Diagonale 2018: Aufbruch von Ludwig Wüst

Ich kenne Ludwig Wüst persönlich (wie wahrscheinlich die meisten, die in Österreich über seine Filme schreiben) und habe auch mit ihm an meinem neuen Film gearbeitet. Von daher kann ich diesen Text gar nicht schreiben, tue es aber trotzdem, weil ich es problematisch finde, dass ein Filmemacher, wenn er sich nicht leicht in Schubladen schieben lässt und wenn er prinzipiell einer der „Guten“ ist, das heißt unabhängig, frei, kinoliebend, scheinbar nicht wirklich besprochen werden kann. Zumindest bin ich überrascht, dass für mich offensichtliche Probleme des Films in kaum einer Besprechung angeführt werden. Entweder, so scheint es, hat man kein Interesse oder man lobt. Das ist auch deshalb schade, weil sich an Wüst und seinem Kino einige Arbeitsweisen dessen manifestieren, was man als Festivalkino bezeichnen kann oder muss. Aufbruch wurde mit viel Lärm von Wüst und seiner Produktion gestreut, im Forum der Berlinale gezeigt und nun eben auch in Graz. Ein Erfolg zweifellos, aber an was messen wir den Erfolg eines Films und aus welchen Gründen? Die Anerkennung ist ihm, seinem Team und seiner obsessiven Natur zweifellos zu gönnen, den Film muss man deshalb nicht mögen.

Einen ähnlichen Effekt hatte Wüsts Heimatfilm nach seiner Vorführung im Österreichischen Filmmuseum auf mich. Eine Vorführung, die ich in ihrer feierlichen und unkritischen Natur nicht nachvollziehen konnte, was dazu führte, dass ich mich mit Wüst traf, um ein „kritisches Gespräch“ über seinen Film zu führen. So ganz weit kamen wir nicht, weil ich ihn dann eben besetzte und wir fortan über anderes sprachen. Was aber hängen blieb aus diesem Gespräch ist, dass Wüst in einem solchen Maße an seinem ganz eigenen, individuellen Filmhaus baut, dass es schwer ist, ihn für seine Arbeit zu kritisieren. Bezüge und Selbstbezüge, Metaphern und konkrete Situationen ergeben ein kaum hinterfragbares Ganzes. Der Autor ist längst wichtiger als sein Werk.

Das Paradox daran: Wüst arbeitet gerne auch am Werk ohne Autor, etwa in seinem Das Haus meines Vaters. Seine Filmografie beginnt mit dem Entwurf und zieht sich fort in die entlegensten Zimmer. Er kann dabei machen, was er will, spürt man. Es ist eine Arbeit an sich selbst, an diesem Haus. Schließlich lebt er ja auch in seinem Haus. Der Punkt ist aber, dass auch dieses Haus Fenster hat. Und Fenster blicken nicht nur auf die Welt, sie erlauben Vorbeiziehenden auch einen Blick nach Innen. Wüst sucht diesen Dialog. Er sucht ihn so sehr, dass man sich manchmal nicht sicher ist, ob man beim Blick durch das Fenster wirklich noch selbst etwas entdecken kann oder ob selbst dieser Blick bereits gelenkt wird. Vieles bleibt für mich dabei in der Impulsivität eines Entwurfes stecken. In dieser Hinsicht ist der auf ein bewussteres Ziel zusteuernde Aufbruch sicherlich ein Schritt nach vorne.

Ein Versuch: Angelegt irgendwo zwischen den kontemplativen Regungen eines Lisandro Alonso, der Spiritualität von Abbas Kiarostamis Taste of Cherry und der Metaphorik von Jim Jamuschs Dead Man erzählt Wüst in seinem Roadmovie Aufbruch in erster Linie von sich selbst und von Wunden mit denen man geht oder bleibt. Es ist auch das Aufeinandertreffen des Filmemachers, der hier in der Hauptrolle zu sehen ist – wie er selbst sagt, zum ersten Mal – und Claudia Martini, die oft mit ihm zusammenarbeitete. Gleich zu Beginn eine dieser Szenen, die einen beeindrucken, ja überwältigen wollen. Ein donnernder Zug, bis zum Anschlag im Tondesign aufgedreht, davor Wüsts Figur, den ganzen Film über im Arbeitsanzug, nie ganz real, schreiend, was ist da los? Zum ersten Mal auch dieses andauernde Gefühl: Das habe ich schon so ähnlich gesehen. L’Humanité von Bruno Dumont in diesem Fall.

Sogleich ein erster Ansatz einer Auflösung, überraschend viel Psychologie aus dem Off, wie schon in Heimatfilm auch ein Spiel mit den Erwartungen des Zusehers, denn dieser etwas bemüht schweigsame Mann scheint nur ein Protagonist, wird im Lauf des Films mehr ein Begleiter, vielleicht ein Todesengel, eine Christusfigur? Claudia Martini ist seine Begegnung, sein nicht-klassisches Rendezvous, deren Vorgeschichte auch mehr und mehr entblättert wird, das heißt der Grund für ihr Alleinsein. Es entsteht eine Art Skelett für einen Sundance-Film: Ungleiches Paar fährt mit merkwürdigen Fahrzeug durch die Landschaft, um sich spirituell zu befreien. Nur die Stimmungen, die Wüst evoziert sind ungleich dunkler als jene in vergleichbaren Übersee-Pendants.

Man muss sich erst an diese disparaten Strategien der Szenenfindung gewöhnen. Hier das Schweigen, der kontemplative Modus der Stille, dort die Erklärung, die Dramaturgie, hier der plötzliche Ausbruch, dort das Innehalten, hier das Annähern an Figuren, dort die Distanz. Gegensätze sorgen natürlich für Spannungen und es ist stark mit welcher Präsenz Wüst Zeit und Raum auch mit Hilfe einer äußert sachten und bestimmten Kameraarbeit durch Klemens Koscher in seinen Bildern greifbar macht. Gleichzeitig aber wirken diese Gegensätze etwas haltlos im größeren formalen und inhaltlichen Rahmen des Films. So wirklich braucht es die Hintergrundgeschichten eigentlich nicht, um den eigentlich äußerst abstrakten Regungen der Figuren emotional zu folgen. Die plötzlichen Ausbrüche wie das Streichen eine Wand durch Martini lassen das Drehbuch vor dem geistigen Auge erscheinen. Man spürt nicht, dass der Grund für den Ausbruch aus den Figuren kommt, er entstammt vielmehr einer vorgefertigten Idee. Dieser Enthusiasmus an der Idee muss nicht schlimm sein. Man spürt etwas beinahe Rauschhaftes darin, die Freude am Kreieren, die Lust am Film. Aber eben auch die Freude an der Manipulation, die nicht immer treu mit Figuren und Situationen umgeht und im Zweifelsfall nach einer Attraktion, einem Effekt sucht.

Gerade in dieser Hinsicht finde ich den Begriff des Minimalismus, der in vielen Besprechungen des Films gebraucht wird, unpassend. Die Erzählweise ist geduldig, bisweilen langsam, aber nie reduzierend. Eher legt Wüst sehr viel in eigentlich kleine Szenen. Es entsteht beinahe ein kleines Kino der Attraktionen, etwa wenn Wüst uns zeigt wie er ein Kreuz aus Holz herstellen kann, wenn er in eine Mülltonne kriecht, wenn er und Martini Kartoffeln essen oder wenn er in einer sehr langen Sequenz eine Totenpassage auf einem Boot auf uns zukommen lässt. Ein 360-Grad-Schwenk als die unvermeidliche Katastrophe eintritt. Sind diese Bilder notwendige Bilder? Was erzählt uns Wüst darüber oder ist es nur die Lust am Filmen und Machen, die eigentlich auch mehr als genug ist? Warum sehen wir sehr oft Dinge, die Wüst kann?

Man hat das Gefühl, dass es um mehr gehen könnte. Zum Beispiel um das Sterben, die Passage ins Sterben, die mit einigen Symbolen (Stichwort: das Kreuz) signalisiert wird. Oder auch um die Einsamkeit und ihre kurzzeitige Aufhebung. Oder aber der der Film handelt von der Erinnerung und ihrer Auslöschung. Auch auf inhaltlicher Ebene also viele Gegensätze. Es liegt sicher nicht im Sinn des Filmemachers, dass man Aufbruch nur auf eine Art sehen kann und soll. Dennoch stellt sich die Frage, warum einzelne Szenen, Blicke und Situationen mit solchem Gewicht und einer beinahe schon penetranten Symbolik gefilmt werden, wenn der eigentliche Gestus Offenheit beinhaltet. Es gibt also einen weiteren, durchaus problematischen Gegensatz, jenen von Offenheit und dramaturgischer Manipulation. Das führt eben auch zurück zu Heimatfilm, in dem Wüst ebenfalls die Erwartungen des Zusehers täuschte und dabei nicht den spielerischen Gestus von, beispielsweise Orson Welles auf die Leinwand brachte. Alles soll möglichst tief sein, aber bleibt auch immerzu ein Spiel.

Der Eindruck verhärtet sich, dass Wüst in seinem Kino Erfahrungen generieren will, sich dabei aller Mittel des Kinos bedient, aber beständig Offenheit in seinem Umgang mit formalen und inhaltlichen Elementen forciert. Anders formuliert: Alles tut immerzu so, als wüsste es genau wohin es will und gleichzeitig wird vorgegeben, dass alles ganz unbedarft passiert. Ein wenig so, als würde Alfred Hitchcock ohne Drehbuch arbeiten. Es entsteht das Bild einer Präzision im Niemandsland oder aber auch eines Treibens durch dramaturgische Markierungspunkte. Vielleicht ist all das eigentlich ein verstecktes Kompliment, man könnte es so lesen. Nur so ganz will dadurch nichts aus Aufbruch oder auch Heimatfilm hängen bleiben. Eine Haltung, ein Gewissen zu all den genannten Gegensätzen bleiben im Nebel des Beeindruckens verharrend. Erkennbar wird nicht das Allgemeingültige, das Wüst in der Offenheit seiner Gegensätze bemüht, sondern letztlich etwas schwammig-persönliches, das die Leinwand als Arbeit am Ich begreift und dadurch zu selten etwas zeigt, zu selten tatsächlich ein Fenster wird, sondern eher ein Spiegel, eine endlose Fahrt ins Innen des eigenen Kinos. Was dabei fehlt, ist weniger die Kraft von Bildern und Tönen und mehr der Bezug zur Welt. Aber wohin anders würde ein Aufbruch führen?

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