Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

From Chaos comes Order: Über In the Mood for Love und Musik

Das lateinische Wort componere bedeutet zusammenfügen, aus ihm entsteht das deutsche Wort Komposition, das allgemein für den formalen Aufbau eines (Kunst)werks steht; in der Musik steht das Wort Komposition einerseits für die schöpferischer Tätigkeit des Urhebers eines Musikstücks, andererseits aber auch für das Werk selbst. Der Begriff der Komposition hat in der Musik – zumindest im Sprachgebrauch – einen höheren Stellenwert als in allen anderen Künsten. Eine einzelne Note von einem Instrument gespielt oder einer menschlichen Stimme gesungen hat keine Bedeutung, sie ist als solche für einen Menschen ohne die Fähigkeit des absoluten Gehörs nicht einmal benennbar. Erst im Zusammenschluss mit einer anderen Note entsteht ein Intervall, welches bereits einen emotionalen oder symbolischen Wert besitzt. Durch Zusammenschlüsse von vielen solcher Noten entstehen musikalische Motive, Themen, komplexe harmonische Strukturen, die wir als Komposition begreifen. Sie können etwas bedeuten, doch den Kern dieser Strukturen bilden immer noch die einzelnen Noten, die im Grunde für sich ein unbedeutendes bzw. nicht-bedeutendes Naturphänomen sind.

Wenn man Christopher Doyle über die Auswahl seiner Locations für In the Mood for Love reden hört, spricht er von ihnen, als wären es musikalische Noten. Die Location ist konstitutiv für den Film, sie bestimmt die Kameraeinstellungen, alle Bewegungen im Bild und schlussendlich auch die Handlung, die in ihr stattfinden kann. Die Location ist allerdings – anders als die Note – schon von vornherein von ihrer Geschichte gezeichnet, von den Menschen, die dort lebten und leben, von allen Ereignissen, die dort stattgefunden haben. Nichtsdestotrotz funktioniert sie in der Gesamtkomposition des Filmes wie eine Note, oder ein einfaches musikalisches Thema.

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Als Zuschauer beginnt man sich schnell mit den verschiedenen Locations in Wong Kar-Wais In the Mood for Love anzufreunden und sie mit bestimmten emotionalen Gehalt zu füllen: Die Suppenküche, in der sich Mrs. Chan und Mr. Chow immer wieder zufällig begegnen, aber sich niemals ansprechen; der Türrahmen zu Mr. Chow Wohnung, in dem Mrs. Chan ein falsch zugestelltes Paket übergibt; der Flur zum Hotelzimmer mit der Nummer 2046 mit seinen roten Vorhängen, welche die Sicht nach draußen versperren. So wie in einem Musikstück musikalische Themen immer wieder auftauchen und uns als Zuhörer in wohlige, vertraute Gefilde zurückführen, finden sich auch die Protagonisten von In the Mood for Love immer wieder an denselben Orten wieder. Wie erschütternd ist es dann für uns, wenn unser wohlbekanntes Motiv plötzlich in einer Mollvariante auftaucht, wenn die Vorhänger im Flur zum Zimmer 2046 plötzlich vom Wind geschüttelt werden, wenn auf der Straße vor der Suppenküche ein heftiger Regen einsetzt. Mit diesen Mechanismen von Wiederholung und Variation spielen Doyle und Wong Kar-Wai nur zu gerne und dies führt dazu, dass selbst kleinste Veränderungen große Bedeutung erlangen. Und bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich schlussendlich nie etwas in völliger Übereinstimmung wiederholt; und sei es auch nur die ständig wechselnde Musterung von Mrs. Changs Kleidern.

Ähnlich wie die verschiedenen Schauplätze wird auch die Musik zum Einsatz gebracht: eine Handvoll verschiedener Musikstücke wiederholen sich immer wieder, werden in neuen Kontexten oder Varianten von bereits bekannten Szenen präsentiert. So begleitet beispielsweise Yumeji’s Theme von Shigeru Umebayashi insgesamt acht Szenen des Films. Besonders in jenen Szenen, in denen dieses Thema auftritt, fällt ein speziell Verhältnis zwischen Musik und Bild auf: es scheint, als ob die Musik den Ablauf der gesamten Szene diktieren würde.

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Yumeji’s Theme ist ein tänzerisches Lied im ¾ -Takt, der sehr dominant vom Pizzicato der Streicher akzentuiert wird, über dem sich eine improvisatorisch-solistische Melodie ausbildet. Die Dominanz dieses Taktes wirkt sich auch auf den Inhalt der Bilder aus, die von ihm begleitet werden. Häufig kommt es dabei zum Einsatz eines Zeitlupeneffekts, um die Bewegungen der Menschen im Bild an die Musik anzupassen: Schritte werden beispielsweise immer auf den ersten Schlag des Taktes gemacht. Es ist auffällig, dass in diesen Szenen fast immer zwei gegenläufige Kamerabewegungen aufeinanderfolgen, so wird zum Beispiel von einer Einstellungen, in der sich die Kamera von rechts oben nach links unten bewegt, in eine Einstellung mit genau umgekehrter Bewegungsrichtung geschnitten; in längeren Einstellungen wechselt die Kamera in der Einstellung selbst die Bewegungsrichtung. Die Verbindung zwischen Musik und Bild wird zudem noch verstärkt, indem innerhalb fast jedes Kaders mindestens ein Objekt zu sehen ist, das sich im Takt der Musik bewegt; diese befinden sich oft im Fokus der Bildes (z. B. Mrs. Chans Kanne, welche sie in der Hand hält als sie zur Suppenküche geht), aber manchmal auch im Hintergrund (z. B. eine wippende Deckenlampe). Diese „Musikalität“ der Bilder ist jedoch nicht nur in solchen Szenen spürbar, sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Gesamtheit des Films (ich habe bereits die im Wind wippenden Vorhänge erwähnt), sie ist spürbar in jeder Bewegung im Bild, in jeder Bewegung der Kamera. Dem Film scheint eine fast naturgegebene rhythmische Struktur zugrunde zu liegen, die schwer beschreib- oder erklärbar ist, die sich jedoch für uns Zuschauer in einem gewissermaßen „schlüssigen“ Filmerlebnis erschließt.

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So wie in der Musik manchmal die Struktur eines Werkes den Inhalt bestimmt und manchmal „normierte“ Strukturen aufgrund der Anforderungen der Inhalts gebrochen werden, kann man bei In the Mood for Love keine pauschale Antwort darauf geben, ob die Musik den Inhalt der Szene konstituiert oder umgekehrt. Und wie in der Musik bleibt auch bei In the Mood for Love die Frage „Warum das Werk so ist, wie es ist“ unbeantwortet; ihr kann nur mit einer weiteren Frage entgegnet werden: Wie sollte es denn sonst sein?

Die Location bildet die Grundlage für Wong Kar-Wais Film und konstituiert den gesamten Inhalt; sie selbst bleibt allerdings in ihrer Art für unsere Ratio nicht erschließbar, genauso wie eine Note. So wie die Note von der Natur gegeben ist, ist die Location vom Leben gezeichnet und gegeben. Sie hat in sich keine Ausrichtung oder Ordnung, ist in sich chaotisch und konstituiert dennoch die Struktur des Films. Und so fasst es Christopher Doyle auch treffend zusammen: „From chaos comes order“.