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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Filmfest Hamburg Diary: Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt

Was ich heute gesehen habe:Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt/Wie das Surface einer digitalen Wünschelrute aussieht/Wie man ein Konzentrationslager in ein arrogantes Sensorium verwandelt

Bei meiner Ankunft in Hamburg lichtete sich der Nebel und ich musste endgültig feststellen, womit ich schon gerechnet hatte: Ich bin in Deutschland. Was das bedeutet, zeigte sich bei der Ausgabe der Tickets. Dort sagte man mir mit betont freundlichem, freundlich antrainierten, freundlich durchgehenden Ton, dass man, wenn man einmal Tickets für einen Tag reserviert habe, keine Möglichkeiten mehr habe, diese Reservierungen zu ändern oder gar neue zu machen. Von weiter hinten ertönte eine Stimme aus dem gewohnt heimeligen, an ein Gewächshaus (Filme sollen wachsen? Wir wachsen an und mit Filmen?) erinnerndes Festivalzelt: „Man muss eben planen.“, ich sage nichts, da ich Deutscher bin und genau geplant habe, aber der Mann neben mir hackt nochmal nach. Er fragt: „Aber warum geht das nicht?“, die Antwort: „Weil Sie dann schon ein Loch für diesen Tag auf ihrer Karte haben.“.

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Wenn man von Löchern spricht, dann ist auch Corneliu Porumboiu nicht fern, dessen Comoara mein zweiter Film auf dem Festival war. Porumboiu wird wieder etwas narrativer. Es geht – wie so oft, aber meist unbemerkt bei ihm – um eine Vaterfigur. Es geht um die Kraft der Illusion (die Liebe als Illusion, das Lieben von Illusionen und die daraus folgende Desillusionierung, very clever, aber das ist Porumboiu, come on. In seiner letzten Einstellung dreht er alles und man könnte alleine darüber Stunden diskutieren) und natürlich die Absurdität an sich. Porumboiu geht hier weitaus weniger formale Wagnisse ein wie in seinen beiden vorherigen Filmen Când se lasă seara peste București sau metabolism und Al doilea joc, aber sein Wagnis ist narrativer Natur, weil er sich im Bereich der Märchen aufhält, der Fiktionen…

Puh, das bringt mich irgendwie zum ersten Film des Filmfests Hamburg für mich: Saul fia von László Nemes. Ein polarisierender Film, ausgezeichnet von einer blinden Jury in Cannes mit dem Grand Prix derselbigen. Darin folgt man in einer aufgesetzten, extremen Nähe Saul Ausländer, einem jüdischen Mitglied eines Sonderkommandos in einem Konzentrationslager. Man ist immer in Bewegung und bekommt kaum Luft.  Es geht Nemes scheinbar darum, ein solches Lager fühlbar zu machen. Oft erleben wir die Massentötungen in einem unbequemen Off, wir hören beständig den Terror des Lagers, der sich solange als Realismus ausgibt, bis wir erfahren, dass er Effekt war, als er verschwindet, um andere Emotionen zu ermöglichen. Nein! Ich erinnere mich an Carl Theodor Dreyer, der gesagt hat, dass man verstehen muss, dass ein guter Filmemacher hört, was es in der Welt gibt, nicht was er gerade braucht. Und auch im Bild unterlaufen dem selbstsicheren Nemes einige Unsicherheiten in diesem arroganten Poserfilm. Das Problem ist, dass Unsicherheiten bei einer solchen Thematik schnell zum ethischen Verbrechen werden. Wiederholt verharrt die Kamera in möglichst spektakulären Einstellungen, bei denen Leichen im Bildhintergrund durchs Bild gefahren werden und das Off jetzt gar nicht mehr so Off ist, sondern nur so tut…und noch offensichtlicher sind die plötzlichen Point-of-Views, die Nemes hier einbaut, Gegenschüsse auf das Elend. Der erste Blick ist dabei natürlich bewusst gesetzt, er geht auf den Sohn, Sauls Sohn, ein Titel mit mehr Bedeutungsbenen als es visuelle Einfälle in diesem Film gibt, der für seine visuelle Innovation gelobt wird. Es ist ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts. Narrativ geht es dabei um eine Würde, die größer ist als das Überleben und die sich in einem untragbaren Lächeln am Ende des Films offenbart. Es ist ein untragbares Lächeln, weil es eine Verklärung ist. Genau wie vieles andere im Film sich nach fünf Minuten der visuellen Überrumpellung in ein erschreckendes Nichts auflöst. Es ist ein ganz ähnlicher Film wie der Kurzfilm With a little Patience von Nemes. Hier ist ein Filmemacher, der einer coolen Idee bis zur Schmerzgrenze folgt, statt sich um seinen Film zu kümmern. Was bleibt ist ein Film, in dem fast gar nichts passiert, kein Ton, kein Bild, kein Blick spielt eine Rolle. Alles schreit mich an, alles fordert mich auf, über die Idee nachzudenken, nichts fordert mich auf hinzusehen.

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Weiteres:

  • Im Programmheft geblättert…amüsiert: Fred Wisemans In Jackson Heights wird uns von fritz-kola präsentiert und natürlich – wie fast alle Filme – nur thematisch beschrieben. Danke fritz-kola dafür.
  • Beim Frühstück begegne ich Koreanern, die in kompletten HSV-Trainingsanzügen auftreten. Ich versuche ihnen zu kommunizieren, dass sie nach London fahren müssen. Sie verstehen mich nicht.
  • Man sagt mir, dass ich am besten in jede der drei Vorstellungen von Hou Hsiao-hsiens The Assassin gehe. Heute ist die erste.
  • Am Vorabend gab es auch noch Boi Neon von Gabriel Mascaro, der mir letztes Jahr mit August Winds sehr gut gefallen hat. Auch er ist in diesem Film etwas narrativer unterwegs und lange Zeit macht sein Film richtig Freude. Besonders sein Gefühl für Farben, Framing und Bewegungen ist auf einem hohen Niveau. Allerdings forciert er ein Genderissue anhand unterschiedlicher Personen derart deutlich, dass es selbst die Jury in Cannes gesehen hätte, wäre er dort gelaufen. Was wir bekommen ist ein Film, zu dem eigentlich nur der Titel The Lusty Men passen würde…Rodeo und Sex, Tiere und Menschen, Mann und Frau, alles verwischt hier zu einem surrealistischen Sog, der aus einer dokumentarischen Beobachtung entsteht. Mascaro ist nach dem Film auch da und erzählt so einiges über seinen – auch seiner Meinung nach gelungenen, einzigartigen – Film. Heute war mit Sicherheit nicht der Tag, der an sich zweifelnden Filmemacher…jedenfalls musste er auch Hand an einem Pferd anlagen, damit es der Schauspieler auch tut. Fragwürdig jedoch dann sein Schwenk in selbiger Szene, der den Orgasmus des Pferdes ins Off verlegt. Darüber muss man aber nicht wirklich diskutieren…