Il Cinema Ritrovato 2017: The Power and the Glory von William K. Howard

Manchmal bedarf es des zeitigen Anstoßes durch einen Mitbetrachter, um zu erkennen, dass man bei der Beurteilung eines Films einem Kurzschlussurteil unterlegen ist. Der Wert des Schweigens nach dem Kino – insbesondere des Schweigens über den gesehenen Film – sollte nicht unterschätzt werden; denn es gibt dem eben Aufgenommenen die Möglichkeit, weiterzuwirken, sich zu entfalten, Wurzeln zu schlagen. Aufzugehen in den Tiefenschichten des persönlichen Bildreservoirs, auf dass es irgendwann in neuem, ungeahntem Gewand wiederauferstehen kann. Doch genauso leicht vermag die unventilierte Filmerfahrung eines Cinephilen und Vielsehers zu verkrusten und ins Unbewusste abzusinken, in einer Form, die dem zugehörigen Kunstwerk in keiner Weise gerecht wird. Womöglich hat man schon beim Schauen gespürt, dass in den Bildern mehr steckt, als der erste Blick verrät. Doch irgendein Denkreflex hat sich quergestellt und die Intuition abgebügelt. Das kenne ich schon, ich weiß, wie das funktioniert. Ein klarer Fall nach Schema F, etc. pp. Man kommt aus dem Kino und tut seine fundierte Geringschätzung kund, mit wohliger Abgeklärtheit in den Augen. Und man beginnt bereits damit, zu vergessen. Womöglich zu Recht – doch vielleicht auch nicht. Und lauscht man dem, was andere über den Film zu sagen haben, jene, die anderer Meinung sind und diese auch zu begründen wissen, so gibt es hier, in dieser kurzen, empfindlichen Phase zwischen Ersteindruck und Bilanz, die Hoffnung einer Rettung.

The Power and the Glory von William K. Howard

Eine solche erfuhr für mich William K. Howards The Power and the Glory (1933) beim heurigen „Il Cinema Ritrovato“. Ein Film, der mich beim Sehen relativ kalt ließ – abgesehen von der Irritation durch ein paar stilistische Eigenheiten, die ich allerdings sehr schnell unter der Kategorie „gescheiterte Experimente“ verbuchte. Er handelt vom Leben und Tod des (fiktiven) Railroad-Tycoons Tom Garner, der in jeder Altersstufe von Spencer Tracy gespielt wird. Erzählt wird Garners Geschichte von seinem Sandkastenfreund und langjährigen Wegbegleiter Henry (Ralph Morgan). Der Film beginnt mit einer Totenmesse für den verschiedenen Magnaten, die ein sichtlich niedergeschlagener Henry gesenkten Hauptes verlässt. Zuhause spricht er mit seiner Frau über den Toten. Diese hat kaum gute Worte für ihn übrig. Henry sieht sich veranlasst, Garner (oder Tom, wie er ihn nennt) in Schutz zu nehmen, und seine Imagekorrektur-Bestrebung setzt seine Reihe von Rückblenden in Gang (die markante Flashback-Struktur des Film legt einen Einfluss auf Orson Welles‘ Citizen Kane nahe, wie Pauline Kael und Dave Kehr – der Kurator der Howard-Schau in Bologna – vermerkt haben).

Die Rückblenden zeichnen Garners Werdegang in groben Zügen nach. Einerseits ist die knapp 80-minütige Erzählung sehr elliptisch. Man sieht die Hauptfigur als Kind, und kurz darauf heißt es im Voice-Over: „Ehe man sich’s versah, war er einer der erfolgreichsten Eisenbahnunternehmer des Landes“. Andererseits gibt es eine komplexe narrative Schichtung mit vier Zeitebenen, zwischen denen zickzack-artig hin- und hergesprungen wird: Garners Kindheit, seine Prä-Tycoon-Phase als einfacher „track walker“ (eine Art ambulanter Schieneninspektor), der spätere Zenit seines Erfolgs und die Rahmenhandlung nach seinem Tod. Auf den ersten Blick entsteht dabei (im Unterschied zu Citizen Kane) der Eindruck der Apologie eines missverstandenen Self-Made-Mannes, der vielleicht etwas überambitioniert, aber (fast) immer rechtschaffen und ehrlich war. Dessen Unglück in erster Linie auf die Schwäche und Ignoranz seiner Nächsten zurückzuführen ist. Ich nahm diese Präsentation, die wie ein Schlüsselreiz auf meinen ideologiekritischen Reflex wirkte, für bare Münze – obwohl es durchaus Momente gab, in denen gewisse Widersprüchlichkeiten der Form leise Zweifel in mir weckten, ob der Film sich wirklich derart vorbehaltlos hinter Garners Figur stellte, wie ich meinte, glauben zu müssen. Weiters erschien mir Henrys aufdringlicher Voice-Over als unnötige Doppelung der Bildebene – ein weiters Reflexurteil, diesmal formalistischer Natur. Wenn’s bei Blade Runner nicht passt, warum sollte es hier Sinn machen?

Nach dem Film war ich bereit, ihn sofort ad acta zu legen, als müde Aufsteiger-Story und holprige Spielerei mit fragwürdiger Botschaft. Doch das kurze Gespräch mit einem Freund unmittelbar nach dem Screening belehrte mich eines Besseren – vor allem, weil seine Argumente andocken konnten an Aspekte meiner Wahrnehmung, die ich zwar verdrängt, aber noch nicht verbaut hatte. Der bloße Hinweis auf eine Handvoll offenkundiger Doppelbödigkeiten rückte den Film umgehend in ein anderes Licht und zwang mich, ihn nochmal unter anderen Vorzeichen Revue passieren zu lassen.

The Power and the Glory von William K. Howard

Zentral für dieses Umdenken war die Bewusstwerdung der eigentümlichen Perspektive von The Power and the Glory. Nahezu alles, was wir über Tom erfahren, wird durch Henrys rosarote Brille gefiltert. Und Henry ist eine ziemlich jämmerliche Figur. Ein pedantischer Angsthase und geborener Lakai, der sein Leben lang zu Tom aufgeblickt hat, stets in dessen Schatten stand und vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt war, ohne es sich selbst einzugestehen – eine Art Smithers ohne Pragmatismus. Der Film macht dies in jeder dritten Szene deutlich. Zeigt, wie er sich als Kind nicht traut, ins Wasser zu springen, als Tom sich beim Tauchen zwischen zwei Steinen verheddert. Wie er als Studierender genüsslich eine schnörkelige Schönschrift kultiviert – in einem Brief an den verehrten Kameraden. Wie er als Toms Sekretär Arbeit findet und aus Knausrigkeit beinahe dessen Anlagetipps ausschlägt, die ihm schließlich zu seinem gemütlichen Heim verhelfen.

Zugleich spricht aus jedem Wort Henrys die rückhaltlose Anbetung, die er Tom entgegenbringt, diesem ur-amerikanischen Machertypen, der all das verkörpert, was er nie sein konnte. Auf den er dermaßen viel projiziert, dass jede noch so zaghafte Kritik an diesem Idol um jeden Preis auf Abstand gehalten werden muss. Sein Versuch, das eherne Erinnerungsbild seines Freundes intakt zu halten, äußert sich gerade in der schon erwähnten Aufdringlichkeit seines Voice-Overs, der sich manchmal über die Stimmen der Figuren legt und diese in Handpuppen verwandelt – etwa in einer parabelhaften Szene über die Annäherung zwischen Tom und seiner Frau Sally (Colleen Moore), bei der Henry, wie auch bei vielen anderen von ihm geschilderten Ereignissen, gar nicht zugegen war. Diese „Geschichtsklitterung“ macht ihn auf subtile Weise zum unzuverlässigen Erzähler und verleiht den Rückblenden eine faszinierende Ambivalenz. Das Karikatureske mancher Passagen, die Garner als „simple country boy“ verklären oder ihn zum klarsichtigen „maverick“ krönen (der zwar nichts von Rechnungswesen versteht, aber weiß, wie man ein Bahnunternehmen zu führen hat, verdammt nochmal!) tritt unter diesem Blickwinkel deutlich hervor. Der Umstand, dass der damals 33-jährige Spencer Tracy seine Figur auch als unbedarften, analphabetischen Jungspund spielen darf, erscheint plötzlich nicht mehr wie eine befremdliche Hollywood-Eigenheit, sondern als Kommentar auf den unhintergehbaren Idealcharakter dieses verbrämten Gedächtnis-Garners. Und eine besonders ärgerliche Sequenz hat nun etwas von einer Verblendungs-Apotheose: Der Großindustrielle besucht eine Fabrik, die von einem Streik stillgestellt wurde. Ein garstiger Gewerkschafter mit russischem Akzent peitscht die dumpfen Arbeitermassen auf. „Wenn ich diesen Garner in die Hände bekomme, dann…“ – „Was dann?“, ertönt es aus der Menge. Der Chef, im Herzen nach wie vor ein Mann des Volkes, besteigt die Bühne, verweist den Hetzer auf seinen Platz und hält eine Brandrede, die jeden noch so renitenten Kommunisten zur Räson bringen würde. Aber leider gab es damals ein paar Sturköpfe, wie man erfährt, der Streik musste blutig niedergeschlagen werden, Hunderte kamen ums Leben. Sind das die Taten eines guten Mannes, mahnt Henrys Frau? Papperlapapp, eine bedauernswerte Notlösung, sagt ihr Mann. Und überhaupt – hast du schon mal über seine Gefühle nachgedacht? Zuweilen manifestiert sich Henrys Opfermythos sogar in der Ästhetik. Für die Kameraarbeit zeichnet der eminente Schattenmaler und Tiefenschärfenspezialist James Wong Howe verantwortlich, viele Einstellungen neigen zum Sakral-Monumentalen. Doch keine so sehr wie die, in der Garner nach seinem Selbstmord im Schlafzimmer aufgefunden wird. Henry und der Sohn des Toten fügen sich in eine Komposition, die stark an Pietàs und klassizistische Todesdarstellungen erinnert, gerinnen förmlich zu Elementen eines symbolischen Gemäldes. Von links fällt durchs Fenster ein göttliches Licht. Es ist derselbe Schimmer, der in der Eröffnungsszene die Totenmesse beehrte. Die Heiligsprechung ist vollendet. Und man begreift, dass es in „The Power and the Glory“ eigentlich gar nicht um Tom Garner geht, sondern um Henry. Nicht um die Macht und die Herrlichkeit, sondern um die unstillbare Sehnsucht danach, die den amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Um die Weigerung, dessen Kehrseiten ins Gesicht zu blicken und die Trauer eines Stellvertreterdaseins.

Natürlich ist diese Lesart nicht die „Richtige“. Ohne die Anregung von außen hätte sich meine anfängliche Interpretation mit ziemlicher Sicherheit durchgesetzt, und es ist sehr gut möglich, dass andere Zuseher ihr den Vorzug geben würden. Aber die beschriebenen Ambiguitäten sind fraglos im Film enthalten – und wenn man bedenkt, dass das Drehbuch von Preston Sturges stammt, liegt die Spekulation, dass es sich dabei um Absicht handelt, nicht fern. Hätte ich nach der Sichtung geschwiegen, wäre mir diese Facette entgangen – passend bei einem Film, der nicht zuletzt von hermetischen Weltbildern erzählt.

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