind Filme unser Spiegel, aber wir sehen auch, was um uns, vor uns, und vor allem hinter uns liegt. Und was ist mit Filmen, die der sog. Experimentalfilmtradition angehören, sprich: deren Augenmerk oft nicht der Repräsentation gilt und die zum Abstrakten oder Konzeptuellen tendieren, etwa Ruttmans oder Fischingers Auffassungen von Film als „Musik“? Filme wie Lichtspiel Opus I-IV (1921-24), An Optical Poem (1938), und dementsprechend auch Brakhages Night Music (1986). Ich denke auch an Christian Lebrat, der in Trama und Holon (1978 – 1982) mit Farben experimentiert, versucht, neue Farben, oder neue Empfindungen von Farben zu finden, und zwar so, dass wiederholtes Schauen jeweils andere Farben oder Empfindungen an die Oberfläche spült. Können wir uns auch darin erkennen? Zumindest sind uns ja die Farben und Rhythmen bekannt. Im Vorwort zu An Optical Poem heißt es: To most of us, music suggests definitive mental images of form and color. The picture you are about to see is a novel scientific experiment – its object is to convey these mental images in visual form.

Selbst dieser abstrakte Film möchte nur etwas zeigen, das in uns liegt, ist ein Vehikel, um uns selbst zu bestätigen. Was wir sonst nur sehen können, wenn wir quasi die Augen schliessen – also in einer zweiten, imaginären Welt – transferiert der Film ins Reale. Hier stehen Lebrats Filme vielleicht als Gegensatz dazu, als epileptische, vibrierende Visionen (eine DVD-Komplation einiger seiner Werke wurde mit dem Titel vibrations versehen), die sich uns entziehen. Lebrat selbst sagt, er habe den Effekt dieser Filme überhaupt nicht vorhersehen können, wäre davon überrascht worden – ist es vielleicht nötig, dass ein Filmemacher bis zu einem gewissen Grad keine Kontrolle über sein Material hat, dass seine Filme abheben, um uns den Kontakt mit etwas Anderem zu ermöglichen, uns mit einer Perspektive auszustatten, die weit von uns entfernt liegt? Vielleicht können wir uns selbst so ein Stück weit aus der Film-Erfahrung wegdenken.

Bigger Than Life von Nicholas Ray

Zweifellos freut es uns, wenn wir in einem Film unsere eigenen Erfahrungen erkennen können, wenn wir aufschreien möchten – „genau so!“; einerlei, ob sich diese am Handlungsverlauf, einer evozierten Atmosphäre, einer Charakterisierung, oder an Details, einer Geste, manifestieren. Es spendet Trost – wir sind nicht alleine –, schafft eine Bande mit Charakteren oder Regisseuren. Extrem vielen Cinephilen scheint etwa Rohmers Le rayon vert besonders am Herzen zu liegen, oder auch Nicholas Rays On Dangerous Ground, und kein Wunder: es sind Filme über Einsamkeit, eine Grundvoraussetzung, um das Kino lieben zu können. Oder wenn ich an das erste Drittel von Akermans Je, tu, il, elle denke, ein Film, in dem ich mich sofort selbst sehe. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass er den Eindruck erweckt, er entstehe aus dem Nichts, denn: es ist einer der selten anzutreffenden Filme, dei denen keine „Vorkenntnisse“ nötig sind, um sie zu verstehen, es gibt keine Mythen, die in der Ferne herumgeistern; ein „geschichtsloser“ Film. Er wächst nur, wie wir in unserer Wahrnehmung, aus sich selbst heraus – „genau so“!, ich fühle mich erkannt. Doch ist es deswegen ein guter Film?

Klar ist auch die Gefahr, die in solcher Selbsterkenntnis liegt; status quo, wir sehen und bemitleiden uns, aber es gibt kein Fortschreiten, keine Bewegung. Ist es nicht Aufgabe des Films, uns von uns selbst zu entfremden, Distanz und somit Reflexion zu injizieren, die ihrerseits Wandel und Taten ermöglichen? Aber ist das überhaupt möglich, wo wir doch dazu tendieren, alles so zu sehen, dass es uns entspricht? Sich selbst in einem Film sehen, das heisst, ihn schon zu kennen; und was wir noch nicht kennen, das macht der Akt des Sehens zum Erkannten, um es einordnen, oder: um es mögen zu können. Wenn wir uns hineinprojizieren in eine Identifikationsfigur, und weinen, weil es ihr schlecht geht: das hat Pedro Costa in einem Vortrag als „Fastfood“ bezeichnet: „It’s absolutely necessary that you must be outside, not on the screen. Never cry or suffer with the character who suffers on the screen, never. When we do that, it’s exactly what we do when we go to McDonalds„. Michel Mourlet in „sur un art ignoré“ hat gesagt: „Le cinéma est un regard qui se substitue au nôtre pour nous donner un monde accordé à nos désirs„, mit anderen Worten: Das Kino ist noch angepasster an unsere Begehren als unser eigener Blick.

Liberté et Patrie von Jean-Luc Godard

Filme, die uns von uns selbst wegreissen: da wäre etwa Godard, der so etwas vielleicht versucht (an dieser Stelle könnte man natürlich auch all die „Brechtschen“ Filme anführen, sei es Ford, Sirk, Straub-Huillet, usf.). All seine Filme enthalten die Welt als Gesamtes, lenken die Aufmerksamkeit weg von sich selbst, durch ständige Referenzen an Alles, Kunst, Personen, Begebnisse, Geschichten, Ideen. Letzthin habe ich Liberté et Patrie (2002) gesehen. Wie Michael Althen schreibt, bringt Godard die Form selbst zum Denken (une forme qui pense); der Blick scheint zuerst vom Film selbst zu kommen, auch wenn wir dann den Unseren noch darüberlegen. Wir erkennen darin nicht uns, sondern wir sehen den Film, wie er uns erkennt.

P.S: Sollten Filme, die uns unser Selbst spüren lassen, dies nur in einem negativen Licht tun? Negatives Licht – cinéma militant, positives Licht – humanistisches Kino.

Wenn ich Danièle Huillet nicht sehen kann

In der Berliner Akademie der Künste wurde vergangene Woche ein verhältnismäßig riesiges Projekt auch für die Öffentlichkeit gestartet. Es betrifft die Arbeit (die hierbei großgeschrieben werden muss) der Filmemacher und Akademie-Mitglieder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Schwarze Sünde
Eine umfassende Ausstellung befasst sich mit Arbeits- und Vergegenwärtigungsprozessen ihrer Filme und der Welt. Der Titel: Sagen Sie’s den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Gleichzeitig werden in der Akademie einige Filme gezeigt, es gibt Konzerte und eine große Retrospektive an unterschiedlichen Orten in Berlin. (Mehr Infos hier) Ein großer Fokus wurde bei den unterschiedlichen Präsentationen, sogenannten Rencontres, am ersten Wochenende auf die Frage der Steine gelegt. Es handelt sich um einen Ausspruch von Danièle Huillet während einer Probe, als ein Schauspieler sich fragte, an wen er sich wenden solle. Anhand der Steine wurden Themen eröffnet, die sich zum Beispiel um die Zielrichtung einer abstrakten, politischen Wut drehten. Dabei scheint mir die dringlichere Frage jene der Vergegenwärtigung zu sein, die sich in dieser von Manfred Bauschulte in Elio Vittorini erkannten abstrakten Wut auch erzählen lässt. Innerhalb der umfassenden, reichen und zunächst überfordernden Ausstellung finden sich folgerichtig neben vielen faszinierenden, nicht zu sehr auf den Straub-Altar gestellten Arbeitsdokumenten, Interviews, Briefen und Setbildern (bewegt und unbewegt) auch künstlerische Interventionen, wenn man so will, also Arbeiten, die jene von Straub, Huillet in der Gegenwart befragen.

Ein kurzer Einschub, weil mir die von Jean-Pierre Gorin vorgeschlagene Schreibweise von Straub, Huillet (getrennt durch ein Komma, einen Atemzug oder wie sie in Où gît votre sourire enfoui? von Pedro Costa erklären, ein Frame) zwar wichtig scheint, aber nicht so relevant wie das gar nicht so subtile Politikum, das dort an der Akademie um den Namen gemacht wurde. So hörte man bei den Einführungen zahlreiche Varianten, die sich immer darum bemühten die Rolle von Danièle Huillet als mehr zu verstehen, als einen Namen hinter oder in Straub. Natürlich ist dieser Ansatz richtig, aber wie bei so viel politischer Korrektheit dieser Tage darf man schon fragen, ob die Reihenfolge einer Namensnennung wirklich zur allgemeinen Aufklärung ihrer Arbeit beiträgt. Viel mehr half da zum Beispiel das unterhaltsame Rencontre mit Kameramann Renato Berta, der erzählte wie Straub sich immer mehr um das Bild und Huillet sich immer mehr um den Ton sorgte, was zu einigen süffisanten Konflikten führte. Die Frage bleibt trotzdem bestehen. Sie gilt zum Beispiel auch für die portugiesischen Filmemacher António Reis und Margarida Cordeiro. In deren Fall wird Cordeiro oft völlig unterschlagen. Die sprachliche Richtigstellung bewegt sich in einem Vakuum, weil sie durch das nächste Verkürzen auf „die Straubs“ oder „das Kino von Straub“ wieder aufgehoben wird. Statt sich in solchen Sprach-Politika zu verunsichern, täte man gut daran, die Arbeit von Danièle Huillet sichtbar zu machen. Auch das leistet die Ausstellung und wie so oft mehr noch die Filme, die im Rahmen der Rencontres sowie über den Herbst in Berlin gezeigt werden. Neben den Filmen können solche sprachliche Verweise nur als ablenkender Schleier wahrgenommen werden.

Wie erzählt sich also das Kino von Huillet, Straub in der Gegenwart? Was erzählt es über die Gegenwart? Wie kann man von ihm erzählen in der Gegenwart? Vor allem, das wurde sowohl in der Ausstellung als auch bei den Vorträgen klar, mit einem benjaminschen Blick zurück nach vorne. Das passt auch irgendwo zum Kino von Straub, Huillet, wenn nicht zum Kino per se. Es wirkt fast anachronistisch im Vergleich zur modernen Welt. Die Wichtigkeit auf etwas zurück zu schauen ist in ihrem Kino angelegt und damit spiegelt sich das Vorhaben einer solchen Ausstellung und Retrospektive in sich selbst. Es ist die Perspektive zurück auf einen immer auch zurückgehenden Blick. Dennoch scheinen mir einige der Lektionen, die daraus gezogen werden, das gilt für die Vortragenden wie die Künstler innerhalb der Ausstellung, fragwürdig. Denn der Blick zurück war im Fall von Huillet, Straub immer mit einem gleichwertigen, in seiner Sinnlichkeit oft dominanten Blick in die Gegenwart verbunden. Jene Gegenwart fehlte vielen Reaktionen auf ihr Werk. Statt einer Neugier auf das Lebendige spürt man Versuche eine Methodik zu fassen, die eigentlich von ihrer Offenheit lebt. Ein Innehalten vor diesen Filmen wirkt immer hilflos. Genauso wie ein Bedauern. Deutlich wird das in zwei Beispielen im Rahmen der Ausstellung. Einmal werden fünf Ausgaben der Zeitschrift Filmkritik, auf deren Cover sich Filme von Straub,Huillet befinden in einer Glasvitrine ausgestellt. Es mag ein furchtbar naiver Vorschlag sein, aber eigentlich sollte man Besuchern ermöglichen, diese zu lesen, statt vor ihnen zu stehen wie vor Relikten (es sei erwähnt, dass es anderswo auf der Ausstellung die Möglichkeit des Lesens gibt). Ein anderes Beispiel ist Luisa Greenfields Video-Doppelprojektion History Lessons By Comparison. Darin gibt es eine Fahrt, die jene lange Autofahrt aus Geschichtsunterricht nachvollziehen will. Es ist also eine tatsächliche Re-Präsentation. Aber sie kennt nur eine Aufmerksamkeit für das Bild (nicht für die Welt, in der es entsteht) und erklärt den Film dadurch zu einer Simulation und ihre Fahrt wird zu einem Simulacra im Sinne von Baudrillard. Natürlich sagt niemand, dass man Filme über Huillet, Straub in deren Sinn drehen soll, aber den Wert eines solchen Ansatzes halte ich für inexistent. Dass das anders geht, konnte man wenn man des Italienischen nicht mächtig ist, zumindest ansatzweise in The Green and the Stone. Straub-Huillet in Buti. von Armin Linke und Rinaldo Censi erkennen. Ihr Besuch an den Drehorten in Buti war von einer Neugier beseelt, die zwar auf schon gemachten Bildern fungierte, aber diese gegen die Gegenwart überprüfte. In den nächsten Wochen sollen Untertitel hinzugefügt werden.

Toute Revolution
Wie in einem wunderbaren, in seiner Art ebenfalls anachronistischen Vortrag von Manfred Blank deutlich wurde, geht es im Kino von Straub, Huillet auch um das revolutionäre Potenzial eines möglichen Zufalls; das Möglichmachen eines Zufalls, der sich nicht nur für ihn in der Programmierung von Toute révolution est un coup de dés und Trop tôt/Trop tard erzählte. Ein Zufall, der wie jeder Zufall etwas außerhalb der Vergangenheit spielt. Denn woher ein Zufall kam, kann man bestenfalls im Nachhinein bestimmen. Erstmal muss er möglich sein. Es gibt die Bedingungen dieser Möglichkeit, aber man rechnet nicht mit ihr. Sie findet sich im Werk von Huillet, Straub nicht nur in den beiden genannten Filmen, sondern in jeder Einstellung. Wie auch Berta bestätigte, arbeitete sämtliche Konstruktion, Vorplanung und Wiederholung darauf hin, dass ein Zufall möglich wird. Es ist also vielmehr die Arbeit an einer Aufmerksamkeit als die Arbeit an einem Bild. Einmal kann der Zufall ein ins Bild fliegendes Blatt sein, das Bellen eines Hundes aus dem Off oder sogar eine ganze Revolution. Diese Aufmerksamkeit ist möglicher im Kino als im Ausstellungskontext. Sie ist unbedingt als eine in die Gegenwart gerichtete Aufmerksamkeit zu verstehen.

Wer, so sagt Straub in einem Interview innerhalb der Ausstellung, beim Wort Gott lachen müsse, der könne nie eine Revolution beginnen. Die Gefahr bei Huillet, Straub ist immer, dass sie selbst dieser Gott werden. Dann baut man ihnen einen Altar. Auch mir ist es oft so mit ihrem Kino gegangen. Man spürt, dass es unter den sogenannten Straubianern auch immer sehr um das Wissen geht, das sich hinter den Filmen abspielt: Fakten im besseren, Trivia im schlechteren Fall. Durch die klare Haltung der Filmemacher findet man eine Verlässlichkeit in der starken Gefasstheit und mal theoretischen, mal wütenden Untermauerung ihres Bestrebens. Eine Art Reinheit geht von ihrem Werk aus, dass einem hilft, jene abstrakte Wut, die Ziellosigkeit einer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Kino und der Welt  zu bündeln, zu fassen und vor allem zu richten. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Wut sich affirmativ in der asketischen Schönheit und Genauigkeit ihrer Filme findet und eben ganz im Sinne Émile Zolas als notwendiger Hass. Er ist gerichtet gegen sehr konkrete Folgen und Spuren des kapitalistischen Systems. Ob das nun gegen die Mode wie in Von Heute auf Morgen oder gegen die Synchronisation wie in einem bekannten Text von Straub gerichtet ist, bedeutet alles und nichts zugleich. Passend dazu fragte ein Zuhörer im Rahmen eines Rencontres vorsichtig, ob man denn heute noch von Anti-Kapitalismus sprechen dürfe. Wie in der Frage der Namensnennung spürt man auch hier eine Ohnmacht der Sprache, die vieles im Kino von Straub, Huillet hinterfragt. Denn Frieda Grafe bemerkte nicht umsonst in einem Text über Huillet, Straub, der zum Anlass einer Retrospektive im Filmmuseum München 1997 entstand und im Flyer der Ausstellung zitiert wird, dass die Art in der beide Filmemacher die Welt betrachten, immer auch an einer methodischen Auseinandersetzung mit Sprache hänge. Eine Sprache, die es heute nicht mehr zu geben scheint, vielleicht ja noch nie gegeben hat. Man braucht einen Glauben an sie, vielleicht eine Illusion. Es ist eine verlorene Sprache in gewisser Hinsicht und es zeigt sich bei vielen Vortragenden, dass sie analog zu Straub, Huillet mehr nach einem Weg zurück zu dieser Sprache suchen, als im Sinne von Serge Daney ein Ende der damit einhergehenden Desillusionierung zu beschwören. Ein Gedanke, der mir weder fern dieses Kinos scheint und noch weniger fern gegenwärtiger Notwendigkeiten. Mehrfach stellte sich mir die Frage: Wo ist hier die Illusion? Die Frage könnte man auch anders stellen: Was erzählt uns eine bearbeitete Drehbuchseite von einer Arbeit? War es nicht oft die Arbeit von Straub, Huillet, das man die Arbeit zwar spürt, aber sie sich nicht vor den Zufall schieben darf?

Und dann ein anderes Bild in der Ausstellung, die sich durch die Eröffnungstage an der Akademie zog: Ein Bild nicht von sprachlicher Genauigkeit, sondern sprachlicher Verirrung (nicht unnötig wie bei der merkwürdig und ganz bewusst in Englisch gehaltenen Einführung zum Werk von Harun Farocki ein paar Kilometer weiter im Arsenal): Ein Filmset in vielen Sprachen. Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Crew steht zusammen, man wartet auf die Technik. Es ist staubig. Man befindet sich auf dem Ätna, jenem Vulkan, den ein gewisser Jean Epstein in seinen Betrachtungen zum Kino als Ort besonderer Perspektiven evozierte. Es sind die Dreharbeiten zu Schwarze Sünde. Die drei Heimat- und Fremdheitsprachen der beiden Filmemacher. Es gibt eine eigenartige Natürlichkeit der Ko-Existenz dieser Sprachen. Sie fließen ineinander. Um sich wieder an Grafe und ihrer Betrachtung zu orientieren, erzählt dieses Bild von einer Dazwischenheit, die jederzeit auf Unterschiede aufmerksam macht und sie dadurch überbrückt.

Fortini Cani

Im Gestus des Zurückblickens versperrte sich mir in diesen Tagen etwas beim Blick auf Straub, Huillet. Als könnte ich nur über ihre Filme wieder den Weg zurück zum nötigen Zufall des Kinos finden. Der Zufall, der das Kino möglich macht. Schließlich ist ihr Kino auch, auch wenn das abgenutzt klingt, eine Schule des Sehens und Hörens. Eben eine Lehre der Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es deshalb, dass die Sorge um die Qualität von Kopien, seien sie analog oder digital selten so hoch ist wie, wenn es um Huillet, Straub geht. Die Zufälle, die sie ermöglichen hängen an jeder Farbe, jedem Rauschen. Man findet dieses Kino womöglich tatsächlich mehr im Leben als im Kino. Ein Paradox, das mich in diesen Tagen vom Kino entfernte und doch näher brachte.

Das Projekt Sagen Sie’s den Steinen. ist einzigartig. Es ist ein wenig wie in die Handgriffe einer praktischen und theoretischen Arbeit einzusteigen, sie beinahe verändern zu können, sie in in sich selbst ruhen zu lassen und diese ruhige Dringlichkeit zu spüren. In dieser Arbeit spiegelt sich auch eine Haltung zur Welt. Tendenziell regt sich ein Einwand gegen die mit dem Blick auf die Arbeit einhergehende Desillusionierung, aber schließlich entdeckt man, dass bei Straub, Huillet die Arbeit, wie vielleicht sonst nur bei Gustave Courbet, etwas Erhabenes ist. Sie berührt die Idee einer Möglichkeit, eines Zufalls und so widersprüchlich das klingt: einer Illusion. In dieser Perspektive könnte man sich dann auch finden, als Suchende zwischen den Bildern und in der Bestimmtheit von Bildern, Tönen und Haltungen einen radikalen Kommentar auf die Gegenwart finden, der niemals nur zu den Steinen spricht.

Shadows of Resignation: Jacques Tourneur in Locarno

What does it say about the state of cinema when the cinephile excitement and quality of a festival such as the 70th edition of the Locarno Film Festival derives more from a retrospective than the latest batch of contemporary films? There is more than one possible answer to such a question, so we might as well pose another one: Why is it important to see Jacques Tourneur? Isn’t it just self-affirmation, a sort of homecoming, or even a celebration of sorts? When I told people that I would be in Locarno this year, many replied rather enviously: “Ah, I would love to be there with Mr. Tourneur.” Is such a desire connected to the idea of discovering something new with or in Mr. Tourneur or is it just about the pleasure of returning to a place one likes? Both might be true and valuable, and after Olaf Möller’s discovery tour into the neglected history of German cinema during the 69th edition Mr. Tourneur is a reasonable step for the festival. Yet, I couldn’t help thinking – though I must admit I didn’t see as much of Mr. Möller’s choices as I could have – that the element of surprise and discovery was much bigger in Mr. Tourneur, who always switches between chameleon and auteur. One is never quite sure what to expect, always astonished at where one lands but still feeling that all these different paths were followed by the same filmmaker.

I walked with a Zombie

Before seeing and re-seeing many of his works in Locarno, my impression of Jacques Tourneur was a certain movement connected with a certain half-light. It is a travelling that follows characters through various states of light and shadow, like the famous invisible chase sequence in Cat People, or a sleepless night and dreamy gaze into the dark horizon in Anne of the Indies. These certainties are in fact describing uncertainties of intermediate worlds, desires, absences, or the supernatural which, as the director states in the accompanying catalogue of the festival, he believes in. Through those moments and states, a feeling that I can best describe as a sort of fever arises. It is connected to something I discovered while revisiting films like I Walked with a Zombie (which was shown at midnight at the Piazza Grande while a thunderstorm approached and eventually made me leave in the pouring rain) or Night of the Demon: There is an idea of the past tense in the films of Mr. Tourneur. His cinematographic language speaks in the present but his narratives seem to have already happened. This becomes very clear in the short films he did for MGM such as the mesmerising The Ship That Died or The Face Behind the Mask. Most of those shorts are narrated by Carey Wilson or John Nesbitt in an exaggerated, dramatic, but still sober tone, recounting mysterious incidents in the way an enthusiastic explorer might tell a story to a group of old, cigar-smoking men. The manner in which these stories are told makes it clear that they have already happened. There is a time before the film, sometimes even a time before time. Fittingly, some of the shorts deal with historical topics such as the French Revolution or the history of radium in Romance of Radium. Those films are less about what is happening than they are about our position towards it. Most of all, they ask the question: Do we believe or not? The same is true for many feature films. In fact, the camera deliberately tends to arrive at the scene a bit too early or a bit too late. Actions have already taken place or will take place no matter what we see. Maybe some secrets can’t be shown at all. One could talk about an economy of means that was perhaps also formed during the short film years. Mr. Tourneur doesn’t show too much, he just shows what is necessary. There is an air of something unavoidable, as if many characters in his films were not presented as real beings but ghosts from a story that has already been told.

Mr. Tourneur has always been the Hollywood director I found most difficult to write about. There are many elements that escape us while being with his films and a high level of ambiguity to them. It seems fitting that Chris Fujiwara used introductory quotes by writers such as Maurice Blanchot or Hélène Cixous in his great book on Mr. Tourneur called Nightfall – writers who are capable of expressing things that escape the notion of expression. The retrospective didn’t make the task any easier since it was the first time I saw very strong films like Les filles de la concierge or Easy Living, which add new colours to the palette of the filmmaker. His very precise, comedic talent which shows in Les filles de la concierge is came as a particular surprise. In constant movement between different love stories, the film tells not only about class relations but more about the way gazes and perspectives are organised between desire and duty, expressing and hiding. It was also a pleasant surprise that the screening of the film (even if it was shown without subtitles) was packed. So there might be a hunger for discovery in Locarno. I wasn’t able to see Pour être aimé, another French comedy by Mr. Tourneur before he moved back to the USA. Despite those “new” facets, there was something that struck me in almost all the films and which shed a new light, or maybe a shadow on all of his films: The mode of resignation. Fujiwara mentions resignation in his book. He writes:

“For Tourneur, resignation isn’t a moral ideal in itself but comes as the inevitable result of the displacement of the hero in history (the prolonged aporia of Way of a Gaucho) or as a convulsion or exhaustion, like the confessions of characters in I Walked with a Zombie, The Leopard Man, and Great Day in the Morning and like the surrender of Vanning in front of the church in Nightfall. Tourneur’s sense of passivity and inevitability colors even his most straightforward and positive protagonist, Wyatt Earp in Wichita, who has to be goaded into action by events and who apologizes to his enemy in advance for the bullet with which he kills the latter in a duel.“

anne of the indies

It is an observation I find to be very true. The displacement of the protagonists as well as the feeling of exhaustion are on the one hand connected to what I described as the past tense in Mr. Tourneur, but, on the other hand, they are related to a form of resistance his cinema keeps hidden like a treasure. In this aspect of his cinema we can find an antipode to filmmakers like Steven Spielberg for whom wonder and overpowering mean everything. Mr. Tourneur tells about greater and truer miracles, but he never counts on the reaction of the protagonists to those miracles and supernatural happenings. Of course, in some of his films closer to the horror genre, most notably in Night of the Demon, there are close-up shots of people being afraid and staring at something unknown. However, there is a resistance to seeing supernatural and natural miracles as something extraordinary. This is most notably true for one of his best films, Stars in my Crown. In the film, a typhoid fever breaks out in a small village. It is one of the many sicknesses in the films of Mr. Tourneur. One finds many fragile and tender shots of people lying in bed, unable to move, pale and in a state between life and death or just between being able to perform or not as in Easy Living. It seems very fitting that the well-deserved winner of the Golden Leopard, Mrs. Fang by Wang Bing is also a meditation on sickness and death. Where Wang Bing finds a tender insecurity in the close-up of a dying woman, Mr. Tourneur tends to avoid lingering on a dying face because it might move and reawaken any second. Both filmmakers find each other in open eyes that are not awake.

Those sicknesses add to the feeling of exhaustion but they also help establish the recurring conflicts between resignation and hope. In Stars in my Crown a moral conflict between a priest and the new doctor develops as both struggle with helping the desperate people. After the disillusioned priest goes through a period of resignation, he performs a miracle on the doctor’s dying wife. Despite the musical crescendo accompanying this miracle, which almost recalls Carl Theodor Dreyer (the miracle, not the music), Mr. Tourneur does not call attention to this scene as one of an overpowering salvation. Instead, it seems very natural that saving lives is not only about bodies but also about souls. The true miracle follows and it is an act of humanity in the face of racism. The priest addresses the heart of Ku Klux Clan riders who want to slaughter a black man to gain his property. He reads them (from an empty piece of paper) how the man about to be murdered bequeaths them his belongings. After listening to the priest, consumed with a feeling of shame and guilt, the men leave the place. One can find a lot of belief in these shadows of resignation, since they are not about telling us something extraordinary has happened but just that it has happened. This means a great deal if we are talking about miracles.

stars in my crown

Mr. Tourneur constructs his strategies of resignation concisely. Often, establishing shots are a drama of their own. The films jump right into some actions leaving the viewer clueless as to how they got there; it is like the displacement of the protagonists becomes clear in the very first shot. For example, in Circle of Danger (Mr. Tourneur’s first independent production), one of the many films that begin on a ship, there is a scale to the opening which almost feels like a red herring. We are on a ship and the protagonist played by Ray Milland is in the middle of some masculine action. Those seconds on a ship that merely serves as a character background and has nothing to do with the narrative of the film, shows how much Mr. Tourneur is interested in the mood surrounding his character and how he constructs a feeling of being out of place not only for the protagonists but also for the viewer. Fujiwara writes about this scene: “As in I Walked with a Zombie, Out of the Past, and Appointment in Honduras, we have the feeling of having arrived late to witness a process already about to be concluded.” The stuffy atmospheres, the sweat, the shadows, the male shoulders and soft female voices add to a mixture of temptation, sickness and giving in. Many writers on Mr. Tourneur (apparently mostly male as the catalogue and the round table in Locarno unwittingly showed) mention that he loved to make his actors talk very silently and move slowly. The latter is, for example, also true for Manoel De Oliveira with whom Mr. Tourneur shares the sense of predestination as well as the poetic soberness of looking at it. A title of a never-realised film of Mr. Tourneur, Whispering in Distant Chambers, seems to best describe the way people talk in his films. Especially in Nightfall, where the voice of Aldo Ray is surprisingly soft and silent in the face of the brutalities he has to go through. Detachment on the brink of alienation creates a distance in accordance with a knowledge about life which will sooner or later come to an end. For better or worse. Mr. Tourneur also talks about this process in an interview on Appointment in Honduras: “But I noticed that actors in most films tend to shout. The same dialogue said half as loud is more memorable and intense. To be worthwhile, dialogue should be said naturally, the way we talk everyday. You need to make actors not declaim and when they talk loudly, they have a tendency to declaim.” In his casting choices, especially concerning male actors, Mr. Tourneur seems to look for the type of actor that is sure not to declaim: Dana Andrews, Robert Mitchum or Aldo Ray are perfect examples of this. One could rightly ask what all of this has to do with resignation. It is the understatement and somnambulistic way of movement that is true for the protagonists as well as the camera and the way those movements face miracles and dramas. Moreover, the films focus on an absence of hysteria when confronted with tragedy. It is not that any of those elements, be it the past tense, the half-light, the camera movements, the way of talking, or the establishing shots are special per se. However, the combination of those elements forms a broken unity aiming at moods and memories in distant chambers.

easy living

Resignation is also a way of concealing an immense capacity for romanticism. In many films “strange forces” are at work. They bring perdition or redemption. The protagonists protect themselves against those forces by treating them normally. Even Dana Andrew’s role of the scientist in Night of the Demon or Frances Dee’s nurse in I Walked with a Zombie are never truly naive when confronted with things they normally wouldn’t believe in. They just struggle for rationalism which is, for Mr. Tourneur, closely related to resignation. In Easy Living, a film which Mr. Tourneur did not particularly like although it contains some of his finest directing, the whole idea of rationalism versus supernaturalism is turned upside down. A sportsman and star is told he should stop playing football because of a heart murmur. Afraid of his demanding wife and insecure about his post-career life, he keeps his condition a secret and goes on playing. Here, the seemingly supernatural force is the most natural of all: The fading of the body. The supernatural lies in not accepting nature. So, the film narrates the same battle as many other films by Mr. Tourneur, yet the protagonist has to learn to believe in the natural instead of the other way around. In place of fear, a sort of sadness informs the picture. In a brilliant move, the film establishes a character who could be called a figure of resignation, the one who knows about all this days before the protagonists or the viewer, the one who has seen it all before: A cynical journalist-photographer happens to be in the right place at the right time and helps dedramatize every possible flicker of romanticism until the very last shot. He appears to comment on the reunion kiss: “Yeah, yeah.” There is a sad undertone in this. These characters appear in all of Mr. Tourneur’s films and are best condensed in the stage worker in the short The Rainbow Pass, which should have been part of the program but was left out. The film presents a Chinese stage play and focuses on a stage worker dressed in black whom everyone in the audience pretends not to see when he goes about his business in creating imagination in the most bored way imaginable. To speak in John Ford’s terms: These are the men that print the legend. Yet, they don’t believe in it. The question is rather, as another title of a Tourneur short proposes: What Do You Think?

Film Verstehen

„Ich habe den Film nicht verstanden“ – einen solchen Satz hören wir oft – und er scheint legitim als Vorsichtsmassnahme, die vor einem allfälligen verfrühten und fehlgeleiteten Urteil schützt. Aber was bedeutet es, einen Film zu „verstehen“? Ist es überhaupt möglich, einen Film nicht zu verstehen? Sollten wir mit der Zielsetzung in einen Film gehen, diesen zu verstehen?

Wir verstehen jeden Film – wir verstehen keinen Film.

Goodbye Dragon Inn

1. Wir „lesen“ bewegte Bilder, heißt es; und Lesen ist zu erlernen. Lesen wir die Bilder aber nicht, sondern „empfangen“ wir sie, dann brauchen wir nichts zu lernen, nur unsere Sinne zu nutzen. Weshalb können wir es nicht einfach beim Eindruck belassen, den die Bilder in uns hinterlassen? Sind wir verpflichtet, diese Eindrücke in ein Konzept zu zwängen, ein sinnstiftendes Korsett? Haben wir demnach einen Film nur verstanden, wenn wir das vermutlich dahintersteckende Konzept, das wir unentwegt suchen, als brave „aktive“, sich nicht „berieseln lassende“ Zuschauer, gefunden haben? Ein Film wäre dann als Schatzsuche angelegt; der Filmemacher versteckt darin sein Konzept. Oder aber er gibt zumindest Hinweise auf Teile des Konzepts, die wir durch aufmerksames Scannen des Texts / Subtexts finden und dann vervollständigen dürfen durch unsere eigenen Gedankenkonstrukte. Wenn wir keine Hinweise auf ein Konzept anfinden können, liegt es vollständig an uns, dieses zu ersinnen und mit diesem Akt den Film verstehen zu suchen.

Vielleicht ist „Konzept“ ein zu starkes Wort. Ersetzen wir es zum Beispiel mit „Weltsicht“. Ein jeder Mensch und Filmemacher hat ja doch seine eigene Sicht auf die Welt, positioniert sich in einem bestimmten Verhältnis zu ihr. Ein Film gibt automatisch Auskunft über diesen Sichtwinkel – selbst wenn er sich dem dezidiert verweigern will. Heißt „Film verstehen“ also, die Weltsicht dessen / deren Schöpfer zu erkennen? Den Film nicht zu verstehen bedeutete dann, keinen solchen Sichtwinkel zu finden. Der Autor hätte dann also seine Weltsicht zu kryptisch in den Film eingearbeitet, als dass wir sie entschlüsseln könnten? – dies ist natürlich Quatsch.

Wie hieraus schon hervorgeht, hat unser Verständnis vom Verstehen eines Films viel mit dessen Schöpfer als „Auteur“ zu tun. Wenn wir glauben, hier handle es sich um den Film eines „Auteurs“, so bedeutet das für uns die Bereitschaft, im Film nach Weltsicht / Konzept zu suchen. Wir unterstellen ihm, etwas Bestimmtes ausdrücken zu wollen – obwohl doch ein Film automatisch etwas „ausdrückt“, das wir empfangen sollen. Wir verschliessen uns dem natürlichen Ausdruck eines Films, um nach dem konstruierten Ausdruck zu suchen, sprich: den Film zu verstehen. Wenn wir jemanden als „Auteur“ betrachten, gibt das Zeugnis ab über uns, nicht über diesen: denn wir könnten jeden Menschen als „Auteur“ betrachten, Filmemacher oder nicht. Wir könnten jedes Handlungsmuster eines Menschen als „Statement“ lesen, als Ausdruck eines Konzepts, einer Weltsicht. Es gibt also Zeugnis ab über unseren Bereitschaftsgrad, uns mit dem Film „auseinanderzusetzen“. Ist kein „Auteur“ vorhanden, gibt es dann auch nichts zu verstehen?

What Time is it There?

2. Klar: Ein Film besteht aus einer solchen Anhäufung von Details, dass wir niemals über die Funktion all dieser Details Bescheid wissen können. Jeder Film öffnet sich vor uns wie ein dunkler Raum, den wir niemals betreten haben, dessen Ausmaße und dessen Möbel wir nicht kennen, die wir, langsam und vorsichtig fortschreitend ertasten können, aber niemals sehen.

3. Der Spruch: Kunst ist nicht da, um unsere eigene Weltsicht zu bestätigen. Unsere Weltsicht: was wir verstehen, einordnen können. Ich mag nur Filme, die ich nicht verstehe – was, wenn wir mit dieser Attitüde in Filme gehen? Das Problem: Dieses „Nicht-Verstehen“ wird dann zu einer neuen Art von Verständnis. Denn wenn ich diese Filme nicht verstehe, weil ich „zu dumm bin“, ihre Aussage nicht erkannt habe, kann ich mich damit nicht begnügen; ich bin doch (?) jedem Film gegenüber verpflichtet, einige Schritt auf ihn zuzutun, versuchen, ihn zu „erkennen“. Wenn ich mich dann genug informiere, vielleicht mit Hilfe von anderen, die den Film „verstanden“ haben, sehe ich das Licht. Dann kann ich den Film aber nicht mehr gut finden; was auf den ersten Blick grandios und enigmatisch erscheint, entpuppt sich als entschlüsselbar, klein und plump. Demnach muss ich die Aussage revidieren: Ich mag nur die Filme, die ich nicht verstehen kann. Das heisst, dass ich einen Film nur dann verstanden habe, wenn ich ihn nicht verstanden habe.

Die „vues Lumière“: eine Zeit- und Weltreise

Ruraux au galop von Gabriel Veyre (Vue N° 347)

Dieser Text ist die modifizierte Version eines Vortrags, der am 14.07.2017 bei der Veranstaltungsreihe Objectif 16 in Berlin gehalten wurde. Der Abend begann mit einer Einführung, im Anschluss wurden drei Filmprogramme gezeigt. Im Anschluss an jedes der Programme gab es eine Diskussion.

Die Erfindung des Films kann nicht einem einzigen virtuosen Genie zugeschrieben werden. Geschichtsschreibung funktioniert zwar oft als Heldengeschichte, aber gerade im Fall des Films als industrieller Kunst, wäre es ziemlich verkehrt von einem einzelnen Erfinder zu sprechen. Die Technikgeschichte des Films würde genug Material für einen eigenen Vortrag (oder besser: eine Vortragsreihe) bieten, und ist zudem eng verknüpft mit anderen medialen Formen, die im 19. Jahrhundert existierten, und die man heute gemeinhin als Pre-Cinema bezeichnet.

Vereinfacht gesagt ist ein analoger Filmstreifen nichts anderes als ein Kunststoffstreifen, der mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichtet ist. In der Kamera wird dieser Streifen an einer Öffnung vorbeibewegt, durch die Licht einfällt. Die lichtempfindliche Emulsion hält dann fest, was sich im Moment der Belichtung vor der Öffnung abgespielt hat. Wenn man den Filmstreifen schnell genug bewegt – so das etwa 12-14 Aufnahmen in der Sekunde entstehen – und man das Ganze nach dem Entwickeln mit der gleichen Geschwindigkeit projiziert, dann entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener optisch-physiologischer Effekte der Eindruck von Bewegung.

Wie gesagt, mussten also viele verschiedene Dinge erfunden werden, bevor der Film „erfunden“ werden konnte. Es brauchte eine photochemische Emulsion, die lichtempfindlich genug war, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einem Bruchteil einer Sekunde eine Aufnahme entsteht. Es brauchte einen widerstandsfähigen Kunststoff, der zwar schmal ist, aber in der nötigen Geschwindigkeit durch den Apparat gezogen werden konnte. Es brauchte einen Mechanismus, der die Öffnung des Shutters, der steuert, wie lange Licht durch die Öffnung einfällt, mit dem Vorbeigleiten des Films synchronisierte. Es brauchte entsprechende Linsen, mit denen das Licht gebündelt werden konnte und Lichtquellen, die stark genug waren, um den Film dann anschließend zu projizieren.

Die „Helden“ der Filmgeschichte

Trotz dieser Schwierigkeiten hat die Geschichtsschreibung dann doch zwei Helden auserkoren, die als Erfinder des Kinos postuliert werden. Und zwar ein Brüderpaar aus einer Industriellenfamilie aus Lyon, Auguste und Louis Lumière. Die beiden haben am 28. Dezember 1895 in einem Salon in Paris ihre neueste Erfindung der Öffentlichkeit präsentiert – den Cinématographe. Dieses Datum gilt gemeinhin als Geburtsstunde des Kinos. Um die Funktionsweise dieses Apparats vorzuführen, haben sie gezeigt, was man mit ihm machen kann, nämlich Filme drehen und sie dann vorführen. Zu diesem Zweck haben sie zuvor bereits einige kürzere Filme in ihrem eigenen Lebensumfeld gedreht – sie sollten eigentlich bloß Vorführungszwecken dienen, denn was verkauft werden sollte, war der Apparat für den Hausgebrauch (wie später 8mm-Kameras oder Camcorder).

Die Lumières hatten sich allerdings verschätzt, denn die Leute interessierten sich mehr für die Filme als für den Apparat. Also änderten sie ihr Geschäftsmodell, bildeten Leute aus, die mit den Kameras umgehen konnten – man nennt sie Operateure – und sendeten sie aus, um mehr Filme zu drehen. Die Operateure waren zunächst in Europa und schließlich in der ganzen Welt unterwegs. Wo sie hinreisten, drehten sie überall eigene Filme – man nennt diese 30-60-sekündigen Aufnahmen „vues“, auf Deutsch wird das meist mit „Ansichten“ übersetzt – und bildeten in den Ländern, die sie bereisten wiederum neue Operateure aus. Die vues, die so entstanden, wurden einerseits vor Ort gezeigt und dann auch in alle Welt herumgeschickt.

Die vues Lumière hatten also eine doppelte Funktion. An dem Ort, wo sie gedreht wurden, zeigten sie dem Publikum das Vertraute. Dadurch konnten die Leute, die diese Form der beweglichen Fotografie noch nie gesehen hatten davon überzeugen, dass es sich tatsächlich, um authentische Aufnahmen der Stadt handelte. Wurden die Filme anschließend verschickt und an anderen Orten gezeigt, boten sie den Reiz des Fremden und Exotisch und gaben Auskunft über Menschen, Kulturen, Architektur, Mode, etc. in anderen Ländern. Insgesamt wurden zwischen 1895 und 1901 über 1.400 der vue Lumière angefertigt, von den fast alle erhalten geblieben sind (nur 18 gelten als verschollen). Online sind sie alle im Catalogue Lumière erfasst.

Zeitkapsel/Sehkapsel

An diesen Filmen faszinieren mich vor allem zwei Aspekte. Zum einen sind sie historische Zeitkapseln und das ist für sich sehr wertvoll. Ich finde es immer wieder spannend zu sehen, wie die Welt vor 120 Jahren ausgesehen hat. Am spannendsten ist das natürlich, wenn man diese Orte in der Gegenwart kennt und vergleichen kann, was sich verändert hat. Aber selbst wenn man die heutigen Orte nicht kennt, haben diese Aufnahmen etwas Geisterhaftes. Es liegt an der Gestaltung der vues Lumière, dass sie einen mehr, als andere Filme, gewahrt werden lassen, dass all diese Menschen, die vor der Kamera zu sehen sind oder sogar direkt in die Kamera blicken, in einer anderen Zeit gelebt haben und schon lange tot sind. Das Gleiche könnte man auch über andere Filme sagen, und doch ertappe ich mich beim Sehen von Filmen aus der Frühzeit der Filmgeschichte öfter dabei, über solche Dinge nachzudenken.

Das hat mit dem zweiten Aspekt zu tun, der mich an den vues fasziniert. Sie sind nicht nur Zeit- sondern auch Sehkapseln. Betrachtet man sie nur als historische Fragmente und bruchstückhafte Dokumente einer vergangenen Zeit, so wird ihnen das nicht gerecht, weil sich mit der Wiederholung der Motive schon bald eine Abstumpfung einstellt. Aber, die weitaus größere Faszination beziehen die vues aus der Art und Weise, wie sie die Welt aufnehmen. Sie unterscheiden sich radikal von Mainstream-Kinofilmen und Fernsehbildern, wie man sie heutzutage zu Gesicht bekommt – man sieht sie anders. Es gibt in ihnen weniger Steuerung, darüber habe ich schon an anderer Stelle geschrieben: Das Auge wird eingeladen über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Dieser Blick ist nicht auf die vue Lumière beschränkt, an den Rändern des Kinos finden sich Filmemacher wie Sergei Loznitsa, Chantal Akerman oder Tsai Ming-liang deren Arbeiten einen ähnlichen Blick heraufbeschwören. Sie laden wie die vues Lumière zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die vues – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und erst dann als Zeitkapseln.

Gezeigte Filme:

Thomas Wolfe: Von einer Begegnung am Kurfürstendamm

Thomas Wolfe 1935

So wie „film-stills“ im besten Falle in der Lage sind, einen bereits gesehenen oder auch noch unbekannten Film vor dem inneren Auge in Bewegung zu setzen, so kann auch das Werbefoto eines Verlages für einen ihrer bekanntesten Autoren eine Bilderkette in Bewegung setzen: Es ist Ende Mai 1935 und hier in Berlin schliddert die Sonne durch die Straßen. Etwas zu groß, etwas zu schwer, wie sich das gehört für einen, der in einem Bergkurort seine Kindheit und Jugend durchlebt hat. Mit weiten Schritten in seiner Welt von einem Meter achtundneunzig, und das ist die seltsamste und einsamste Welt, die es gibt. Den grauen Wollmantel hält er im linken Arm, denn der heutige Tag verspricht warm zu werden. Rechts von ihm geht eine brünette Frauengestalt im nachtblauen Kostüm und schwarzledernen Handschuhen, genau, Miss Martha Dodd, Tochter des amerikanischen Botschafters, die sich an sein Schritttempo anzupassen sucht, wie er auch an das ihrige. Mitsamt ihrer eigentlich stolzen Verlegenheit, mit der sie ihn durch diese Stadt führt, an einigen Buchläden haltend, da man in der Auslage seinen Namen finden wird, denn:

They think I’m hell here – Americans best writer in world –…parties, pieces in paper – never got this at home and don’t want to but it is unbelievable. Understand Byron woke one morning to find himself famous.

Thomas Wolfe 1935

Der 35-jährige ist ein sich wandelndes literarisches Großprojekt, das nur schon deshalb nicht in gewohnte abgeschlossene Formen zu bringen ist, weil er sich von der Idee eines einzigen riesigen Wälzers über alle Menschen und auch alle Dinge einfach nicht trennen mag. Gut: nun ist er hier, um zum wiederholten Male jeden Bauziegel und jeden Pflasterstein, jedes Gesicht aus jedem Menschengedränge festzuhalten und ebenso seinen ganz persönlichen Mythos „Deutschland“. Doch hier ist schon der Krieg: in Aachen hat er in seinem Zugabteil die Verhaftung eines jüdischen Anwaltes miterlebt, zu unwirklich und auch zu nah. Miss Dodd kann ihn nicht in allem trösten. Hier nun berührt sie seinen Arm, sagt etwas und lacht. Dieser Mann ist der jüngste von neun Kindern. Sein Vater, der Steinmetz, donnernd und voll, seine Mutter, hager zwischen gesundem Geschäftssinn und neurotischer Existenzangst. Nach deren Trennung leben die Kinder mit in der von ihrer Mutter geführten Pension, ein von den Bedürfnissen und Träumen der Gäste regiertes Nomadendasein im eigenen Haus. Zu oft war es zu kalt, poetische und biografische Neugierde neben Sehnsucht und Trauer, denn sein 8 Jahre älterer Bruder, Grover Wolfe, sollte 1904 an einer Lungenentzündung sterben. Und die anderen Kinder werden zeitlebens die Wut und die Trauer der Mutter in ihren Ohren halten, dass Grover das beste und auch klügste Kind der Familie gewesen sei: Eine Chiffre in blinden Labyrinthen, so lange her, der Ursprung, der Freund und Bruder. Der verlorene Knabe war für immer fort und würde nicht wiederkehren.

Miss Dodd,… I have had no time for sleeping, and since daylight now comes at three o’clock in the morning anyway in Berlin and Miss Dodd,… your brother and I have sat up most of the night talking I have almost forgotten how to sleep. 

Ja, Miss Dodd fasst ihn am Ellbogen, weist ihn in Richtung Straßenbahn. Die Cafés sind natürlich geöffnet und mancher Gast wagt sich schon an einen der Tische auf dem Bürgersteig. Der Kaffee ist heiß. Doch hier erkennt ihn niemand, denn Schreiber müssen ohne Gesichter sein. Wolfe sucht die Distanz zu bestimmen, die das Erlebte vom Beschriebenen trennt, wird aber beschuldigt, ein Kopist, ein autobiografischer Autor zu sein. Look Homeward, Angel als einzige tatsächlich abgeschlossene Romanfassung, Of Time and the River vom Erwartungsdruck seitens Verlag und Kritik frühzeitig aus seinen Händen gezerrt und gezogen. The Web and the Rock und You can’t go Home again werden posthum zusammengestellt, aber soweit ist es jetzt ja noch nicht.

Ausufernde Länge, scheinbare Formlosigkeit, sprachliche Überspanntheit: die Liste der Vorwürfe seitens der damaligen Literaturkritik ist kurz und auch schmerzhaft. Man lokalisiert den für einen Autoren lebenswichtigen Ausgleich bei seinem Lektoren Maxwell Perkins, was den gereizten, empfindlichen Wolfe dazu bewegen wird, sich 1937 von Perkins und auch dem amerikanischen Scribner-Verlag zu trennen. Aber soweit ist es jetzt noch nicht. Alles war noch unverändert, es schien, als hätte es sich seit damals nie verändert, nur dass alles gefunden und erwischt und für immer eingefangen worden war. Und indem er alles fand wusste er, dass es verloren war.

Sie sitzen aber jetzt im Sonnenschein, Miss Dodd streicht von der helleren Schläfe ihr Haar zurück und sie rauchen amerikanische Zigaretten. Berlin ist groß, doch New York ist größer. Da sich in seinem Heimatort Asheville zu viele in seinem großen Buch zu genau geschildert wiederfinden, sucht er seinen zweiten Mythos auf, seinen Felsen und manchmal auch das väterliche Element. Die goldene Stadt, die an ihren Realitäten zerschellt, seinem Vater nicht unähnlich. Die luftigen Appartements der Reichen auf hohlem Boden gebaut, das Donnern der kühlen Untergrundbahn. Die 19 Jahre ältere Bühnenbildnerin Aline Bernstein, die er 1925 kennenlernte und sieben Jahre zu verstehen suchte, die anerkannte und auch verheiratete Künstlerin. Etwas zu reich, auch etwas zu klein, unendlich großzügig und auch verschwenderisch, Wolfe erlebte einen erneuten Heimatverlust. Wo bist Du, denn da wollte ich doch nie hin. Seine heimliche, verschwenderisch geliebte Heimat Deutschland, sie wird auch verlieren in einer geordneten Ekstase der Aufmärsche, in der kalten Machtdemonstration der Olympischen Spiele. In dem Grauen, das kommen wird. Aufwachen, eine in der Jugendzeit nie ernsthaft auskurierte Tuberkulose wird im Sommer durch eine Lungenentzündung erneut zum Ausbruch gebracht. Doch zuvor hat man ihm in München auf dem Oktoberfest noch den Schädel eingeschlagen. Er sprach zu viel, lachte und trank, er saß an einem Holztisch auf einer Bank, und auf einmal verstand er sein eigenes Wort nicht mehr, sein Deutsch verließ ihn. Die Männer um ihn herum drängten sich nun bedrohlich an ihn heran, den riesigen Amerikaner mit den langen Armen. Als die Frauen sich beschämt umdrehten.

Warum dreht sich alles? Kannst du es herausfinden, Eugene? Ist das leben denn wirklich so, oder treibt jemand einen wüsten Scherz mit uns? Vielleicht träumen wir das alles, glaubst du das? – Ich glaube, dass wir es träumen. Aber ich wünschte, wir würden aufgeweckt.

Aber noch ist es nicht soweit. Beide haben sie doch gerade erst das Café verlassen, und Wolfe, mit der rechten Hand sich festhaltend, steigt nun in die Straßenbahn, spürt einen Blick, gleich dem Kind, das träumt im Dickicht des Menschengedenkens, ja, aus dem verzauberten Wald heraus, das dunkle Auge und das beruhigte Gesicht ein wenig nur hervorgestreckt. Und der Blick birgt Angst.

Dank an The Thomas Wolfe Collection / North Carolina Library.