Filmfest Hamburg 2014: The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist einer jener Filme nach denen man nur schwer zu Wort kommen kann. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Film selbst komplett ohne Worte auskommt und ohne Untertitel, Voice-Over oder sonstige Hilfsmittel in Zeichensprache erzählt wird. Es geht darin um den Taubstummen Sergey der neu auf ein heruntergekommenes Internat für Taubstumme gelangt. Schnell kann er sich in der brutalen Welt dort durchsetzen und steigt in einem illegalen Ring von Geldeintreibung, Raubüberfallen und vor allem Prostitution ein, der vom Internat ausgeht. Gleichzeitig verliebt er sich in rauer Weise in eine der taubstummen Prostituierten. Was folgt ist ein Portrait einer gerade durch ihre Stille erdrückenden Gewaltspirale, die einem schonungslos in den Magen schlägt. Der Sieger der Semaine de la Critique in Cannes ist im Gegensatz zum Sieger der Un Certain regard Sektion ein Film über den man reden muss und reden wird.

Dabei vertraut der Ukrainer Slaboshpytskiy auf lange Plansequenzen, die sich oft gleich einer Musical-Choreografie in fließenden und körperlichen Bewegungen entfaltet. So begleitet die Kamera eine Gruppe der Jugendlichen in einem seitlichen Travelling. Sie sammeln sich, sie begrüßen sich und laufen formiert los. Ein durchkomponierter und fesselnder Rhythmus entsteht, der ob der fehlenden Worte den Blick herausfordert und damit die Kapazitäten und in gewisser Weise auch das Wesen des Kinos entblößt. Die Schlägereien, Raubüberfälle und Sexszenen sind eigentlich Tanzszenen. Der schonungslose Sozialrealismus bricht jegliche Ästhetik auf, aber im Kern bewegt dieser musikalische Motor den Film. Natürlich ist The Tribe kein Stummfilm. Immer wieder kommen flüsternde Geräusche aus den Mündern der Protagonisten und ständig hört man die Umgebung. Es ist dennoch gut, dass Slaboshpytskiy außer in wenigen Beispielen auf ein überstrapaziertes Sound-Design verzichtet. Denn die Möglichkeiten einer plötzlichen Lautstärke sind verlockend. Einmal muss sich eine Figur lautstark übergeben und dieses von ihrem Körper ausgehende Geräusch ist ein kleiner Schock. Vielmehr gibt sich der Regisseur das ein oder andere Mal unnötigerweise der Schwäche hin sehr deutlich zu zeigen, dass diese Figuren nichts hören und damit auch nicht wahrnehmen, was für uns äußerst grausam ist. Manchmal gibt sich der Film diesem Effekt zu sehr hin.

The Tribe 2014

Oft steht die Kamera auch lange an einem Ort und erstickt damit den Zuseher, dem die Kehle zugeschnürt wird, ob der unfassbaren Brutalität, die sich auf dieser Insel unter dem Radar dessen, was wir öffentliche Wahrnehmung nennen, hinrichtet. Nur einmal gibt es ein Verhör bei der Polizei. Dieses scheint aber keine Konsequenzen zu haben. Zumindest keine einschneidenden. Die Zeichensprache selbst ist für jene, die sie nicht beherrschen ein faszinierendes Rätsel. Immer wieder glaubt man, dass man verschiedene Zeichen erkennt, es ist eine Freude sie zu lesen wie ein Bild, wie das Kino. Statt Mitleid für seine wirklich taubstummen Darsteller zu evozieren, nimmt der Film eine Perspektive ein, die keine Perspektive kennt. Hier geht es nicht um den Blick auf ein Taubstummeninternat, hier geht es um die schrecklichen Dynamiken aus dem Inneren dieser Welt. Dabei erinnert der Film in der Mischung aus formaler Konsequenz und inhaltlicher Brutalität an Irréversible von Gaspar Noé und 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu. Mit letzterem eint ihn die Brutalität einer Abtreibung. Aber dort wo Mungiu die Grausamkeit dadurch entfaltet, dass er uns aus dem Zimmer ausschließt, liegt sie für Slaboshpytskiy im unerträglichen Draufhalten. Am Ende trifft er einen so hart, dass man kaum mehr hinsehen kann und endet dann im exakt hoffnungslosesten Moment.

Neben der Gewalt spielt auch die Sexualität eine maßgebliche Rolle. Sergey bezahlt seine Angebetete, damit sie mit ihm schläft und kommt ihr dann doch immer wieder nahe. Dies sind die einzigen Momente des Glücks im Film, die in ihrer Länge unheimlich zärtlich und intensiv dargestellt werden. Später jedoch wird sich die Gewalt mit der Sexualität verbinden bei Sergey. Gruppendynamiken in dieser Hölle erinnern an Picco von Philip Koch. Nur gibt es dort Erklärungen, Ausreden und verbalen Terror während wir in The Tribe gar keine Chancen bekommen, zu verstehen. Vielmehr müssen wir ertragen und versuchen, aus unseren Beobachtungen alleine zu schließen. Irgendwann fällt der Abstand der Kamera auf. Es gibt nur marginale Naheinstellungen, alles findet in der Entfernung statt. Eine Welt ist dazwischen. So entsteht ähnlich wie im nebeligen Letter von Corbitt Howard und Sergei Loznitsa eine Entfremdung aus einer anderen(???) Welt, die einen tief berührt und nicht mehr loslassen will.

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