Berlinale 2017: Vazante von Daniela Thomas

Eine Ranch tief im brasilianischen Hinterland, Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein kleines Stück Zivilisation im Dschungel. Eine Frau liegt in den Wehen. Wenige Stunden später ist sie tot, das Kind ebenfalls. Während dieses Drama seinen Lauf nimmt kämpft sich Antonio, der Vater und Ehemann mit neuen Vorräten und Arbeitssklaven durch die Wildnis. So unheilvoll dieser Auftakt wirkt, im Laufe der nächsten zwei Stunden werden die Ereignisse der ersten paar Minuten von Daniela Thomas‘ Vazante in ein neues Licht gerückt, gewinnen an Normalität. Die monochromen Bilder enthalten dem Zuschauer die Farbenpracht des brasilianischen Regenwalds vor, kleiden das Herrenhaus und die Hütten der Sklaven gleichermaßen in dröges grau. Im Grau sind sie alle vereint in ihrer Perspektivlosigkeit.

Kurz zusammengefasst, könnte man Vazante als einen Film über Sklaverei und Kolonialismus beschreiben, doch wäre das einerseits zu kurz gegriffen und würde andererseits falsche Vorstellungen über die Beschaffenheit des Films hervorrufen. Sklaverei versteht der Film nicht nur als etwas, dass es einer kleinen weißen Herrscherklasse erlaubt auf dem Rücken der Schwarzen Profite zu scheffeln, sondern als eine Form von Gesellschafts-, Lebens- und Leidenskonzept, dass sich filmisch wie jede andere Alltagswelt durch Beobachtung erschließen lässt. Anders als etwa ein gewisser Oscar-Preisträger vor wenigen Jahren, der versuchte durch exzessive Gewaltdarbietungen die Geschichte der Sklaverei in den USA aus einer rein schwarzen Leidensperspektive zu erzählen, nähert sich Thomas ihrem Gegenstand über einen Umweg. Im Zentrum des Films stehen die wenigen Weißen, die auf der Ranch leben. Antonio und seine Schwiegermutter im Haupthaus, sein verarmter Schwager samt Familie in einem kleineren Haus etwas abseits. Die Beobachtung des häuslichen Lebens lässt schon nach kurzer Zeit deutlich werden, dass sich die vermeintlich überlegene Klasse in ihrem Verhalten kaum von der unterlegenen abhebt. Nach dem Tod seiner Frau sucht sich Antonio eine der schwarzen Sklavinnen als Mätresse, liebend gern läuft er ohne Schuhwerk über morastige Waldwege und auf der Suche nach einer neuen Braut wird er bei der Nichte seiner verstorbenen Gattin fündig, deren junges Alter zu einigen unangenehmen Momenten führt. Immerhin vergnügt sich Antonio auch nach der Hochzeit weiterhin mit seiner Lieblingssklavin solange seine neue Frau Beatriz noch nicht geschlechtsreif ist.

Vazante von Daniela Thomas

© Ricardo Teles

Beatriz wird schließlich die tragende Figur des Films. Zunächst wirkt die Hochzeit mit Antonio wie ein Hoffnungsschimmer, um dem ärmlichen Leben zu entfliehen, dass ihr durch ihre familiäre Herkunft vorgegeben war. Doch der Schein trügt, denn die neu gewonnene Stellung muss sie mit totaler Isolation bezahlen. Nach der Hochzeit geben die Eltern das Haus auf der Ranch auf und ziehen zusammen mit der älteren Schwester in die nächste Stadt. Während Antonios Besorgungen in der Stadt bleibt Beatriz allein mit ihrer senilen Schwiegermutter zurück. Obwohl sie standesmäßig die Herrin des Hauses ist, versucht sie die Sklavenkinder als Spielkameraden zu gewinnen. Diese Doppelrolle als Kind und Gebieterin, das Ausgeliefertsein an die schwarzen Sklaven, die die Ranch bewirtschaften und das Haus instandhalten, offenbart eine Bitterkeit im Leben aller Beteiligten, die ausweglos, unumstößlich und barbarisch ist. Weniger aus expliziten Szenen von Gewalt, sondern aus nüchterner Figurenbeobachtung gewinnt Vazante seine Brutalität.

Die Ausweglosigkeit ist das zentrale Motiv dieses Films und zunächst wörtlich zu nehmen. Die Ranch liegt am Ende des Pfades, sie ist die Sackgasse der Zivilisation. Filmisch wird diese Isolation beschrieben, indem immer wieder die Übermacht des Dschungels gezeigt wird, gegen den die Zivilisation kaum ankommt. Der Wald kann mit Feuer gerodet werden, der Boden bewirtschaftet, aber Zukunftsperspektiven entstehen dadurch nicht, das Leben endet am Waldrand. Deshalb klammert man sich an das bisschen Kontrolle und Sicherheit das man hat. Die Weißen verfügen über die Schwarzen; sobald Schwarze an Macht kommen, wie etwa der Landwirtschaftsspezialist Jeremia oder die Haussklaven Joana und Porfirio verhalten sie sich ähnlich, versuchen den Weißen nachzueifern.

Auch diese Anpassung des Verhaltens zeugt in letzter Konsequenz von der Brutalität des kolonialistischen Systems. Frantz Fanon hat geschrieben, dass dem Schwarzen zwei Wege offenstehen, die beide für ihn nicht zufriedenstellend sein können. Entweder er versucht sich eine „weiße Maske“ aufzusetzen, sich möglichst gut zu assimilieren und dadurch seine eigenen Wurzeln, seine eigenen Traditionen aufzugeben, während er durch seine Andersartigkeit (seine Hautfarbe) trotzdem nie als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft akzeptiert werden wird; oder aber er lehnt alles Weiße ab, versucht eine eigene schwarze Gegenkultur zu gestalten, die sich auf Augenhöhe mit der weißen Leitkultur messen möchte und marginalisiert sich auf diesem Weg selbst. Es ist ein zutiefst vertracktes Dilemma, dass sich nicht einfach lösen lässt durch einen Richterspruch oder eine neue Gesetzgebung. Nichts würde die Abschaffung der Sklaverei auf dieser Ranch ändern, nichts würde sich am Elend der Schwarzen, an der Abhängigkeit der Weißen und ihrer beider Perspektivenlosigkeit verändern.

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