Filmfest München 2019: A Vida Invisível de Eurídice Gusmão von Karim Aïnouz

Dass am Ende von Lluís Miñarros Love Me Not eine Widmung für Douglas Sirk steht, ändert nichts daran, dass der nicht-existierende Sirk-Preis in München an A Vida Invisível de Eurídice Gusmão von Karim Aïnouz gehen würde. Das liegt vor allem an der vor Farben und organischer Sensibilität pochenden Kamera von Hélène Louvart, die mitsamt der starken Schauspieler (allen voran Carol Duarte, Julia Stockler und Gregório Duvivier) aus einem konventionellen Melodram eine fiebrige Emotion werden lässt. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Debütroman von Martha Bathala und ist im Brasilien der 1950er Jahre angesiedelt.

Nur selten geht das Narrativ über das hinaus, was man erwartet, wenn zwei Schwestern auf brutale Art und Weise von ihrem Vater getrennt werden. Die sinnliche Dekonstruktion der patriarchalen Strukturen, die Empathie für die „unsichtbaren“ Frauen und ein beinahe an Pixar-Filme erinnerndes Ende samt der traurigen Vorstellung eines verpassten Lebens erzeugen selten jenes Momentum mitreißender Überwältigung, das von den Tönen und Bildern des Films ausgeht. Darin liegt dann aber auch ein Herzstück des Films, denn das was die Kamera sieht, ist deutlich weniger spannend, als wie sie das tut. A Vida Invisível de Eurídice Gusmão ist ein Film, der seine haptischen Qualitäten vor sich herträgt und dabei zum Beispiel an einen Film wie Days of Being Wild von Wong Kar-wai erinnert.

Louvart, die etwa auch Alice Rohrwachers Le Meraviglie und Lazzaro felice fotografierte, erzeugt einen faszinierenden Sog zwischen sumpfiger Trance (durch die Dunkelheit brechende Überbeleuchtungen, schimmernde Oberflächen, dunstige Halblichter) und dahinfließenden Auflösungserscheinungen, die man für gemeinhin als Melancholie bezeichnet; Melancholie als Frage der Bildsprache. Auch Kostümbildnerin Marina Franco sollte nicht unerwähnt bleiben, denn die Kleider im Film sind schlicht spektakulär und ihre Farben tanzen ganz von selbst mit den Gefühlen der Figuren.

Warum so viel Enthusiasmus für das, was man von einem gewöhnlichem Melodram erwarten kann? Zum einen, weil es nicht viele klassische Melodramen gibt im internationalen Festivalkino. Zum anderen, weil Aïnouz mit seiner Adaption deutlich macht, dass das Unsichtbare entscheidend für das Melodramatische ist. Diese Lücke zwischen den Oberflächen eines gesellschaftlichen Lebens (Hochzeit, Kinder, Familie) und einer darunter liegenden Individualität wird immer von etwas angetrieben, das man gar nicht sieht. Indem der Film eine Schwester aus diesem „geordneten“ Leben verschwinden lässt, aber im Titel das Leben der anderen Schwester (die eigentlich und versteckt als Klavierspielerin lebt) als unsichtbar benennt, verbündet er sich mit den empathischen Mechanismen melodramatischer Erzählkunst.

Es ist schade, dass so viel formales Verständnis auf die unfertige Beobachtung trifft, dass eine Hinwendung an Frauenfiguren zwangsläufig mit einer Dekonstruktion von Männlichkeitsbildern einhergeht. Auch wenn insbesondere die Szenen mit Duvivier äußerst gelungen, bisweilen hochkomisch sind, fragt man sich doch, ob die bisweilen fehlende Ambivalenz wirklich notwendig ist, um diese Gefangenschaft zu erzählen. Es stimmt zwar, dass auch die Männer ihre zärtlichen Momente haben, unter dem Strich aber sind sie despotische Monster ohne Einfühlungsvermögen. Dadurch verkommt der Ausbruchsversuch der Eurídice Gusmão zu einer Heldinnengeschichte. Der Konflikt ist überdeutlich und entfernt sich von der im Film erzählten Realität.

Man kann die Tränen, die man heute im Kino vergießt, an einer Hand abzählen. Eher findet man die vertrockneten Tränen früherer Jahre auf den Kinositzen. Manchmal erinnert sich wer an eine Kinoszene, die Augen beginnen zu glänzen. Oft schämt man sich, wenn man doch überwältigt wird, weil die Mechanismen, die einem zum Weinen brachten allzu billig manipulierten. Wozu weinen, wenn man zynisch sein kann? Wie viel Tränenmittel muss ein Filmemacher in seine Filme streuen, damit die Augen der Zuseher etwas bemerken? Und wie weint man überhaupt? Muss man da pressen oder kommt es einfach so? Kann man leise weinen oder schluchzt man laut auf? Wie stark muss man den Filmemachern vertrauen, um vor ihnen zu weinen, um allein mit ihnen, vor dem Film, im Kino zu sein? Kann man weinen, wenn einen leuchtende Displays, das hungrige Rascheln einer Chipstüte oder eine penetrante Klimanalage die ganze Zeit daran erinnern, wo man sich befindet? Menschen, die über Filme schreiben, schreiben sie auch, weil sie nicht mehr weinen können?