P.S.

Peter Schreiner war ein ruhiger Mann. Man könnte fast sagen, er war still. In Gesprächen mit ihm fiel mir vor allem die Sanftheit seiner Stimme auf. Er war ein sensibler, empfindlicher und empfindsamer Mensch. Ungerechtigkeiten und Missstände, die wir oft nur als “Nachrichten” wahrnehmen, schmerzten ihn zutiefst. 

Kein Wunder, dass ein solcher Mann, auch sensible Filme gemacht hat. Der Versuch, sie zu beschreiben erscheint den Filmen gegenüber ungenügend. Als ob sie an den falschen Worten zerbrechen könnten. Es sind keine Filme der Worte, wenn auch in manchen seiner Filme einiges gesprochen wird. In seinem Film Garten beispielsweise berichten die Figuren von vergangenen Verletzungen. Oftmals sind ihre Worte nicht synchron zum Bild, sondern wir hören sie in einer Art Voice-Over. Währenddessen tauchen sich die Bilder des Filmes in Dunkelheit, sie bewegen sich durch einen fast abstrakten Raum aus Blättern, Gesichtern und Nacht.

Diese Bilder (und Töne) sind oft ganz groß, obwohl sie nie bombastisch oder grandios sind. Dass sie einen dennoch bewegen, zeigt die Feinfühligkeit der Filme. Eine kleine Geste, die kleinste Bewegung der Kamera oder der Personen und Gegenstände im Bild, ein sanfter Ton: sie bekommen Raum in den Filmen von Peter Schreiner. Ihnen wird geduldig Zeit gegeben, sich zu entfalten. In Schreiners Filmen, dürfen Bilder erst einmal für sich selbst stehen. Sie werden nicht sofort nach ihrem Informationsgehalt oder ihrer narrativen Wirkung gewertet und hinterfragt. Unsere Aufmerksamkeit verdienen sie einfach durch sich selbst. 

Vor allem in seinen frühen Filmen steht jede Einstellung für sich. Die Filme befinden sich im Hier und Jetzt. Es fühlt sich fast so an, als ob Schreiner die Filme ebenfalls von Sekunde zu Sekunde entdeckt, sowie auch wir es tun, wenn wir die Filme sehen. Manchmal drohen sie dabei fast zu zerfallen: Ist die Summe größer als die einzelnen Teile? Das ist nicht immer ganz klar. Doch es liegt eine große Schönheit darin, sich mit Offenheit auf das einzulassen, was Schreiner mit seiner Kamera entdeckt hat. Wie in den Filmen der Lumières, oder Peter Huttons könnten seine Filme nach fast jedem Bild enden. Doch man sitzt und hofft, dass es noch ein weiteres Bild geben wird. Es ist eine Form von Aufmerksamkeit, die für das Kino gedacht ist.

Peter Schreiner war immer auf der Suche danach, mit seiner Kamera wirklich etwas zu sehen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er sie wiederholt auf dieselben Gesichter richtete: um sie wirklich zu sehen. 

Die Filme von Peter Schreiner, das sind auch Filme voller Leben. Er hat das Leben und die Welt gefilmt. Manchmal war er selbst Teil dieser gefilmten Welt, manchmal waren es andere Menschen. Öfters filmte er nicht nur das Leben sondern sein Leben. Das heißt nicht unbedingt, dass die Filme autobiographisch oder dokumentarisch sind (obwohl sie meist so bezeichnet werden in Texten und Festivalkatalogen). Die Intimität vieler seiner Filme hat sie nie einfach nur privat (im Sinne von home movies) gemacht. Wenn er die Gesichter derer gefilmt hat, die er geliebt und geschätzt hat und die ihn fasziniert haben, dann war da immer eine Begegnung mit der Welt und dem/der/den Anderen

Seine Filme waren bevölkert von den Menschen, den Orten und den Begebenheiten seines Lebens. Als Peter Schreiner die Liebe suchte, taten das seine Filme auch. Nachdem er seine Frau Maria kennenlernte, strahlen seine Filme in jedem Moment, in dem sie auftaucht, vor Freude. Als Peter Schreiner Italien für sich entdeckte und erkundete, tat er das auch mit der Kamera. Und so wurde das Land immer präsenter in seinen Filmen. Nachdem er an Krebs erkrankte, richtete er die Kamera wieder auf sich selbst und zeigte das Leben mit und trotz der Krankheit.

Film und Leben gingen für ihn immer Hand in Hand. Das Eine erfüllte und durchflutete das Andere. Wenn man sich das vor Augen führt, kann man wohl erst begreifen wie groß seine Enttäuschung gewesen sein muss, als Blaue Ferne kaum Aufmerksamkeit erfuhr. Schreiner zog sich aus dem Kino zurück und machte 10 Jahre lang keinen Film mehr. Und doch kehrte er zurück. 

Filme gut zu machen war ihm wichtiger als “gute Filme” zu machen. Es ging ihm darum, ein gutes Leben zu führen. In diesem Leben spielte die Filmkamera eine Rolle. Sie legte Zeugenschaft über das gut geführte Leben ab. Sie war nicht wichtiger als das Leben. Das Filmen stand nicht über dem Leben, sondern war Teil davon. Peter Schreiner erzählte gerne, wie er zum ersten Mal seinen Sohn filmte. Er sprach von der Angst, die er verspürte, als er dieses große mechanische Gerät über diesem kleinen Säugling aufbaute. Die Angst davor, dass die Kamera umfallen und den Jungen verletzen könnte. Doch es geschah nichts dergleichen, denn Peter Schreiner filmte seinen Sohn mit großer Vorsicht, sowie er alles in seinem Leben filmte: Familie, Freunde, Wüsten, Bäume, Wasser, Wind, Küsse, Schmerzen,  Kinder, Liebe, Krankheit,… 

Er hat gefilmt, solange er dazu imstande war. Für seinen letzten Film Tage war es ihm nicht mehr möglich, komplexe Kamerafahrten oder -bewegungen auszuführen. Das Bewegen des Stativs und das Einrichten eines Bildes kosteten ihm viel Kraft. Aber er tat es trotzdem, denn er hat das Filmen geliebt. 

Bis zum bitteren Ende – Notiz zu 3 Einstellungen in Matter out of Place von Nikolaus Geyrhalter

Wir befinden uns in einer großen Halle. Große Mengen an Müll werden auf Fließbändern transportiert und von riesigen Greifarmen durch die Luft getragen. Matter out of Place von Nikolaus Geyrhalter ist kein Film, der seine Drehorte durch erklärende Titel einführt oder näher beschreibt. Dennoch bin ich mir recht sicher, dass ich eine Müllverbrennungsanlage sehe. 

1: Die Kamera ist frontal nach unten gerichtet. Sie filmt eine Art Müllpresse. Während ich den Film ansehe, denke ich mir nicht viel dabei, doch nachher merke ich, dass ich den Begriff für diese Maschine nicht kenne. Sie kommt mir bekannt vor, ich würde nie darüber nachdenken ihren Namen zu kennen, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, sie in einem Text zu erwähnen. Ich muss mich also auf die Suche nach einem Begriff für das, was ich sehe, machen. Die Maschine scheint mir ein sogenannter Zweiwellenschredder zu sein, oder eine Rotorschere.

Der Schredder wird direkt von oben gefilmt. Die schraubenähnlichen Elemente des Schreiers drehen sich. Noch befindet sich kein Müll darin. Wir werden nur mit der Funktionsweise des Geräts vertraut gemacht. Die Einstellung dauert nicht lang.  

2: Aus derselben Perspektive sehen wir nun, wie viel Müll in den Schreier geleert wird. Es befinden sich die verschiedensten Gegenstände in diesem Haufen, den man jetzt aber nur noch als “Müll” identifiziert, aufgrund des Kontexts und der Mischung dieser Objekte. Ich erblicke unter anderem eine Matratze, Sessel, eine große durchsichtige Plastikschachtel, eine Hose,… . Der Müll verschwindet jedoch nicht einfach in kurzer Zeit. Die Gegenstände bewegen sich immer wieder auf und ab. Sie wabern vor sich hin. Die Einstellung dauert zuerst Sekunden, bald schon Minuten. Beharrlich wird dieser von oben gefilmte Haufen kleiner. Obwohl wir den Schreier darunter noch nicht sehen, verstehen wird durch die Bewegung des Mülls, dass der Schreier immer wieder anhält. Die Rotorscheren bewegen sich stetig in entgegengesetzte Richtungen. Sie drehen sich zueinander, werden angehalten, drehen sich voneinander weg, werden wieder gestoppt und drehen sich wieder zueinander. In mir kommt eine gewisse Freude auf. Je länger die Einstellung draufhält, desto klarer wird mir: Wir werden dem Müll bis zum bitteren Ende dabei zusehen, wie er zerkleinert und vernichtet wird. Die Länge des Prozesses wird nicht verfälscht. Wir sollen spüren was für ein Aufwand es ist, den ganzen Müll, den wir erzeugen, auch zu beseitigen. Jeder einzelne Gegenstand muss durch diesen Schredder durch. Das erscheint mir eine konsequente, richtige Entscheidung des Filmemachers zu sein. Mittlerweile ist der Zweiwellenschredder schon wieder recht gut zu sehen. Es sind nur noch ein paar Gegenstände darauf zu sehen, die durch die immer abwechselnden, gegensätzlichen Drehungen der Rotorscheren weiter zerstückelt werden. Doch dann endet die Einstellung noch bevor der ganze Müll zerkleinert wurde. 

3: Eine Einstellung, die auf eine unbestimmbare Masse auf Augenhöhe gerichtet ist. Das Material brennt. Flammen füllen die Leinwand. Es muss sich um die eben gesehenen Gegenstände handeln, die nun völlig zerstört nicht mehr als Objekte erkennbar sind. Es ist nur ein undefinierbarer Haufen Materie. In meinem Kopf bin ich noch beim Zweiwellenschredder und denke die Einstellung von davor zu Ende. 

The Spirit New Sensation Takes Hold: Be tartib ya bedun-e tartib? von Abbas Kiarostami

Bevor Abbas Kiarostami mit Khane-ye dust kojast zu einer festen Größe im internationalen Festivalkino aufstieg, drehte er für das Institute for the Intellectual Development of Youth (eine offizielle deutsche Übersetzung gibt es nicht) Filme für die Bildung und Erziehung von Kindern. 

Die dort entstandenen Filme haben oft einen erkennbar erzieherischen Impetus. Didaktische Konzepte werden mit einfachen Erzählmustern aufgelöst. Warum ist es besser, einen Streit mit Worten zu schlichten als mit Fäusten? Weil bei der zweiten Variante so viel kaputt geht! 

Be tartib ya bedun-e tartib? arbeitet ähnlich. Doch in diesem Film schleicht sich ein widerständiger Geist ein, der immer enormer wird und schließlich die Prämisse des Filmes selbst offenlegt und widerlegt.

Der Film zeigt uns einige Szenen in zwei Variationen. Einerseits sehen wir geordnete Abläufe. Dann sehen wir dieselben Momente wieder, aber diesmal in ungeordneter Manier. Es handelt sich um ganz einfache Situationen, die Kiarostami zeigt: Kinder verlassen das Klassenzimmer und das Schulgebäude. Sie gehen zum Wasserspender im Pausenhof. Sie steigen in den Schulbus. Immerzu sehen wir: geordnet läuft alles gut ab, ohne Ordnung dauert alles länger und geht kaputt. Auf der Metaebene jedoch stellt der Film diese Struktur in Frage. Das erste Bild zeigt eine Filmklappe. Sie enthält folgende Information: “Geordnet, Einstellung/Szene 1, Take 1”.  Direkt vor dem ersten Bild sagt eine Stimme zu Schwarzbild: “Ton. Kamera”. Es ist die Stimme Kiarostamis, welche die üblichen Kommandos eines Filmsets verlautbart, um die Filmaufnahme zu starten. Einstellung und Stimme kehren im Laufe des Filmes wiederholt zurück. Vor jeder neuen Szene gibt es eine Klappe, die uns sagt ob wir als nächstes eine “geordnete” oder eine “ungeordnete” Szene sehen werden. 

Nach der zweiten Szene, die einen geordneten Ablauf zeigt, hören wir Kiarostamis Stimme: “Gut, Cut!”. Diese Stimme erhält im Laufe des Filmes eine immer stärker werdende Präsenz. Bald sind es nicht mehr nur Anweisungen, die Kiarostami ausspricht, sondern auch ein Kommentar zu den Bildern selbst. Nachdem die Kinder geordnet nur ungefähr eine Minute brauchen um einen Schulbus zu betreten, brauchen sie in der ungeordneten Einstellung viel länger. Nach zweieinhalb Minuten gibt der am linken unteren Bildrand mitlaufende Timer auf. Doch Kiarostami versichert, dass dies gut sei. Je länger sie brauchen, desto besser. Schließich ist das doch die ganze Idee hinter dem Film. 

Kiarostamis Filme sind geprägt von “sanfter” Subversion und Manipulation. Seinen “Lügen” wird oft eine gewisse Verspieltheit oder Weisheit zugesprochen. Wenn Kiarostami lügt, dann um eine Wahrheit auszusprechen. In Be tartib ya bedun-e tartib? wird gelogen. Gleich in der ersten Einstellung ist vermutlich eine Lüge zu finden: “Geordnet, Einstellung/Szene 1, Take 1.” Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier den ersten Take sehen? Sehr gering. Es ist nicht viel weniger wahrscheinlich, dass wir auch in der ersten Einstellung/Szene von Unordnung und in den weiteren Einstellungen/Szenen von Ordnung und Unordnung bis zur fünften Einstellung jeweils den ersten Take sehen. Nein, das kann gar nicht sein. Stattdessen wird diese Lüge als narratives Mittel verwendet. Alles läuft einwandfrei und geplant, bis es zur fünften Szene kommt. Bis hierhin bestärkt oder erlügt der Film seine These: Man kann der Welt eine geordnete und eine chaotische Einstellung zugleich abringen.

Wie kommt es dazu, dass in dieser fünften Szene das System des Films in sich zusammenstürzt? Mit der vierten Szene begibt sich der Film heraus aus der Welt des Schulalltags. In der geordneten Sequenz sehen wir Kinder, die brav die Straße überqueren, und auf die Verkehrszeichen achten. Der Film selbst quert hier aus der Welt der Kinder in jene der Erwachsenen. Hierin liegt der (erzählte) Kontrollverlust Kiarostamis. In der unordentlichen vierten Sequenz sehen wir wieder das Überqueren der Straße an der viel befahrenen Kreuzung. Die Menschen halten sich nicht an die Regeln des Straßenverkehrs. Menschen gehen wann sie wollen, Autos hupen. Dennoch scheint diese Unordnung gut zu funktionieren. Im Chaos missachteter Regeln liegt eine eigene Ordnung.

Nun springt der Film gleich zu einer sechsten Szene, und enthält uns die fünfte vor. Wieso das der Fall ist, verstehen wir erst wirklich, sobald wir die fünfte Sequenz sehen. Sie ist die letzte Szene des Filmes. In ihr versuchen Kiarostami und sein Kameramann wieder eine Kreuzung zu zeigen. Sie wird von oben auf die Straße herunter gefilmt (wahrscheinlich ist die Kamera auf einem Gebäude). Zuerst zeigen sie uns wieder die Einstellung unter der Bezeichnung “geordnet”. Doch die Menschen im Bild halten sich nicht an die Ordnung, die der Film von ihnen verlangt. Die Straße wird stattdessen ungeordnet von Passanten überquert. Ein Motorradfahrer rollt bei Rot über die Kreuzung. Die Aufnahme wird abgebrochen. Nun sehen wir zum ersten Mal einen zweiten Take in der Narration des Films. Das ist natürlich schwer zu glauben. Wir werden uns der bisherigen Lüge bewusst. Dieses Stilmittel, das vorgab, uns hinter die Kulissen der Fiktion blicken zu lassen, wird selbst als Fiktion entlarvt. Auch der zweite Anlauf scheitert, sowie ein dritter und vierter. Nicht einmal ein Straßenpolizist, den Kiarostami und sein Kameramann erspähen, schafft Ordnung. Die beiden Filmemacher beraten sich und geben auf. Schnell drehen sie stattdessen die “ungeordnete” Variante der Szene. Diese klappt natürlich auf Anhieb. Für eine ungeordnete Szene ist es perfekt, meint Kiarostami. Doch wo könnte man eine geordnete Kreuzung drehen? Es ist doch überall das Gleiche. 

Erinnerungen eines Anderen: München – Berlin Wanderung von Oskar Fischinger

Manche Filme wirken, als wären sie aus ihrer Zeit gefallen. München – Berlin Wanderung von Oskar Fischinger aus dem Jahr 1927 scheint einen anderen Filmemacher schon vorwegzunehmen. Man kann sich beim Sehen des Filmes kaum davon abhalten, an die Filme von Jonas Mekas zu denken. 

Der Film dokumentiert eine dreieinhalbwöchige Wanderung von München nach Berlin, die Oskar Fischinger unternahm. Er könnte als eine Art travelogue, also als Reisefilm bezeichnet werden. Doch der Film arbeitet nicht mit den üblichen Methoden dieses Genres. Die meisten Reisedokumentationen sind länger als dieser Film, der nur dreieinhalb Minuten dauert. Viele dieser Filme haben eine erklärende Stimme, dieser Film erklärt sich nicht. München – Berlin Wanderung wirkt dabei weniger, wie eine genaue Dokumentation, sondern eher, wie die Erinnerung an diese Reise. Die Bilder flackern nur kurz auf, bevor sie wieder verschwinden. Sie brennen sich direkt in unser Unterbewusstsein. Der Film überfällt und überrumpelt. Man will sich jedes Bild einprägen, doch die schiere Flut überwältigt. Es bleibt nur ein Gefühl. Man weiß, dass ein Mensch etwas gesehen hat. Fischinger hat auf seiner Wanderung Dinge gesehen und er hat Zeugnis davon abgelegt. Wir jedoch können nur noch erahnen, was das Gesehene wirklich war, nur noch einen Eindruck davon bekommen. Es existiert nur noch als eine Folge von Erinnerungsbildern, die vor uns aufblitzen und wieder verschwinden. 

Oskar Fischinger ist eigentlich als ein Filmemacher der Bewegung des absoluten Filmes bekannt. Er wird oft  zusammen mit Walter Ruttmann und Hans Richter genannt. Dieser Film ist ein untypischer Einzelfall. Erst Jahrzehnte später wurde fortgesetzt was er angefangen hat. Diese schnelle Abfolge von Porträts und Landschaften findet man in den Filmen von Jonas Mekas wieder, den dieser Film angeblich inspiriert haben soll. Wer München – Berlin Wanderung gesehen hat, wird nicht überrascht sein. Er wirkt wie eine Blaupause.

Einige Motive und Bilder bleiben hängen oder wiederholen sich: Das erste Bild zeigt Zugschienen, die sich in die Ferne ziehen. Schienen, die für diese Reise nicht verwendet wurden, welche zur Gänze zu Fuß stattfand. Dann sehen wir immer wieder: Dörfer, Kirchen, Häuser, Blumen und weite Wiesen. Fischingers Kamera trifft auch auf verschiedene Tiere: Schafe und Ochsen, Hunde und Katzen. Doch am stärksten prägen sich die Menschen ein, die wir im Film sehen. Sie posieren für Porträts, die kurz aufleuchten, bevor auch sie, wie alle anderen Bilder, wieder verschwinden: alte Bauern grinsen, junge Mütter stehen mit ihren Kindern vor ihren Häusern , ein kleines Mädchen hält eine Katze in ihren Armen und scheint sich vor der Kamera zu fürchten. Eine Frau wird aus mehreren Blickwinkeln gefilmt. Die Bilder erscheinen in schneller Abfolge. Wir sehen diese Menschen auch bei der Arbeit. Zwischen den Menschen sehen wir immer wieder die schon besagten Dörfer und Gebäude, die Tiere und Landschaften. Das letzte Bild zeigt Wolken im Himmel. In nur dreieinhalb Minuten sehen wir all diese Dinge. 

Die Form hinterlässt den Eindruck, dass man gerade die Erinnerung eines Anderen sehen würde. Man stellt sich vor, dass so der Film aussehen muss, den man sieht, wenn man stirbt und das Leben vor einem vorbeizieht. 

 

Die Kunst des Sprechens: Odette Robert von Jean Eustache

Odette Robert ist der Name von Jean Eustache Großmutter. Sein Film Odette Robert ist eine auf die halbe Zeit gekürzte Version des Filmes Numéro Zéro.  Diese verknappte Fassung wurde für das französische Fernsehen produziert und war Teil einer Reihe, der auch Chantal Ackermans Dis-moi angehört. Die Reihe hieß Grands-mères, un série proposée par Jean Frapat. Obwohl es sich um eine für das Fernsehen gekürzte Version eines längeren Filmes handelt, sind Intention und Form klar.

In Odette Robert sehen wir vorwiegend wie Odette Robert aus ihrem schwierigen, ereignisreichen und doch gewöhnlichem Leben erzählt. Der Film besteht aus einer Art Interviewsituation, wobei Eustache selbst wenig zu Wort kommt, sondern seine Großmutter erzählen lässt. Nur manchmal unterbricht er, wenn das Filmmaterial in einer der beiden Kameras ausläuft und eine Klappe geschlagen werden muss. Odettes Monolog wird dabei aus zwei Perspektiven eingefangen: Einerseits eine totale Einstellung, in der wir den Rücken von Eustache sehen und Odette uns (und ihm) gegenüber sitzt, andererseits (aus der Perspektive einer Kamera, die etwas weiter rechts steht) eine nähere Einstellung von Odettes Gesicht. In ihr ist der Filmemacher nicht zu sehen. Diese zweite Kamera zoomt manchmal ein bisschen weiter hinaus und zeigt uns Odettes Oberkörper: wie sie bei Tisch sitzt, raucht und den Whiskey trinkt, den Eustache ihr einschenkt. 

Nur die Eröffnungsszene, in der wir Odette und Boris Eustache (Jeans Sohn) auf der Straße einkaufen sehen, bricht mit diesem Muster. Ansonsten befinden wir uns durchgehend im Interview. In den meisten Filmen würde ein solches Interview wahrscheinlich nur einen geringeren Teil ausmachen. Es wäre ein Segment, dass man gern auch als “Talking Head” bezeichnet. Oder man würde das Interview regelmäßig mit Archivbildern und Aufnahmen unterbrechen, um visuell abzuwechseln. Doch Eustache interessiert sich nicht für Ablenkungen, und begreift diese Situation auch nicht als ein Talking-Head-Segment, das nur ab und zu ergänzende oder erklärende Statements gibt. Stattdessen bekommen wir hier etwas zu sehen, worum es im Kino nicht allzu oft geht: Die Kunst des Sprechens. Ein Mensch erzählt uns (eine) Geschichte. Wir können in Ruhe und ohne Unterbrechungen dabei zusehen und -hören, wie Odette sich an ihr Leben erinnert. Sie berichtet dabei vor allem von Leid und Schmerz. Sie erzählt von ihrer grausamen und demütigenden Stiefmutter, ihrem Arbeitsleben in einer Fabrik, als sie noch ein Kind war, ihrer Ehe mit einem Schürzenjäger und dem Verlust mehrerer Kinder. Mehrmals hören wir im Detail von furchtbarer Krankheit und Tod. In ihrem Gesicht erkennen wir dabei ihren Schmerz, auch wenn wir ihre Augen nicht gut sehen können durch die abgedunkelte Brille, die sie trägt.

Eustache sucht nicht nach “guten Stellen”, die er dann für seinen Filme nutzen kann. Er versucht nicht, Odette manipulierend Statements oder Emotionen zu entlocken. Es geht nicht darum, das Erzählte seinem Narrativ unterzuordnen. Stattdessen wird das Medium Film verwendet, um etwas festzuhalten, was ansonsten verschwinden könnte: eine Person, die erzählt. Die menschliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und Narrative zu bauen, wird im Kino gerne für verschiedenste Zwecke gebraucht, doch sie wird selten als zentraler Inhalt des Filmischen festgehalten. Wenn jemand erzählt, wie Odette Robert es tut, dann öffnet sich ein Raum. Eine Person wiederholt sich, verspricht sich, verliert sich. Und in diesen Prozessen erkennen wir den Menschen. Durch das Erzählen über eine längere Zeit, zeichnet sich ein Portrait, nicht nur über die Inhalte des Erzählten, sondern durch die Art, in der erzählt wird. So werden nicht nur die erzählende Person, ihre Erinnerungen, ihr Rhythmus festgehalten, sondern eine Welt von Gestern wird aufgezeichnet. Eine Welt, die wir sonst nur aus Geschichtsbüchern kennen. Eine Welt, die oftmals im Alltag ganz anders war (und näher zu unserer), als es diese Bücher erahnen lassen. 

Jean Eustache war ein Verehrer des Kinos der Brüder Lumière. Vielleicht ist in diesem Film auch die Nähe zu deren Filmen spürbar. Er glaubt an diesen Apparat namens Kamera. Er filmt, ohne ihr etwas zu unterstellen, ohne von ihr mehr zu verlangen, als Zeugnis von dem abzulegen, was sich vor ihr abgespielt hat.

Gegen Ende des Filmes sagt Odette, dass sie nun 71 Jahre alt sei und nicht mehr wirklich Interesse daran hätte, zu leben. 

Sie meint, dass sie das nicht aus einer Drastik heraus sage (ihre Devise lautet: “Ich glaube andere hatten es schlimmer.”).

Fünf oder sechs Jahre wären noch schön, um den 16 Geburtstag von Boris Eustache zu erleben, doch eigentlich sei es ihr egal. Ob Odette Robert den Geburtstag von Boris miterlebt hat oder nicht, weiß ich nicht. Neun Jahre nach der Aufzeichnung des Interviews, schnitt Eustache daraus die Version fürs Fernsehen. Im Jahr darauf beging er Selbstmord. 

American Dreams – Chris Marker

In 1959 Chris Marker was going to make a film about the United States of America. The title should have been: American Dreams. The film itself was never made, but in the book Kommentare 1 which collects the voice over texts to some of Marker’s films, the text for the film can be found.

Chris Marker. Kommentare 1 + Kommentare 2
Aus dem Französischen v. Erich Brinkmann u. Rike Felka

Bd. 1: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-21-9
Bd. 2: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-22-6

There are also some images collected that might have been in the film. Here are some of them: 

 

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

 

(Alle Bilder veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von BRINKMANN & BOSE, BERLIN)

 

 

 

 

Il Cinema Ritrovato 2018: The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Kenji Mizoguchis The Life of Oharu erinnert an ein tieftrauriges Märchen. Eine Art Mädchen mit den Schwefelhölzern, bloß ohne die Erlösung des Todes. Beide Geschichten handeln von der Art und Weise, wie Menschen über andere urteilen. Doch während das kleine Mädchen bei Hans Christian Andersen von ihrer Großmutter in den Himmel mitgenommen wird, merkt man im Film schon früh, dass Oharu ein solcher Ausweg verwehrt bleibt.

The Life of Oharu erzählt die Geschichte des sozialen Abstiegs der Titelheldin. Zu Beginn wird sie als junge Frau guten Standes präsentiert, die durch Unglück, aber vor allem durch die Herzlosigkeit ihrer Mitmenschen, immer weiter ins Unglück hinabsinkt. Man kommt nicht daran vorbei, sich vorzustellen, dass der Film beispielsweise bei Robert Bresson einen Eindruck hinterlassen haben muss, denn die Figur der Oharu wirkt wie ein menschlicher Balthazar.

Der Film stammt zwar aus Japan, aber beim Sehen musste ich immer wieder ans Christentum denken. Womöglich liegt das an meienr christlichen Erziehung, doch wenn man sich Oharus Geschichte ansieht erkennt man darin eine Leidensgeschichte, wie ich sie sonst eher weniger aus anderen Religionen erkenne. Obwohl Oharu gleich am Anfang des Filmes einen buddhistischen Tempel besucht, ist ihre Geschichte eher eine klassische Passionsgeschichte. Auch die Tatsache, das ausgerechnet die ärmsten Menschen dieser Erzählung, die einzigen sind, die eine Art moralische Reinheit besitzen ist ein Recht christlicher Gedanke. Tatsächlich ist Mizoguchi sowohl in seinem privaten Leben als auch filmisch eng mit dem Christentum und christlichen Bildern in Beziehung (man denke zum Beispiel an die Madonna mit Kind aus Oyuki The Virgin).

Die Tragik und Unschuld der Figur könnten aus einer feministischen Bibelerzählung stammen. Allgemein zieht sich eine spirituelle Atmosphäre durch den Film. Mit Ruhe und Distanz werden tragische Situationen im Film oftmals geradezu kalt beobachtet. Mizoguchi meidet offensichtliche formale Mittel um Emotionen zu erhöhen. Egal wie viel Unglück man sieht und wie viel Zorn dies auslöst, die Kamera fährt nicht in einem dramatischen Track-In auf ein Gesicht zu und es gibt keine sentimentale Musik, um Tränen für Oharu zu motivieren. Stattdessen gibt es meist nur Stille, oder das Wehen des Windes, und eine leicht erhöhte Kameraposition mit der auf alles geblickt wird.

Früh im Film verliert Oharu ihre soziale Stellung, weil sie beim Geschlechtsverkehr mit einem Diener ertappt wird, den sie liebt. Sie wird mit ihren Eltern ins Exil verbannt, während ihr Liebhaber exekutiert wird: Er spricht seine letzten Worte, aber sein Leiden wird beendet. Oharu hingegen muss für dieses Vergehen leiden, sie wird vom Suizid abgehalten. Sie muss mit dieser Schande leben, ohne auf Verständnis zu stoßen. Ständig wird sie an ihre Fehler erinnert. Die letzten Worte ihres Liebhabers ermutigen Oharu, niemals ohne Liebe zu heiraten und auf jeden Fall glücklich zu werden. Man ist verleitet zu glauben, dass Oharu auf den Getöteten hören wird. Doch Mizoguchi ist nicht so sentimental. Und Oharu nicht so stolz und naiv, stattdessen wird sie gebrochen, getreten, geschmäht. Man sieht eine Gesellschaft, die auf schwache Frauen hinabblickt und sich an dieser Machtstellung ergötzt. Mizoguchi klagt diese Gesellschaft zornig an.

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Das Tragische an der Figur von Oharu ist jedoch nicht bloß das furchtbare Ausmaß ihres Leidens, sondern der Kontrast zwischen der Art wie sie ist, und der Art, wie sie gesehen wird. Denn hier liegt womöglich die größte Ähnlichkeit zu ihrem tierischen Gegenstück bei Bresson. Wie Balthazar wird Oharu nicht für ihre Vergehen bestraft, sondern von jenen bestraft, welche die eigentlichen Verbrechen begehen. Sie wird durch die Schulden ihrer Familie schnell in die Prostitution gezwungen, in der sie erniedrigt und ständig daran erinnert wird, dass sie gekauft wurde. Sie versucht danach in „anständigeren“ Anstellungen zu arbeiten, doch ihr Ruf ist bereits ruiniert. Ihr unschuldiges Lächeln ist nichts mehr Wert. Die Männer, denen sie begegnet, sehen nicht die die Fröhlichkeit eines jungen Mädchens, sondern das einer versauten Hure. Sie projizieren ihre lüsternen Gedanken auf Oharu, die dann durch Geld oder Gewalt dazu gezwungen wird, diese Gedanken und Fantasien zu Wirklichkeit zu machen. Aber Oharu muss für dieses Verhalten der Männer büßen. Sie ist diejenige, die wiederholt entlassen wird, sich nicht mehr zeigen darf. Sie muss die Scham einer verklemmten Gesellschaft ausbaden, die sich ihre Sexualität nicht erlauben will.

Nur sind es nicht nur die Männer, unter denen Oharu leidet, die Frauen sind ebenso bösartig. Sobald Oharus Vergangenheit ans Licht kommt, wird ihr unterstellt, sie wolle Ehemänner verführen und ausspannen. Nach langem Leiden entschließt Oharu sich, jeglichen irdischen Gelüsten und Wünschen völlig zu entsagen und tritt ins Kloster ein. Doch auch dort währt die Ruhe nicht lange. Oharu trifft einen alten „Freund“ wieder. Dieser zwingt sie gewaltvoll zum Sex und wird dabei von einer Nonne ertappt. Er kann fliehen und wird die Konsequenzen niemals spüren, doch Oharu (von der man nur den Schatten sieht) bleibt beschämt sitzen, mit gesenktem Haupt. Sie bittet die Nonne um Vergebung, erklärt, dass er sie überwältigt habe, doch auch die Nonne zeigt kein Verständnis. In Mizoguchis Augen sind auch die Gottesdiener um keinen Deut besser, vielleicht sogar noch schändlicher. Jene, die Oharu ausnutzen und dann wegschmeißen, tun zumindest nicht so, als ob ihnen am Wohl anderer etwas liegen würde. Die Nonne sieht in Oharu lediglich jemanden, der seinen sexuellen Begierden nachgeben darf, während sie nicht kann – dafür muss sie büßen.

Dabei wird der sexuelle Akt in diesem Film nie gezeigt, nicht einmal ein Kuss. Jegliche „Unreinheit“ existiert nur in den Gedanken der Menschen. Wie oft bei Mizoguchi geht es um das Leiden von Frauen, die in der Sexindustire arbeiten (z.B. Sisters of Gion, Streets of Shame). Der eigentliche Akt wird jedoch nie dargestellt. Nicht dass Oharu unglaublich prüde wäre. Sie scheint ihre Sexualität ab und an durchaus zu genießen. In einer Episode des Filmes wird sie an einen Hof geholt um dem Herrscher einen Nachfolger zu gebären, da dessen Frau unfruchtbar ist. Sie tut dies, doch der Mann will sie darüber hinaus in seinem Bett behalten. Schließlich wird sie auf Rat eines Arztes aus dem Hof verbannt, da dieser meint, der Herrscher könne sterben, wenn er Oharu weiterhin jede Nacht so intensiv liebt.

The Life of Oharu von Kenji Mizoguchi

Obwohl sich der Film recht einfach als eine Art Passionsgeschichte einer heiligen Hure auslegen ließe, wäre eine solche Interpretation zu einfach. Ganz am Ende ihres Leidensweges ist Oharu um die Fünfzig und arbeitet als Straßenprostituierte. So versucht sie sich etwas Geld zu verdienen, stellt aber schnell fest, dass das in ihrem Alter eher schwer ist. Sie verdeckt ihr Gesicht, verstellt ihre Stimme, um jünger zu wirken, wird jedoch immer wieder entlarvt und verspottet. Als sie endlich einen Kunden für sich gewinnt, nimmt dieser sie mit, um sie anderen Männern vorzuführen und als „alte Hexe“ zu bezeichnen, eine Bezeichnung, die sie im Film schon öfter zu hören bekommen hat.

Und wenn Oharu keine Hexe ist, wie behauptet wird, dann lastet doch der Fluch einer Hexe auf ihr. Denn in den seltenen Fällen, in denen Männer Oharu tatsächlich helfen wollen, sterben sie kurz darauf. Anfangs ist es der Diener, der sie liebt. Nach langem Leidensweg ist es ein Fächerverkäufer, der sie heiratet, um ihr Leben etwas zu verbessern. Zuletzt kommt noch ein ehemaliger Bekannter hinzu. Er ist ein hässlicher Mann, der sich schon lange für Oharu interessiert hat. Sie hat lange Jahre kein Interesse an ihm, aber nachdem sie abermals eine Anstellung verliert und er zeitgleich ebenfalls, nimmt er sie mit sich um zu fliehen und sich, mit gestohlenem Geld, irgendwo ein besseres Leben zu machen. Oharu lehnt das zuerst ab, doch schließlich gibt sie klein bei. Jegliche Hoffnungen, die es anfangs vielleicht noch gab – auf wahre Liebe oder einen guten Mann – sind dahin.

All dies wird von Mizoguchi in völliger Ruhe erzählt und der Film macht noch um einiges zorniger, weil die Form so streng ist. Lange, präzise, aber dadurch auch irgendwie unmenschliche Kamerafahrten fangen das Geschehen ein. Oftmals nimmt die Kamera die Perspektive einer göttlichen Instanz ein, die mit Oharu fühlt, sich aber nicht einmischt. Mizoguchi begreift, dass seine Aufgabe vielmehr darin besteht, dieses Leid zu dokumentieren und uns wie einen Spiegel vorzuhalten, anstatt sich einzumischen und Gnade walten zu lassen. In der Folge führen die Kamerafahrten wiederholt auch herab, bewegen sich hinunter auf Oharus Höhe. An sich keine besonders auffällige Geste, die zudem so flüssig passiert, dass sie kaum bemerkbar ist. Aber wahrscheinlich das stärkste Mittel in Mizoguchis filmischem Handwerkskasten. Der Regisseur und das Publikum werden so von höheren Instanzen zu den einzigen Genossen, die Oharu hat. So wird der Film doch noch zu etwas mehr, als einer kalten Beobachtung des Leides und all dies nur mit einer Bewegung der Kamera.

Il Cinema Ritrovato 2017: Hana Chirinu von Tamizo Ishida

Hana Chirinu von Tamizo Ishida ist ein äußerst untypisches Jidaigeki. Das Genre ist oft bekannt für seine actionreichen, in Blut getränkten Filme über ehrenvolle Samurai. All dies sind Themen, die im Film zwar angesprochen, allerdings nie gezeigt werden. Stattdessen werden in Hana Chirinu die Geschichten derer gezeigt, die in der Geschichte oftmals vergessen wurden: Frauen. Die gesamte Handlung des Films spielt im Laufe einer Nacht und eines Tages und verlässt nie die Räumlichkeiten eines Okiyas (ein Geisha Wohnhaus).

BwsEUF3CAAAedkU

Dies verrät uns schon der Vorspann: Ein Aquarium voller Fische, über die die Titel eingeblendet werden. Die Fische sind wunderschön anzusehen, allerdings sitzen sie alle fest in diesem Aquarium, wie in einem durchsichtigen Gefängnis. Der Film erinnert in seltsamer Weise an ll deserto dei tatari von Valerio Zurlini. Draußen tobt eine Revolution, die später zur Meiji Restauration führen soll: eine Epoche in der Shogun abgeschafft wurden und unter anderem auch die Rolle der Geisha umfunktioniert wurde. Doch wir sehen keinen dieser Kämpfe, keinen Samurai, nicht einen einzigen Mann. Stattdessen beobachten wir das tägliche Leben der Geishas. Es gibt Rivalitäten, Romanzen, Freude und Eifersucht. Abends werden Kunden unterhalten (auch wenn die Geishas sich lieber einen Spaß erlauben und zum Großteil des Filmes ihre Kunden ignorieren), und untertags wird gestritten, gewaschen, gekocht. Nur manchmal dringen die Geschichten der Außenwelt nach innen. Was gezeichnet wird ist ein Sittenbild Japans, in dem nur Frauen auftauchen. Traditionelle Vorstellungen stoßen auf neue Ansichtsweisen: Akira (die Tochter der Inhaberin des Okiya) hat zwar einen Liebhaber, will ihn aber nicht heiraten. Allerdings hat sie Angst, dass eine Rivalin (die unter den Geishas als Hure gilt) ihr diesen ausspannt. Diese jedoch hat ganz andere Probleme, versucht verzweifelt ihrem Mann zu entfliehen.

Das Ganze wird eingefangen von einem fast allsehenden Auge, andauernd eilen Menschen durch das Bild, wir bewegen uns dabei mit gewissen Figuren von einem Gespräch in das nächste. Ishida webt ein komplexes Geflecht, schafft es aber dabei einen Überblick zu bewahren. Wir wissen, wer wen liebt, wer wen hasst und warum. Die Kameraarbeit dringt sich dabei nicht auf. Dennoch fällt etwas ungewöhnliches auf: In den Gesprächen (und davon gibt es viele) verzichtet Ishida auf Schuss – Gegenschuss. Stattdessen wechselt er mit fast jedem Schnitt die Komposition, den Winkel. Wir sehen nicht nur zwei „talking heads“, sondern auch Nacken aber vor allem Körper im Raum. Aus verschiedensten Winkeln sehen wir Frauen, die sich gegenüber stehen, voneinander abwenden, aneinander vorbeireden. Manchmal sagen uns diese Einstellungen mehr, als die Figuren.

Doch der Alltag kann im Krieg letztendlich nie alltäglich bleiben. Als Akira auf ihren Liebhaber wartet, klopft es nach einer langen Nacht endlich an der Tür. Aber sie wird zurückgehalten sie zu öffnen. Draußen ist ein Tumult, ein Samurai wird getötet. Die Sorge wird immer größer, und als Akiras Mutter auch noch von zwei Männern weggebracht wird, entscheiden sich alle zu fliehen. All diese Frauen, die aus den verschiedensten Gründen festhängen an diesem Ort: seien sie verkauft worden, von zuhause weggelaufen, oder andererweise gezwungen, sind nur imstande zu fliehen, als sie der Krieg dazu zwingt. Doch Akira bleibt. Auf ihre Mutter wartend, bleiben nur sie und ihre Rivalin zurück. Diese berichtet von draußen; Kyoto ist zerstört. Es ist ganz gleichgültig wer den Krieg gewinnt, das Haus würde fallen und seine Bewohner mit ihm. Und doch bleiben die beiden. Das Kanonenfeuer wird immer lauter und regelmäßiger und der Film lässt uns zurück mit einer wartenden Akira.

„Women like us were born to suffer“ sagt eine Geisha in diesem Film. Ein Satz, wie bei Naruse. „You never know what might come tomorrow“ erwidert eine andere darauf. Ein Film, der das Ende einer Epoche portraitiert und in den 30ern das Ende einer anderen in Japan vorwegnimmt.