French Woody

Intellektuelle Pärchen streiten sich, diskutieren, zum Teil ist es ein regelrechtes Fremdschämen auf fast literarischem Niveau, zum Teil ist es amüsant, jedenfalls verliert es nie an Tiefe oder Inspiration, es ist eine präzise Beobachtung und Schilderung „relativ“ normaler und realer Beziehungen. Dabei spielt das Verhältnis von Stadt und Land eine ebenso große Rolle wie die Gleichsetzung von Mann und Frau in Sachen Neurosen, Ticks und Charakterbildung. Das alles klingt wie eine Beschreibung des jährlichen Woody Allen-Films, ist aber auf Französisch. Denn es ist eine kurze Beschreibung des Films Comment je me suis disputé…(ma vie sexuelle) von Arnaud Desplechin. In der Hauptrolle ist der außerordentlich begabte Mathieu Amalric zu sehen; seine existenzialistische Krise gleicht denen, die Woody Allen selbst als junger Schauspieler in seinen eigenen Filmen durchlebt hatte. Ein Mann dessen Lebensentwurf ins Wanken gerät, der einfriert und bildlich plötzlich auf dem Weg stehenbleibt und nicht mehr weiter weiß, nur noch die Last der Menschen, der Natur und der Geräusche um sich spürt. Allerdings hat er nicht die Finesse oder den Humor der Woody Allen Charaktere, genauso wenig ist er ein Tollpatsch, der sich so chaplinesque mit dem Publikum verbündet. Vielmehr steht dieser Charakter in der Tradition französischer Existenzialisten. Ein Hass auf alles und der Versuch sein eigenes Leben nicht aus der Kontrolle zu geben. Amalric lächelt trotzdem immer wieder genau dann, wenn man es nicht erwartet. Er wirkt gleichzeitig depressiv und gelöst.

Wie beim amerikanischen Meister geht es bei Desplechin aber nicht nur um diese eine Hauptperson, der die Handlung stringent folgen würde. Vielmehr scheint die Kamera frei zu sein und sich gottgleich interessante Situationen und Diskussionen herauszupicken. Aufgrund der deutlich anspruchsvolleren Kameraabreit wirkt das sogar noch deutlich weniger konstruiert als bei Allen.  Bei fast drei Stunden Spielzeit fühlt man am Ende ein ähnliches Gewicht wie die Protagonisten, dadurch geht der Comedy-Charme zugunsten einer enormen Tiefe und Lebensweisheit verloren. Nicht zuletzt aufgrund der interessanten Voice-Over Sequenzen, die sich unheimlich literarisch anfühlen, hat man häufig das Gefühl ein Buch zu lesen. (und in diesem Fall schmälert das den cineastischen Wert keineswegs.) Die Frauenfiguren sind vielfältig und faszinierend. Ein Herabsetzen auf bloße Erotik erlaubt das ständige Kontern mit Intellekt nicht; ein perfektes Bild ist Marianne Denicourt, die zwar als Objekt der Begierde fungiert, aber letztlich nackt Schach spielt.
Wenn ein Regisseur Woody Allen zitiert, zitiert er gewissermaßen ja auch Bergman. Oder zitieren hier nur zwei Filmemacher Bergman? Auch ein bisschen Rohmer ist zu fühlen in den Bildern und kleinen Geschichten von Desplechin.  Die Frage ist jedenfalls interessant: Wenn heute junge Regisseure ihre Vorbilder zitieren, dann zitieren sie ja oft schon Filmemacher, die bereits andere Filmemacher zitiert haben. Dadurch entsteht ein weitaus undurchsichtigeres Bild in der heutigen Filmlandschaft; Zitate sind heute kaum mehr als solche spürbar, man muss sich schon fast im Tarantino-Style darum bemühen, dass sie als solche wahrgenommen werden. Zudem gibt es enorm viele Möglichkeiten seltene, alte und internationale Filme zu sehen. Jeder sieht eigentlich etwas anderes, was ihn beeinflusst. Erschreckend genug, dass viele Filmemacher sich trotzdem an den immer gleichen Filmen orientieren. Es ist natürlich keine Pflicht überhaupt zu zitieren, geschweige denn sich mit Filmen auszukennen, wenn man Filme macht. Allerdings beobachtet man bei den großen Regisseuren heute und damals durchaus eine starke Filmaffinität. Inspiration muss von irgendwo kommen. Begonnen bei der Inspiration Filme zu machen über die Inspiration einen bestimmten Film zu machen bis hin zu der Art und Weise wie eine Zigarette im Aschenbecher liegt. Wir werden durch Filme zwangsvisualisiert und diesen Vorgang bewusst zu steuern ist kein Verbrechen, sondern um es in den Worten von Lars von Trier zu sagen schlicht und einfach die Anwendung eines Alphabetes. Ältere Filme sind die Buchstaben aus denen neue Filme entstehen können. Hinzu gegeben werden Erinnerungen, Beobachtungen, Einflüsse aus anderen Künsten und von vielen unterschiedlichen Künstlern und Helfern bei der Realisierung des Films, zufällige Gegebenheiten am Set und so wird niemals ein gleicher Film entstehen; selbst wenn große Regisseure wie Gus van Sant oder Michael Haneke Shot-für-Shot Remakes von Filmen ausprobierten und die Ergebnisse durchaus interessant sind, (Psycho und Funny Games US) so waren die Remakes jedes Mal eine völlig neue filmische Erfahrung. Wenn Chris Nolan seine Helden in Inception nach der absoluten Inspiration und völlig neuen Ideen suchen lässt, dann drückt das seine ganz persönliche Traumebene eines schaffenden Künstlers aus.
Woody selbst zitiert sich heutzutage am liebsten selbst. Aus seinen unerschöpflichen Ideen kreiert er ein Crescendo einer ebenso unerschöpflichen Variation der immer selben Filme. (es gibt Ausnahmen!); erschreckend dabei ist, dass er im Regelfall unterhaltend ist und sehr inspirierend sein kann. Das haben jetzt auch Tourismusorganisationen bemerkt und so gibt es Ende des Monats nach Barcelona und Paris nun Rom zu sehen in einem Woody-Film. Die Städte finanzieren die Filme mit und schwups ist der Name der Metropolen im Titel des Films. (hier: To Rome with Love ) Inzwischen erinnert das schon fast an die Vergabe des Tour de France Startortes, um den sich auch halb Europa streitet. Dem Charme seiner Filme tut das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Der 76jährige New Yorker ist in Hochform und spielt in seinem nächsten Streifen sogar wieder selbst mit.  
In der empfehlenswerten Dokumentation Woody: A Documentary, die seit einigen Wochen in den Kinos zu sehen ist, sagt Allen, dass er seiner Meinung nach noch nie einen wirklich großen und guten Film gedreht hat. Bezieht man das auf das letzte Vierteljahrhundert mag das stimmen, denn an frühere Tage reichen die neueren Allen Filme einfach nicht mehr heran; dabei spreche ich von Annie Hall, Hannah and her Sisters oder Manhattan.  Comment je me suis disputé…(ma vie sexuelle) würde ich ohne Zögern als einen großen Film bezeichnen. Vielleicht liegt es daran, dass sich ein Woody Allen Film selbst nicht so ernst nimmt, daran, dass er existentielle Probleme und große philosophische Fragen oft mit Komik entschärft und sie somit umgeht (was ja gewissermaßen sehr nahe am Leben ist), vielleicht liegt es daran, dass Allen immer mit einem Auge zum Publikum zu schielen scheint; die Natürlichkeit des französischen „Nachahmers“, die Ernsthaftigkeit, die niemals zum Selbstzweck verkommt, der kommentierende Einsatz von Musik, die literarische Wucht…all das macht Desplechin mehr zu Bergman als zu Allen. Weniger Publikum, mehr Qualität? Jedenfalls ist dieser Film ein Musterbeispiel für die Kraft des französischen Kinos, an der sich nach wie vor jedes andere europäische Filmland orientieren kann.

Auf der letzte Woche veröffentlichten, lang ersehnten neuen Top 50 der besten Filme aller Zeiten (durchgeführt von Sight and Sound in einem beispiellosen Prozedere) landet Ingmar Bergman auf Platz 17 mit Persona, während Woody Allen einzig als Beitragender in Erscheinung getreten ist. Hier seine persönliche Top 10.
Der Trailer zum neuen Woody Allen:
Eine Szene aus Comment je me suis disputé…(ma vie sexuelle)

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