Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

I’m all lost in the supermarket, I can no longer shop happily: Nocturama (Bertrand Bonello)

Text: Max Grenz & Kaspar Aebi

„Paris is instantly recognisable“ wirbt der Backpacker-Reiseführer Lonely Planet auf seiner Webseite. Dazu ein Luftbild von Paris in den rot und grün getünchten Sepiafarben, die spätestens seit Le fabuleux destin d’Amélie Poulain unmissverständlich für die Stadt stehen. Damit wird die Nostalgie nach einem romantischen Paris bedient, in dem man noch verzauberte, von Warenförmigkeit und Globalisierung verschonte Winkel finden kann: eine Vermarktung der Marktlosigkeit. Die Kuppel des Invalidendoms leuchtet im gedämpften Licht der Abendsonne, links steht der Eiffelturm und dahinter erhebt sich, nahtlos integriert in die Innenstadt aus dem 19. Jahrhundert, die Skyline mit Glasfassaden. Unter dem Foto folgt eine Liste der Gebäude, die wie ein Beweis für den Werbeslogan wirken: Eiffelturm, Arc de Triomphe, Louvre, Centre Pompidou, Sacré-Coeur – jeweils mit einem Bild versehen, auf dem man das Gebäude auf den ersten Blick erkennt. „Brand awareness refers to the extent to which customers are able to recall or recognise a brand“, fasst Wikipedia trocken zusammen. Paris ist eine Top-Marke. Bis zu dem Punkt, an dem die Markenstärke zum Hauptargument für eine Reise in die Stadt wird.

Im Anholt-GfK City Brands Index℠ (CBI℠), einem vom amerikanischen Ableger des weltweit fünftgrößten Marktforschungskonzerns Gesellschaft für Konsumforschung erstellten Ranking, belegt Paris für sein positives Markenimage den ersten Platz. Vor allem in den Kategorien „Place“ („its physical outdoors aspect and transport“) und „Pulse“ („interesting things to do“) könne die Stadt überzeugen.

Das Institut schreibt in der Pressemitteilung: „Our survey was conducted before the November attacks in Paris – but, if past experience is anything to go by, such attacks do not change people’s perceptions of the city in any significant or long-lasting way. There may be a temporary change in people’s behavior towards Paris – but the attacks do not affect the reasons why people might admire the city’s beauty, cultural life, opportunities, etc. and this is what CBI measures.“ Tropfen auf den heißen Stein also. Die Marke ist stärker.

Nocturama von Betrand Bonello beginnt mit einer Luftaufnahme von Paris in der Dämmerung. Die Kamera filmt aus dem Seitenfenster eines Helikopters, der in einer fast unmerklichen Kurve über die Stadt fliegt. Kein Horizont ist zu sehen, nur die ikonische Pariser Innenstadt: Ein dichtes Gewebe aus Stein, Häusern und Straßen, dazwischen die Seine mit ihren Brücken. Man kann die Pont Neuf und den Notre Dame ausmachen, irgendwann schieben sich auch das Louvre mit dem Jardin de Tuileries und das Centre Pompidou ins Bild. Doch die Bildkomposition schichtet die einzelnen Gebäude zu einem komprimierten Muster. Die Stadt wirkt nicht luftig, wie in der Aufnahme von Lonely Planet, sondern verdichtet. Und obwohl der Film zuerst die sofort erkennbaren, konsumierbaren Sehenswürdigkeiten zeigt, sieht man sie nicht als klar trennbare Einzelstücke. Paris ist ein komplexes Gemenge aus Schichten, Straßen, Steinen, Schmuck.

Im Bild auf der Webseite von Lonely Planet erstreckt sich die Stadt zu einem hoffnungsvollen Horizont hin. Im Gegensatz dazu bedeutet „Paris“ in Nocturama kein Fernweh-Abenteuer – dafür das Abenteuer sich auszukennen und dieses Ortswissen taktisch nutzen zu können.

Acht Personen – alle irgendwo auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsensein – bewegen sich auf zielgerichteten Pfaden durch die verschlungenen Straßen der Stadt. Still und sicher nutzen sie das Metrosystem, betreten Hotels und Büros, durchqueren Tiefgaragen und Hochhäuser. Ihre Wege kreuzen sich, verlaufen wieder auseinander, manchmal scheinen sie sich zu kennen, manchmal nicht. Die Kamera begleitet ihre präzisen Bewegungen auf Augenhöhe mit schnellen, kontrollierten Fahrten. Wie eine Komplizin ist sie perfekt auf ihre Aktionen abgestimmt, scheint jeden Schritt bereits im Voraus zu kennen. Fließend geht sie von einer Person zur nächsten über, lässt die streng getaktete Choreografie ihrer individuellen Zeitpläne sichtbar werden. Im Schnitt werden die Handlungen wie ein Staffelstab von Person zu Person weitergereicht: Einer geht über die Straße in einen Metroeingang – der nächste sitzt wartend in der U-Bahn – eine dritte betritt an einem anderen Ort wieder die Straße.

Ein gemeinsamer Bewegungsfluss entsteht über die räumlichen Abstände hinweg, klanglich rhythmisiert durch den ständigen Wechsel zwischen eilenden Schritten und regungslosem Warten. Immer wieder dieselben Gesten bei verschiedenen Personen: paranoide Seitenblicke, verunsichertes Innehalten, ein schneller Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit tickt unablässig weiter. Bildfüllend eingeblendete Uhrzeiten: 14H07. 15H30. 16H18. 16H50. Irgendetwas schwebt in der Luft. Alle Handlungen sind ausgerichtet auf eine unmittelbare Zukunft, die unaufhaltsam näher rückt. Um 19H15 explodieren an mehreren Orten zugleich die Bomben.

Die minutiöse Orchestrierung der Bewegungen rückt Nocturama in die Nähe des Heist Films. So wie Einbrecher*innen den Grundriss und die Arbeitsabläufe einer Bank auswendig lernen, um gezielt in sie eindringen zu können, nutzen die Jugendlichen ihre Kenntnis der Infrastruktur der Stadt, um sich Zugang zu den Zielen ihrer Anschläge zu verschaffen. In beiden Fällen verwandeln sich alltägliche Orte und Vorgänge in ein engmaschiges Netz raumzeitlicher Strukturen, durch das die Kriminellen in perfekter Choreografie hindurchgleiten. Ganz Paris erscheint in Nocturama wie ein einziges großes Sicherheitssystem.

Doch trotz der Affinität zu Genre-Bildern behalten die Szenen im ersten Teil des Films immer eine Alltäglichkeit bei. Wenn die Jugendlichen in der Bahn sitzen und mit leerem Blick vor sich hin starren, ungeduldig auf dem Gleis auf und ab gehen oder plötzlich ihren Schritt beschleunigen, um das richtige Abteil zu erwischen, dann könnten sie genauso gut auf dem Weg zur Uni, ins Café oder auf eine Party sein. Ihr Verhalten fällt nicht aus dem Alltag heraus, sondern ist nahtlos in ihn integriert. Sie bewegen sich auf offener Straße unter den restlichen Fußgänger*innen, werden wie alle anderen von Überwachungskameras registriert, passieren im selben Tempo die Fahrkartenkontrollen, nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Die Durchführung ihres minutiösen Plans basiert auf dem genau getakteten Fahrplan der Pariser Metro, der eine Perfektionierung des Zeitmanagements nicht nur ermöglicht, sondern alltäglich von uns allen abverlangt.

Was man sieht, betrifft den eigenen Alltag: die Blicke aufs Smartphone, nebenbei, in Bewegung – um Zeit zu sparen. Der eigene Körper ist den abrupten Wechsel zwischen beschleunigtem Gehen und nutzlosem Warten gewohnt. Die Bewegungen sind in die städtische Infrastruktur integriert. Die Metro, selbst eine mythisch aufgeladene Pariser Ikone, verbindet nicht nur touristische Wahrzeichen oder fährt Menschen zur Arbeit, sondern kann auch als Werkzeug für politische Organisation genutzt werden. Sie ist gleichzeitig kommunales Gemeingut und wichtige Grundlage für das Funktionieren einer profitorientierten Wirtschaft.

Tourist*innen gelangen effizient zu Sehenswürdigkeiten und Angestellte zu ihren Arbeitsplätzen. Gleichzeitig koordiniert der Taktfahrplan aber auch die Bewegungen der Jugendlichen und ihre Anschläge. Die öffentliche Metro generiert privaten Profit, ermöglicht aber gleichzeitig den Widerstand dagegen. Die erste Hälfte von Nocturama zeigt städtische Infrastruktur als Politik. Das zeigt sich auch an den Drehbedingungen: „So haben wir die Metroszenen in einem fast schon dokumentarischen Stil gedreht. Wir haben keine Location ‚privatisiert’. Wir waren immer mittendrin“, schreibt Bonello im Presseheft.

Ein dunkler Raum. Es ist Nacht. Die Jugendlichen spielen Games, die man nur in den Spiegelungen der Fenster hinter ihnen sieht. Sie hängen zerstreut durch die Wohnung, sprechen miteinander, wechseln den Ort. Alle mit allen und doch alle scheinbar für sich. Später tanzen sie im Gewimmel durcheinander, gehen kurze Bindungen ein und trennen sich wieder. Solidarisch und trotzdem völlig losgelöst sind sie entkoppelt vor sich hintreibende Einzelne: Auf sich gestellt, zusammen, in ekstatischer Trance, sediert.

Wer sind diese Jugendlichen? Sie gehören keiner bestimmten Klasse an, sind nicht Teil einer Minderheit oder Mehrheit. Manche scheinen aus gutsituierten Elternhäusern zu kommen, andere aus den Banlieues, manche aus postmigrantischen Familien, wieder andere aus dem französischen Etablissement. Sowohl Frauen als auch Männer, und auch da sind die Identitäten brüchig. Das einzige, was sie eint, ist ihr Alter. Sie planen politische Anschläge. Ihre Ziele sind das prunkvolle französische Innenministerium, ein goldenes Jeanne-D’Arc-Denkmal – das unter anderem als Ort einer jährlichen Zeremonie der Front National dient – und Institutionen der globalen Finanzwirtschaft wie beispielsweise die britische Großbank HSBC, die auf einer Liste von „globally systemically important banks“ des Finance Stability Board (dem unter anderem die Weltbank, die EZB, die EU-Kommission und Institutionen der G20 angehören) weit oben auftaucht.

Doch die politischen Ziele der Jugendlichen können nicht einer gemeinsamen Identität zugeordnet werden, für die gekämpft wird. „Die Prämisse des Films ist zugleich sein fiktionalster Aspekt: der Wunsch, junge Leute unterschiedlicher geografischer und sozialer Herkunft zusammenzubringen, während die Gesellschaft sie mit allen Mitteln auseinanderbringen will. Und sie mit einem gemeinsamen Ideal zusammenzubringen.“

Dieses Ideal bleibt offen, ausgestaltet zu werden. Was die Jugendlichen jedoch verbindet, ist eine gemeinsame historische Erfahrung. Sie sind alle in den 90er-Jahren geboren und in den 2000ern groß geworden. Ihre Vorstellungen von Zukunft sind geprägt durch Alternativlosigkeit: Margaret Thatchers Motto „there is no alternative“ hat sich europaweit durchgesetzt und ließ keine Möglichkeiten mehr für ein anderes Zusammenleben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die mächtigste Gegenspielerin des kapitalistischen Westens definitiv gescheitert. Die sozialdemokratischen Regierungsparteien haben sich von ihrer Nähe zu den Gewerkschaften verabschiedet und die staatlichen Infrastrukturen und Schlüsselindustrien privatisiert, in Frankreich vor allem unter der Regierung von Lionel Jospin (1997–2002). Arbeit wurde zunehmend flexibel, sowohl zeitlich durch befristete Stellen, als auch räumlich durch global agierende Konzerne.

Der Soziologe Pierre Bourdieu schreibt 1997: „Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“ Oder anders gesagt: Wenn die Arbeitsstelle immer kurz davor ist auszulaufen, kann man keine langfristige Zukunft planen. Und ohne eine Vorstellung von Zukunft ist es schwierig, gegen eine schlechte Gegenwart und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.

Die Folge ist eine Perspektivlosigkeit, die ein Gefühl des dumpfen konsequenzlosen Genusses hervorbringt, das der Kulturtheoretiker Mark Fisher als „depressive Hedonie“ bezeichnet: Privatisierte Emotionen, die wissen, dass die Lage schlecht ist, aber nicht wissen wohin damit und sich ohne Ziel in eine betäubte Party stürzen. „Diese Schwermut des Hedonisten“ findet Fisher in Alben wie Kanye Wests 808s & Heartbreak und „in der tieftraurigen Art, wie Drake in Marvin’s Room die Zeilen ‚We threw a party / Yeah, we threw a party’ singt“ wieder. Der Sound dieser Alben klinge wie die gespenstische Wiederkehr einer Party, die vor sich hintreibend die Leere der Oberfläche auskostet – eine Stimmung, die auch in der oben beschriebenen Partyszene widerhallt. Die Party der Jugendlichen ermöglicht zwar eine gemeinsame Solidarisierung, wirkt aber paradoxerweise gleichzeitig wie eine Verlängerung ihrer prekären Lage.

Die Partyszene steht komplementär zur Jobsuche der Jugendlichen: Eine Rückblende zeigt drei Mitglieder der Gruppe im Wartesaal eines Bürogebäudes sitzen. Zwei warten auf ein Bewerbungsgespräch, der Dritte arbeitet bereits in einem Café. Es geht um einen Job als Wachpersonal in einem Parkhaus – eine Branche, die in flexiblen Zeitplänen und oft über befristete Arbeitsverträge organisiert ist.

„Wie viele nehmen die?“ – „Keine Ahnung.“
„Suchst du schon lange?“ – „Fast ein Jahr. – „Ein Jahr? Krass… Suchst du richtig?“ – „Jeden Tag, aber nichts zu machen. Und du? Schon lange?“ – „Noch nicht so lange.“
„Stellen die einen sofort ein?“ – „Glaub ich nicht. Aber sie rufen sicher bald an. Hast du so was schon mal gemacht?“ – „Nein, ist mein erstes Mal. Und du?“ – „Nein.“

Ob einer der beiden den Job kriegen wird, ist ungewiss. Und auch wenn jemand die Stelle erhält, bietet sie keine Absicherung: Die meisten Stellen sind auf Zeit und können flexibel gestrichen werden. Jede*r könnte jederzeit den Job verlieren. Die Konkurrenz um die Stelle wird damit in die Arbeit selber hineinverlegt: Durch die „permanente Drohung des Arbeitsplatzverlusts“ werde die Konkurrenz um die Arbeit ausgeweitet zu „einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch im Grunde auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist“ schreibt Bourdieu. Und niemand will der oder die sein, deren Stelle gekürzt wird. Alle anderen werden zu Feinden, mit denen man um Ressourcen kämpft. Wer sich widersetzt kann schnell ausgetauscht werden. Wie will man sich da gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren?

Bourdieu schlägt vor, dass die Betroffenen trotz der Vereinzelung gemeinsam gegen die Prekarität kämpfen, um so die Konkurrenz untereinander „zu neutralisieren“. In Nocturama verwirklicht sich diese Forderung in der Aktion der Jugendlichen. Ihre zunächst scheinbar individuellen und voneinander getrennten Tagesabläufe verbinden sich in der Montage des Films zu einem koordinierten und kooperativen Handeln, das ein gemeinsames Ziel verfolgt. Von den beiden Bewerbern arbeitet einer später tatsächlich als Wachmann, aber anstatt seinen Konkurrenten bloß einen Arbeitsplatz wegzunehmen, ermöglicht er den Mitgliedern der Gruppe Zutritt zu versperrten Liefereingängen. Ein anderer nutzt das Privileg eines offiziellen Termins beim Innenministerium, um den Weg ins Gebäude durch die Hintertür zu öffnen. Die Zusammenarbeit über alle Unterschiede in sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Stellung hinweg erscheint wie ein radikaler Gegenentwurf zu den Konkurrenzbeziehungen in prekären Arbeitsverhältnissen. Unabhängig von den konkreten Zielen ihres Handelns setzen sie allein durch ihre Kooperation ein politisches Ideal in die Tat um.

Auch die heterogene Zusammensetzung und spezialisierte Arbeitsteilung der Gruppe erinnert an Einbruchsteams aus Heist Filmen. In seiner Studie zum Genre weist Daryl Lee darauf hin, dass in der detaillierten Darstellung der Arbeitsvorgänge beim Heist immer auch eine Kritik an den herrschenden Arbeitsbedingungen formuliert wird, der die Kriminellen eine andere Form der Zusammenarbeit entgegensetzen: „Doomed or not, embedded in the desire to form a new social reality is a critique of society and its system of values, be they political, economic, aesthetic or other. At its most abstract, this represents a utopian impulse […] to form an unconventional collective on the margins of society.“ Nocturama greift das politische Potenzial des Genres in der Inszenierung der Anschläge auf. Am deutlichsten wird der Bezug zum Heist Film, wenn man zum ersten Mal alle Mitglieder der Gruppe zusammen in einem Bild sieht.

Sie sitzen an einem Tisch und besprechen, welchen Sprengstoff sie für die Anschläge verwenden werden. Dieser Moment entspricht der im Heist Film archetypischen Planungsszene. Als Wortführer erweist sich Greg, einer der Bewerber aus dem Wartesaal. Er ist als einziger deutlich älter als die Jugendlichen und übernimmt die genretypische Rolle des Mentors: Die Gruppe trifft sich in seiner Wohnung, er hat den Sprengstoff organisiert, besitzt offenbar kriminelle Erfahrung und gibt sein Wissen an die anderen weiter. Doch während der Anschläge fällt seine Aktion völlig aus dem choreografierten Plan heraus. Anstatt wie die anderen Bomben zu legen, erschießt er einen unbekannten Mann in dessen Wohnung. Auch Gregs Schicksal nach dem Mord bleibt ungewiss, er verschwindet einfach am helllichten Tag in einer Straße und damit aus dem Film.

Unter den Mitgliedern der Gruppe behält niemand als Mastermind den Überblick über das gesamte Geschehen. Niemand entwickelt aus der geteilten Unzufriedenheit ein gemeinsames politisches Programm. Alle bleiben verstrickt, niemand kennt den einen Ausweg. Aber die Jugendlichen sind keine Nihilist*innen. Die utopische Dimension ihrer Aktion erklärt sich nicht dadurch, wofür sie handeln, sondern zeigt sich darin, dass sie es tun. In der Weigerung, einfach immer so weiterzumachen wie bisher – egal wie flüchtig und instabil ihre Allianz ist und selbst wenn sie mit der Zündung der Bomben genauso schnell wieder zersplittert.

Es ist 19H15. Zum ersten Mal ist die Zeiteinblendung im Bild nicht an eine Handlung gekoppelt. Alles steht still. Nach den Bewegungen durch das Gewirr des Verkehrsnetzes zeigt Nocturama erneut ein Panorama über die Stadt und hält inne. Einzelne Häuser sind im Dunkel der Dämmerung kaum noch zu erkennen, aber die Silhouette des Eiffelturms markiert wie ein Markenlogo die Stadt. Wie für das Foto auf der Webseite von Lonely Planet stand die Kamera auf der Aussichtsplattform des Tour Montparnasse, gebaut im Rahmen der umstrittenen Stadterneuerungsmaßnahme Maine-Montparnasse, für die ab 1957 große Teile des von Armut geprägten Montparnasse-Viertels abgerissen wurden; heute ist das Bürohochhaus vor allem für seine Aussichtsplattform mit „Blick über Paris, auf den Eiffelturm und alle historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt“ bekannt.

Als würde man den Blick schweifen lassen, nimmt die Kamera nun einzelne Sehenswürdigkeiten in den Blick: Auf das Panorama folgt ein Blick vom Tour Montparnasse über den Jardin du Luxembourg auf den Notre Dame, danach ein Riesenrad, das Centre Pompidou, und schließlich das französische Innenministerium, nun wieder von der Straße aus aufgenommen. Eine Bewegung runter vom Tour Montparnasse zurück in die Stadt. Einen kurzen Moment hält die Kamera vor dem Innenministerium inne, dann explodiert die erste Bombe. Die zweite lässt auf sich warten: Eine der Jugendlichen steht im Niemandsland zwischen Bürogebäuden und blickt auf einen Glasbaukomplex. Die Zeit verrinnt; die Kamera nimmt ihre aneinanderreihende Aufzählung wieder auf und schneidet kurz zur Statue von Jeanne D’Arc und vor den Palace Brongniart (der von Napoléon Bonaparte als Sitz der Pariser Börse in Auftrag gegeben wurde und heute den französischen Sitz der internationalen Börse Euronext beherbergt). An beiden Orten brennt es jetzt.

19H16: Die junge Frau blickt ungeduldig auf die Uhr. Wie im Showdown eines Westerns steht sie dem Glas-Tower gegenüber. Die drei Türme stehen stoisch da und erwidern ihren Blick, dann explodieren sie.

Mit der zweiten Explosion beginnt die Zeit zu zersplittern. Unterbrochen durch die Evakuierung des Luxuskaufhauses, in dem sich die Jugendlichen verstecken werden, wiederholt sich die Aufzählung in veränderter Reihenfolge erneut: Der Blick auf die Uhr, gefolgt vom Panorama über Paris, dem Riesenrad und dem Centre Pompidou. Zum Schluss mündet die zersplitterte Aufzählung in einen Splitscreen, der alle vier Explosionen gleichzeitig im räumlichen Nebeneinander auf der Bildfläche zeigt und sich in den viergeteilten Überwachungsaufnahmen aus dem Luxuskaufhaus fortsetzt. Ereignisse werden wiederholt gezeigt, Reihenfolgen verkehren sich oder breiten sich über die Bildfläche aus, als wäre eine Flüssigkeit ausgekippt. Die Zeit ist aus den Fugen. Sie zersplittert in kleine Stücke, in kleine Handlungen, in hedonistisches Feiern, eingekesselt in einem Luxuskaufhaus, in dem Ungewissheit und Angst steckt. Sprünge und Wiederholungen, vor und zurück, wie eine verbogene Schallplatte oder eine leicht zerkratzte CD.

Nach den Anschlägen treffen die Jugendlichen im Kaufhaus zusammen. Mit der Evakuation des Gebäudes verstummt das rege Durcheinander, der Ort bleibt wie ausgestorben zurück; die Rolltreppen halten an, das Licht geht aus. In der Dunkelheit findet die Kamera die Jugendlichen in ihren Verstecken wieder. Regungslos warten sie, bis eine Stimme die Stille durchbricht und Entwarnung gibt. Ein Mitglied der Gruppe hat das Sicherheitssystem unter seine Kontrolle gebracht. Für diese Nacht gehört das Luxuskaufhaus den Jugendlichen.

Der Plan scheint sich nahtlos fortzusetzen – erst der Heist, dann die Flucht ins Versteck. Trotzdem kommt es mit dem Wechsel in das Kaufhaus in der zweiten Hälfte des Films zu einem Bruch der Inszenierung. Während die Jugendlichen auf den Straßen von Paris trotz getrennter Wege durch eine gemeinsame Bewegung verbunden waren, verlieren sie sich nun in den weitläufigen Gängen des Kaufhauses. Bereits während der ersten Lagebesprechung sind alle Mitglieder in Großaufnahmen vereinzelt und auch danach finden sie nie wieder in einer gemeinsamen Einstellung zusammen. Auf die Zersplitterung der Zeit folgt eine zersplitterte Räumlichkeit.

Die räumliche Struktur des Kaufhauses erinnert an Fredric Jamesons Analyse postmoderner Architektur, die er 1984 exemplarisch anhand des Bonaventure Hotels in Los Angeles entwickelt hat. Wie dieses Gebäude zeichnet sich auch das Luxuskaufhaus durch eine rigorose Hermetik aus. Es hat keine Fenster und ist schalldicht gegen die Außenwelt abgesichert. Ein perfektes Versteck und eine sichere Falle. Schnell verbreitet sich ein Gefühl des Gefangenseins unter den Jugendlichen, treibt sie auseinander, auf Ausflüge durch die verworrenen Etagen. In seiner Abgeschlossenheit ist das Gebäude „darauf angelegt, als totaler Raum zu gelten, als eine in sich vollständige Welt, eine Art Miniaturstadt“.

Hier gibt es tatsächlich alles: einen Supermarkt mit Kaffee, Toastbrot, Wein oder Butterkeksen, eine voll ausgestattete Küche, Mode von Badeanzügen bis Hochzeitskleider, Armbanduhren, Ketten, Eyeliner, Lippenstift, Badewannen, Bademäntel, Betten, Fernseher, Soundanlagen, Spielkonsolen, Barbiepuppen, Strom und fließendes Wasser, Spielzeugwaffen, Feuerlöscher, ein Go-Kart. Alles wird ausprobiert, konsumiert, umfunktioniert. Doch bereits eine der ersten Erkundungstouren endet abrupt in einer Sackgasse, wenn einer der Jugendlichen, Yacine, nach wenigen Metern einer identisch gekleideten Schaufensterpuppe gegenübersteht. Die Verheißungen der grenzenlosen Einkaufswelten kollabieren schlagartig in endlose Wiederholungen. Selbst die Konfrontation mit dem künstlichen Doppelgänger wiederholt sich später im Film.

Für Jameson ist die vermeintliche Selbstgenügsamkeit dieser Architektur in zweifacher Hinsicht trügerisch. Erstens verdoppelt sie in ihren Innenräumen einfach die Strukturen der Außenwelt, anstatt eine echte Alternative zu entwerfen. Zweitens kappt sie alle Verbindungen zu ihrer Umgebung und lässt keine Aussicht auf Veränderung mehr zu. Die Jugendlichen befinden sich „Im Herzen von Paris“, wie es in den späteren Fernsehberichten heißen wird, und haben dennoch jeglichen Bezug zur Stadt und sogar ihren eigenen Taten verloren. Wie hypnotisiert starren sie auf die Videoübertragung der brennenden Anschlagsorte, ohne erkennbare Reaktionen.

Der totale Raum verhindert, sich in ihm zu verorten zu können. Die Kamera springt zwischen den Etagen von Person zu Person oder verliert sich mit ihnen in labyrinthisch verzweigten Gängen. Abteilungen scheinen zusammenhangslos aneinandergereiht. Produkte sind säuberlich sortiert, Farben und Formen heben sich klar voneinander ab und doch sieht im sterilen Licht der LED-Lampen alles gleich aus. Bis zum Schluss bleiben die räumlichen Verhältnisse im Ungewissen.

Die Unmöglichkeit, einen klaren Standpunkt einzunehmen, wird von Jameson auf „ein noch größeres Dilemma“ übertragen: „die Unfähigkeit unseres Bewußtseins (zur Zeit jedenfalls), das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.“ Mehr als dreißig Jahre später scheint sich daran kaum etwas geändert zu haben. Die Gruppe in Nocturama zerfällt im zweiten Teil so schnell, wie sie sich im ersten formiert hatte. Die taktische Aneignung des Stadtraums schlägt um in orientierungsloses Herumirren, aus Anschlagszielen werden Zufluchtsorte, politische Aktion verkehrt sich in hedonistischen Konsum.

Und doch entzieht sich der Film dieser schematischen Gegenüberstellung. Denn die zersplitterten Räume eröffnen gerade in ihrer Zusammenhangslosigkeit unzählige Möglichkeiten, miteinander kombiniert zu werden. Im losen Nebeneinander abstrakter Formen, einfarbiger Wände und Spiegelflächen werden die Bilder selbst zu Splitscreens, kollagenartigen Oberflächen, auf denen sich immer neue Beziehungen herstellen lassen.

So beschreibt Bonello im Presseheft das Kaufhaus in ähnlichen Worten wie Jameson das Bonaventure Hotel, gelangt jedoch zu einer ambivalenteren Einschätzung des Ortes: „Ein Kaufhaus ist eine eigene Welt in der Welt. Eine Welt des Konsums, sicherlich, aber eine komplett autonome. Eine Welt der unendlichen Möglichkeiten, der Grenzüberschreitung und sei es nur für ein paar Stunden.“ Die Waren des Kaufhauses lösen sich für die Nacht aus ihrer materiellen Verwertungslogik, erlauben Spielräume für kreative Imagination. Wenn die Jugendlichen versuchen diese Freiheiten ausnutzen, dann schwanken ihre Handlungen zwischen banal und subversiv, erscheinen mal idealistisch, hedonistisch, verspielt oder ernsthaft.

Eine romantische Hochzeit wird genauso inszeniert wie Sexfantasien mit einer Schaufensterpuppe. Individueller Genuss trifft auf Solidarität, wenn ein Mitglied der Gruppe ein obdachloses Ehepaar in das Gebäude einlädt. In jedem Fall zeigt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Begehren, Wünsche, Ängste und Fantasien, die nicht einfach auf einen gemeinsamen Begriff gebracht werden können. Seinen Höhepunkt erreicht das Verkleidungsspiel in einer Karaoke-Performance von My Way: Frank Sinatras Hymne auf männliche Selbstbehauptung wird in der Version von Shirley Bassey gespielt, die von einer Frau statt einem Mann singt, und szenisch interpretiert von Yacine, mit Lippenstift und einer Perücke, die er sich im finalen Aufschwung der Musik mit großer Geste vom Kopf reißt. Abblende.

3H30. Die letzte Zeiteinblendung des Films. Es ist tiefste Nacht. Eine Katze schleicht in der Stille durch einen leeren Gang des Kaufhauses. Wenige Minuten später wird ein Sondereinsatzkommando auf demselben Weg lautlos in das Gebäude eindringen. Noch schlafen die Jugendlichen, oder streifen vereinzelt durch die Einkaufsläden. Nur Sabrina scheint den nahenden Tod zu ahnen. Ihr leerer Blick wird plötzlich vom brennenden Antlitz der Jeanne d’Arc-Statue erwidert. „On va tous mourir“ – „Wir werden alle sterben“ sagt sie wieder und wieder, das Gesicht in Schrecken erstarrt.

Ihre Erinnerung an die berühmte Märtyrerin erweist sich als Vision, wenn die nächste Einstellung das genauso fassungslose Gesicht eines anderen Jugendlichen zeigt. Er steht vor einer Wand aus Monitoren, deren Bilder alle die Außenseite des Kaufhauses zeigen. Noch beobachten die Fernsehkameras das Versteck aus sicherer Distanz, aber eine Folge langsamer Zooms auf die Jugendlichen nimmt den bevorstehenden Angriff bereits vorweg.

In der Außenperspektive erscheint das Kaufhaus nur als dunkle Fassade, eine Black Box, die von Medien und Regierung zum absoluten Feind erklärt wird. Anzahl und Identität der Terroristen seien unbekannt, heißt es in den Nachrichten, aber es handle sich um Staatsfeinde, daher sei eine Verhandlung nicht mehr notwendig. Die Vereinheitlichung der Gruppe ist hier sprichwörtlich Gewaltakt, sie legitimiert die unterschiedslose Tötung aller Personen im Gebäude. Sogar die beiden Obdachlosen werden später auf dieselbe kontrollierte Art mit einzelnen Schüssen exekutiert. Als sich die Neuigkeit allmählich unter den Jugendlichen verbreitet, zeigt eine Parallelmontage noch einmal ihre Heterogenität. David sucht mit Sarah nach einem Fluchtweg, André legt Sprengstoff in den Zugängen, Mika hat einen Alptraum, Omar tanzt zur apokalyptischen Ghetto-Paranoia von Chief Keef’s I Don’t Like und Yacine lässt sich ein Bad ein. Für die eindringende Spezialeinheit spielen diese Differenzen und Widersprüche keine Rolle mehr.

Als letztes Lied vor dem Angriff spielen die Jugendlichen Call Me von Blondie und Giorgio Moroder. Es ist der Titelsong von Paul Schraders American Gigolo, der wie kein anderer Film die Oberflächenästhetik der 80er-Jahre einleitete, in denen sich auch in den USA und Europa eine neoliberale Politik durchzusetzen begann. Unterbrochen von Aufnahmen der herannahenden Spezialeinheit drücken die Jugendlichen über die Dauer des Liedes das ambivalente Erbe dieser Zeit aus. In einem finalen Totentanz taumeln sie zwischen lustvollem Rollenspiel und Ekstase, Erschöpfung und Verzweiflung ihrem eigenen Untergang entgegen.