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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Der beinahe ruhige Abend des Hernández Hernández in Madrid

Alejandro José Hernández Hernández, geboren 1982 auf Lanzarote, zu einer Zeit, in der dort 61000 Seelen lebten (heute gibt es 71000 Touristenbetten) verbrachte, wie man so sagt unter Fußballkommentatoren, einen ruhigen, beinahe quälenden Abend im Estadio Alfredo Di Stéfano im Viertel Valdebebas im Nordosten der spanischen Hauptstadt Madrid in der durchaus dystopisch benannten „Ciudad Real Madrid“. Dabei hätte es durchaus einen Anlass zum Feiern gegeben, wenn auch nicht für Hernández Hernández, denn das gewohnt in Weiß auflaufende Real Madrid sicherte sich mit dem Sieg über den als gelbes U-Boot bezeichneten Fußballclub aus Villareal zum 34. Mal die Meisterschaft in der Spanischen Liga. Zumindest ein wenig mehr Pulsschlag, ein bisschen mehr vom üblichen Lärm der professionellen Fußballfelder, auf denen Hernández Hernández seit 2004 in eine Pfeife gepfiffen hat, um damit sein Geld zu verdienen, hätte er bestimmt erwartet.

Hernández Hernández gilt in Madrid eigentlich als Unglücksbringer, von den zehn Partien zuvor, die der eigentlich unscheinbare, so gar nicht iberisch daherkommende, recht eckige, blondhaarige Herr mit den an manch Polizisten erinnernden Frisurphänomen schnittiger Geheimratsecken pfiff, hat der arrogante und doch bewundernswerteste Fußballverein, zu dessen berühmtesten Anhängern Javier Marías und Rafael Nadal gehören, nur zwei gewonnen. Vor dem Spiel wurde Hernández Hernández deshalb gar als größte Bedrohung für die beinahe sichere Meisterschaft bezeichnet. Wahrscheinlich zurecht, wenn man die restlichen Gegner des königlichen Vereins mit der faschistischen Vergangenheit oder die fehlende Form des ewig Konkurrenten aus Barcelona betrachtete.

Zumindest dem Gebaren nach wollte der Schiedsrichter, der sich in den Sozialen Netzwerken verstärkt für den Tourismus in seiner kanarischen Heimat einsetzt (Bilder des Ozeans, der Vulkanlandschaften geteilt von Tourismusagenturen) diesem Image gerecht werden: er trug ein feuerrotes Trikot gesponsert vom spanischen Verband und der Würth-Gruppe aus dem ostfränkischen Künzelsau, klopfte umgeben von nervösen, maskentragenden Offiziellen seinem glatzköpfigen Assistenten im Spielertunnel derart wild auf die Brust, dass man meinen konnte, er verwechsle den guten Mann mit einer Trommel. Dann stand er da und wartete…Hände in den Hüften, am Hosenbund die Spraydose, mit der er im Fall der Fälle weiße Linien auf den grünen Rasen malen sollte, als plötzlich der ganzkörpertätowierte Hipster-Kapitän des weißen Balletts (so nennt man den Verein unter anderem, wenn man müde wird, von den Königlichen oder Galaktischen zu sprechen) auf ihn zutrat, um ihn mit herzlichem Bart und festem Händedruck zu begrüßen.

Ein Bild aus schlimmeren Zeiten zwischen Hernández Hernández & Kapitän Ramos

Da standen also U-Boote und Ballerinas im Tunnel, der rote Würth-Mann fuchtelte wild herum, die lebende Trommel wartete auf den Gong, der das Spiel eröffnete. Draußen warteten einige Pixel in den Tribünen, denn in Spanien hat man sich dafür entschieden, die fehlenden Fans mit eingespielten Gesängen und an frühe Videospiele erinnernde Grafiken von Zusehern zu ersetzen. Der Anblick könnte trostloser und billiger nicht sein. Trotzdem war es bemerkenswert, dass dieser sogenannte Kapitän den bedauernswerten Hernández Hernández begrüßte, schließlich hatte der in Fußballkreisen gefürchtete, gehasste oder vergötterte Ramos vor nicht allzu langer Zeit recht beleidigt in ein Mikrofon gesprochen: „Ich verstehe Hernández Hernández nicht.“ (es sei bemerkt, dass die schiere Präsenz von Ramos deutlich interessanter zu beobachten war, als große Teile des Spiels, was eigentlich für die gesamte Saison von Real Madrid gilt).

Kurz darauf begegneten sich die beiden wieder als Hernández Hernández eine Münze in die Luft warf und wieder auffing, um zu bestimmen, wer zuerst mit dem Ball spielen darf und vor allem, in welche Richtung. Dabei dudelte die Vereinshymne von Madrid und erinnerte irgendwo in der „Ciudad Real Madrid“ an die Lautsprecherdurchsagen und Trauermärsche bei Stalins Beerdigung in einem wie leergefegten Dorf, in dem alle auf den Feldern schufteten, weil der Gestorbene das so verlangte. Die Sonne, die sich wie jeder vernünftige Mensch nach und nach vom Spiel abwandte, hätte blenden können, deshalb galt es die Spielrichtung sorgfältig zu wählen (es gibt zwei Möglichkeiten, man spielt entweder in die eine oder in die andere Richtung), was den zigtausenden virtuellen Fans nichts ausmachte, weil sie Sonnenbrillen mitbrachten. Bei genauerer Betrachtung war die Haut von Hernández Hernández etwas rötlich, die vielen Stunden in der Sonne waren dem Mann in den letzten Wochen offenbar nicht besonders gut bekommen und das obwohl ihn der spanische Verband auch gerne als sogenannten Video-Assistent-Referee einsetzt, also vor einigen Bildschirmen in irgendeinem Container sitzend. Was er von dieser, für Schiedsrichter doch recht neuen Aufgabe hält, zeigte Hernández Hernández später.

Der Ball wurde bewegt, man lief recht gelangweilt auf und ab, ab und an durfte Hernández Hernández in seine Pfeife pfeifen und so ging der Abend langsam in die Nacht über. Madrid bog, wie man im Jargon des Sports und der Politik so gern sagt, auf die Siegerstraße ein, der Verkehr dort war äußerst ruhig, keine U-Boote kamen entgegen, selbst Hernández Hernández, der streckenweise von den Stränden Lanzarotes träumte und sich in der aufregenden Architektur César Manriques wähnte, verlor jegliche Lust auf Bedrohlichkeit, ja Fußball an sich. 1982, als er geboren wurde, gab es gerade mal neun Hotels auf Lanzarote, seine Eltern hätten in diese Branche einsteigen können, sie hätte ihm helfen können, etwas aus sich zu machen, aber nein, Hernández Hernández juckte es am Arm, weil er seit Wochen durch Spanien tingelte, um in eine Pfeife zu pfeifen oder mit weißem Schaum auf die Wiese zu sprühen. Immerhin, mögen manche sagen, es hätte schlimmer kommen können, er hätte weißen Schaum vor dem Mund oder seine Pfeife verschluckt haben können.

Für einen Sport, der davon lebt, dass er als größer wahrgenommen wird, als das eigentliche Leben, ist diese durch das Fehlen des Publikums entlarvte Belanglosigkeit, dieser robotergleiche Modus einiger austrainierter Athleten untragbar. Die mechanische Zufallslosigkeit, in der Bayern München in Deutschland den Titel gewann, wurde von Real Madrid noch einmal übertroffen. Die Spieler von Trainer Zinedine Zidane, der als Spieler zu den elegantesten Kickern aller Zeiten zählte, extrahierten jegliche Ästhetik aus ihrem Spiel. Alles was sie taten, war gewinnen. Für wen, konnte man nicht sehen, wie, war egal. Nach dem Spiel sprangen sie etwas durcheinander, man schoß Fotos und freute sich. Jeder durfte den Pokal einmal halten und lächeln. Für die Familie und Instagram: ein Bild wie ich einen Pokal halte vor leeren Rängen. Gäbe es in Spanien Hauspoeten bei den Fußballvereinen, wie dies bei manchen englischen Clubs der Fall ist, wäre ihnen in den letzten Wochen in der „Ciudad Real Madrid“ die Sprache verloren gegangen.

Aber es gab zwei Menschen auf dem Platz, die gegen diese unerreichte Trockenheit und Banalität der folgenden Meisterschaft etwas einzuwenden hatten: Hernández Hernández und sein alter Freund Kapitän Ramos. Nach etwas mehr als 72 Minuten, als alle Kinder, die es mit Madrid halten und daher extra länger aufbleiben durften, um beim großen Spiel dabei zu sein, friedlich eingeschlafen waren und wahrscheinlich für immer ihre Lust am Fußball verloren hatten, stürmte der bärtige Königliche, der eigentlich aus Andalusien kommt, quer über den Platz, um sich mit einem beherzten Hecht auf den Boden fallen zu lassen. Hernández Hernández, der nicht mit einer derartigen Tempoverschärfung rechnete, befand sich ungefähr dreißig Meter hinter dem Geschehen, sein Kreislauf muss sich so angefühlt haben, als wäre er zu schnell aufgestanden. Aber als er denn erwachsenen Mann im Gras rollen sah, konnte er seine Freude kaum verbergen: Endlich, ja endlich würde er pfeifen dürfen. Er pfiff so laut es ging und deutete mit seinem rötlichen Arm auf einen weißen Punkt, der sich 11 Meter vor dem Tor des nach wie vor nicht am Spiel beteiligten gelben U-Boots befand.

Ramos wurde von seinen Mitspielern geküsst, Hernández Hernández sprach in sein Headset, von dem man nicht weiß, ob er es aus Hygienegründen selbst zu den Spielen bringt oder ob er jedesmal ein Neues bekommt oder ob es einfach desinfiziert wird und immer an den jeweiligen Spielorten bleibt. Als die Wiederholungen über die Bildschirme flackerten, hörte man bei einem Herrn, der schon die ganze Zeit zu nahe an einem der Außenmikrofone im totenstillen Stadion saß, schallendes Gelächter. Man spricht von einer Schwalbe, was sowohl dem Vogel als auch dem nach ihm benannten Fahrradreifen unrecht tut, denn nichts fliegt so unecht wie ein Fußballer, der einfach fällt. Während alle im Stadion und jene vor den Fernsehgeräten, die aufgrund des plötzlichen, in Spanien üblichen Geschreis des Kommentators erwachten, sicher waren, dass der Elfmeter mit Hilfe des Video-Assistent-Referees zurückgenommen werden würde, instruierte Hernández Hernández mit militärischen Gesten dem Torhüter von Villareal wie er sich zu verhalten habe. Hernández Hernández malte eine Linie in die Luft, genau so wie er es hunderte Male vor dem Spiegel übte. Dann griff er sich ans Ohr: Funkkontakt! Während er zuhörte, was ihm seine Kollegen vor den Bildschirmen erzählten, juckte es ihn wieder am Unterarm, diesmal unter seiner Uhr, wo sich trotz der Langeweile doch erheblicher Schweiß gesammelt hat. Hernández Hernández ging auf und ab, er sah den heute so herzlichen Kapitän Ramos und mit einem mal erklärte er mit einem weiteren, in seinen Ohren wundervoll tönenden Pfiff, dass es tatsächlich Elfmeter gäbe.

Man hatte gar keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn Kapitän Ramos hatte noch ein besonderes Geschenk für Hernández Hernández parat. Als er den Pfiff hörte, nahm er einen gewohnt stotternden Anlauf in Richtung Ball (ganz so als würde die Grafik hängen, was sich bei einem prüfenden Blick auf die Zuschauerränge aber als unwahrscheinlich herausstellte) holperte er mehr Richtung Ball, vielleicht auch wie ein Hund, der den Ball überraschen will, obwohl sowieso jeder sieht, dass er kommt, nun ja, was passierte: er schoß nicht selbst, sondern stupste den Ball nur an, sodass sein ganz aufgeregt von hinten anrennender Spielerkollege Benzema einschießen konnte. Diese Art einen Elfmeter zu schießen, ist äußerst selten und etwas demütigend für den Gegner. Oftmals wird sie auf Johan Cruyff zurückgeführt, der 1982 bei einem Spiel mit Ajax Amsterdam auf seinen Spielerkollegen Jesper Olden ablegte, der dann sogar noch einmal zurückspielte, ehe Cruyff den Ball ins leere Tor beförderte. Allerdings hatten Rik Coppens und Andre Pitters beim 8:3 der belgischen Nationalmannschaft gegen Island bereits 1957 auf diese Methode zurückgegriffen.

Sieht man sich Beispiele dieser Elfmetertechnik an, fällt auf, dass fast alle gegen die Regeln verstoßen, weil der von hinten heranstürmende Mitspieler oft bereits im Strafraum steht, wenn der Ball berührt wird, was verboten ist. So auch Benzema, der sich im Urlaub gern mit einer goldenen AK-47 auf dem Schießstand präsentiert und aufgrund einer Erpressungsgeschichte rund um ein angebliches Sexvideo eines Mitspielers für Lebzeiten aus der französischen Nationalmannschaft ausgeschlossen wurde. Hernández Hernández, der jeden Abend vor dem Schlafengehen das Regelbuch studiert, wusste genau wie zu handeln war. Mit nach vorne gelehntem, bis ins kleinste Äderchen angespanntem Körper hatte er der Ausführung des Elfmeters beigewohnt und hatte gesehen wie Benzema zu schnell einlief. Ein klarer Fall: Wiederholung. Hernández Hernández war so aufgepumpt mit Adrenalin, dass er den imposanten Ramos gar wegschubste, ja wie seinem glatzköpfigen Assistenten auf die Brust trommelte, um allen alles zu erklären: 1. Lanzarote ist schön und alle sollten dort Urlaub machen. 2. Wenn ich pfeife, dann pfeife ich. 3. Gegen Hautreizung hilft Ringelblumensalbe.

Hernández Hernández hatte alle Mühe den aufgeregten, sich ungerecht behandelt fühlenden Männern aus Villareal zu erklären, dass sie nun aus dem Strafraum treten mussten, damit der Strafstoß wiederholt werden würde. Der Elfmeter wurde diesmal regelkonform verwandelt, Benzema schoß gleich selbst und er brauchte dafür keine Waffe, sondern nur seinen Fuß. Kapitän Ramos grinste und Hernández Hernández, der später im Spiel tatsächlich noch einen Treffer von Madrid zurücknahm, als er von seinem Video-Assistant-Referee auf einen Fehler aufmerksam gemacht wurde, ging am Ende zufrieden vom Platz. Er hatte gepfiffen, er war gelaufen, die frische Luft, die herrliche Ruhe in Valdebebas und am allerbesten: am Abend erfuhr er, dass er am kommenden Sonntag, dem letzten Spieltag als Video-Assistant-Referee eingesetzt wird, also nicht mehr der Sonne ausgesetzt sein muss.