Glückauf: Good Luck von Ben Russell

Good Luck von Ben Russell

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Ben Russell ist ein interessanter Zeitgenosse. Ein Amerikaner, geboren in Springfield, Massachusetts. Auf Umwegen hat es in nach dem Studium (Kunst und Semiotik) nach Surinam verschlagen. Eine ehemalige niederländische Kolonie am südamerikanischen Kontinent, flächenmäßig rund doppelt so groß wie Österreich aber lediglich von einer halben Million Menschen bewohnt. Dort hat er einen Großteil seiner Filme gedreht. Sie entstehen in einem Spannungsfeld zwischen anthropologischem und dokumentarischem Interesse, zwischen akademischer Objektivität und surrealistischem Chaos. Seine Arbeiten stoßen in einem immer unüberschaubarer werdenden filmischen Diskurs auf breite Zustimmung. Sie werden auf der Documenta gezeigt und von der Kunstwelt wohlwollend aufgenommen; sie eignen sich als Anschauungsmaterial, wenn Material gefragt ist, an dem sich politische Fragen durchexerzieren lassen; sie durchlaufen den festival circuit und enden – wie im Fall von Good Luck – sogar im Nachtprogramm auf ARTE. An Russell scheint sich kaum jemand zu stoßen, soweit man sich damit arrangieren kann, dass Russells Omnipräsenz (wie jene seines britischen Namensvetters Ben Rivers) oftmals dazu führt, dass man vor lauter Diskurs gar nicht mehr über seine Filme nachdenkt. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner des filmischen Diskurses und des Diskurses über Filme. Das klingt despektierlicher als es gemeint ist.

Die Kamera blickt aus einem halbverfallenen Haus auf ein Bergwerk. Im Hintergrund setzt Musik ein. Man gewöhnt sich fast an diesen statischen Bildausschnitt, als sich die Handkamera von ihrer Ausguckposition zu lösen beginnt. Die Musik, zunächst nur aus dem Off zu hören, wird nun im Bild verortet. Sie stammt von einer Marschkapelle, die in der Ruine Stellung bezogen hat. Wankend entfernt sich die Kamera aus dem Haus, behält die Kapelle im Blick, die schließlich, auf der Straße angekommen, Formation bezieht. Schließlich kommt die Kamera – und mit ihr die allesamt männlichen Musiker – nach einigen Minuten Bewegung zum Stillstand. Ein Mann, der Trommler, tritt aus der Reihe der adrett gekleideten Herren. Er beginnt zu sprechen, über Erinnerungen, über diesen Ort. Das sind für lange Zeit (bis auf unverständliches Murmeln) die letzten Worte, die im Film gesprochen werden.

Good Luck von Ben Russell

Als Prolog steht diese Szene am Beginn von Good Luck. Musik und Bild verdichten sich darin zu einem hypnotischen Marsch durch eine Gegend in Serbien, die wohl schon bessere Zeiten gesehen hat. Der dezent melancholische Ton der Musik und der Charme des Verfallenen vereinen sich zu einem audiovisuellen Abgesang. Ein Täuschmanöver, denn das Kupferbergwerk, das zum Auftakt zu sehen war, ist (noch) nicht aufgegeben. Die Kamera mischt sich unter die Kumpel, fährt 400 Meter hinab in den Untergrund. Inmitten der Bergmänner, eingezwängt in einem quietschenden Licht, wird die Szenerie nur von einigen Stirnlampen beleuchtet. Ein klaustrophobischer Moment. Nicht nur aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse, sondern auch wegen der unruhigen Atmosphäre die Russell auf der Tonebene erzeugt. Mattes Wummern, das sich zu einem unheilvollen Dröhnen entwickelt wird die nächste Stunde des Films dominieren. Unter Tage gibt es kein Entkommen. Kein Entkommen von der Dunkelheit. Kein Entkommen vom beengenden Sound. Nicht einmal, wenn man den Film auf einem kleinen Bildschirm sieht.

Das Bergwerk ist die Hölle. Eine Hölle voller Stein, Schweiß und Dreck. Und Lärm. Mit mächtigen Bohrern rücken die Männer dem Gestein zu Leibe. Mit aller Kraft stemmen sie sich gegen ihre (Höllen-)Maschinen, um den Berg zu bezwingen und für irgendeine anonyme Bergbaugesellschaft das wertvolle Kupfer aus dem serbischen Boden zu befördern. Düster ist die Arbeit. Die Männer machen sie, weil ihr Leben sonst noch düsterer wäre. Sie leben in einer Region, wo sie auf anderem Weg kaum vergleichbare Löhne verdienen könnten. Das erzählen sie zumindest in den Pausengesprächen. Es geht ernst zu während der Mahlzeit. Das scheint angebracht. Nach über einer halben Stunde tauschen sie jetzt die ersten Wörter untereinander aus. Zuvor waren ihre Stimmen unbrauchbar. Die Kakophonie der Maschinen, im Film noch verstärkt durch Russells unerbittliches Sounddesign, war übermächtig. Zwischendurch immer wieder Szenen in der Dunkelheit, nur spärlich erleuchtet von wenigen elektrischen Lampen. Licht und Dunkelheit, Höllenlärm und Totenstille, prägen die erste Hälfte von Good Luck.

Good Luck von Ben Russell

Nach den Szenen unter Tage wirkt die zweite Hälfte des Films wie eine Befreiung. Statt einer Fahrt in die Hölle, geht es nun ins Paradies. Tief in den Dschungel von Surinam. Doch der Eindruck täuscht. Auch dort warten Höllenmaschinen: Bagger, Generatoren, lärmende und stinkende Monstrümer. Sie werden von den Männern umsorgt. Ganz zu Beginn des Segments bringt einer von ihnen Treibstoff in einem Kanister. Danach die Fütterung. Dann wird die Maschinerie in Gang gesetzt. Ein Bagger hebt Erdreich aus. Es wird sorgfältig gewaschen, in der Hoffnung auf Gold zu stoßen. Anders als die professionell organisierte Arbeit der serbischen Bergmänner, handelt es sich hier um eine illegale Unternehmung. Die Männer hier haben außerdem eher mit den tropischen Bedingungen zu kämpfen, als mit Dunkelheit. Es gibt jedoch Ähnlichkeiten zwischen diesen zwei Gruppen von Männern. Schweiß und Dreck ist ihr Metier, ein Metier das zusammenschweißt.

Es lassen sich mit Good Luck wohl einige Thesen über den Zustand der Welt und der Menschheit formulieren. Die meisten davon wären wohl eher auf der fatalistischen Seite (Andere Filme verwandter Thematik gehen in diese Richtung. Etwa Michael Glawoggers Workingman’s Death oder Zhao Lings Behemoth, der von ARTE in der gleichen Sendereihe wie Good Luck gezeigt wurde). Doch das ist nicht alles. Ein seltsames Gefühl von Gemeinschaft entsteht, wenn man diese beiden Welten – so nah und doch so fern – gegenüberstellt. Eine globale Gemeinschaft von Männern, die versuchen dem Boden seine Schätze abzuringen und dabei in erster Linie sich selbst ausbeuten. Die einen arbeiten unter der Sonne Surinams, die anderen fernab der Sonne. Die einen arbeiten im Staub, die anderen im Wasser. Wenn sie aber Pause machen, im Kreis sitzen, über ihre Ängste und Sorgen sprechen, ihre mitgebrachten Mahlzeiten verspeisen, dann wird deutlich, dass sie mehr verbindet, als sie trennt. Auch wenn sie nichts voneinander wissen. Auch wenn ihr einziges verbindendes Glied ein amerikanischer Filmemacher aus Massachusetts ist, der in Paris lebt. Film kann ein mächtiges Instrumentarium im Spiel der Menschheit sein.

Viennale 2017: Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette von Bruno Dumont

Über einen Film zu schreiben, ist immer auch ein Versuch den Film besser zu verstehen. Manchmal überwiegt der Drang bestimmte Aspekte eines Films herauszuheben oder ganz einfach nur die eigene Begeisterung zu vermitteln, Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont ist für mich aber eindeutig einer jener Filme, über den ich schreiben will, um ihn selbst besser zu verstehen. Ein wenig hat das auch damit zu tun, dass ich am Beginn dieses Texts ziemlich ratlos vor dem Film stehe (Blake Williams bezeichnete den Film nicht zu Unrecht als UFO). Da sind die offensichtlichen Referenzpunkte, die Dumont auch selbst anbietet – der Verweis auf Straub-Huillet oder die abgründige Verrücktheit, der bereits Dumonts letzte beide Projekte Ma Loute und P’tit Quinquin geprägt hat. Auf der anderen Seite gehen die Gemeinsamkeiten mit Straub-Huillets Moses und Aaron kaum über eine ähnliche Form der Tonaufnahme hinaus und auch die Verrücktheit in Jeannette äußert sich weniger in makabren humoristischen Einlagen, als in einer Grundstimmung der Absonderlichkeit, die vor allem mit Musikauswahl und Figurenzeichnung zu tun hat.

Während sich die großen Jeanne d’Arc-Filme der Kinogeschichte meist mit den Erfolgen der Jungfrau auf dem Schlachtfeld und ihrem Niedergang auf dem Scheiterhaufen befasst haben, ist Jeannette ein vergleichsweise leichtfüßiges Musical über die Jugendjahre Jeannes. Der Film hört mit dem Aufbruch Jeannes in Richtung Orléans auf – das Drama ihres späteren Lebens ist da noch gar nicht abzusehen. Dementsprechend unbeschwert setzt der Film ein: sanfte Sanddünen, ein Bach, eine Schafherde und eine junge Hirtin in blauem Kleid, die singend von ihrem Leben erzählt.

Der Clou über den viel berichtet wurde, ist die Entscheidung Dumonts die Musik nicht im Studio aufzunehmen, sondern den Gesang seiner Laiendarsteller bei den Dreharbeiten als Direktton aufzunehmen. In der Postproduktion wurde lediglich das instrumentale Playback hinzugefügt. Laut, falsch und mit Begeisterung tanzt und singt sich die ungeübte Protagonistin und ihre Mitstreiter also durch den Film, und Dumont hat tatsächlich kaum Anstrengungen unternommen die Unsauberkeiten der Aufnahmetechnik auszumerzen. Es gibt in der Filmgeschichte wohl wenige professionelle Arbeiten, in denen so viele falsche Töne zu hören sind und so unsaubere Choreographien getanzt werden. Das unterscheidet Dumont schon mal radikal vom perfektionistischen Verfahren von Straub-Huillet. Die Frage ist nun aber, ob man diesen Amateurismus positiv oder negativ werten sollte. Dumont spielt absichtlich mit der Ästhetik des Unfertigen und Imperfekten, er verzichtet bewusst auf eine Optimierung der Musik- und Tanzeinlagen, um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erreichen. Das mag auch an der Lust an der technischen Herausforderung in der Produktion liegen, aber nicht zuletzt wird die Figur Jeannettes dadurch menschlicher, gewöhnlicher. Sie ist ein Mädchen, das ungefähr genauso gut tanzen und singen kann, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Auf der anderen Seite wirkt diese bewusste Setzung mit all ihrer handwerklichen Schludrigkeit und der eklektischen Musikauswahl aus Heavy Metal und Electronic etwas aufgesetzt provokant. Womöglich ist es also am besten die Unreinheiten gar nicht zu bewerten, sondern als gegeben hinzunehmen. Das würde dann bedeuten, die Musik in ihrer Imperfektion als überaus lebendig wahrzunehmen; welche Typen Dumont im Casting seiner Laien gefunden hat, ist – wie immer in seinen Filmen – ohnehin fantastisch; die Aufnahmen der Landschaft Nordfrankreichs, wohin Dumont seine Jeanne d’Arc hinverpflanzt hat, sehen atemberaubend gut aus – in Sachen Kadrierung und Beleuchtung ist der Film alles andere als amateurhaft.

Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette ist also in jedem Fall ein großes Fest für die Sinne, aber auf eine andere Weise als es bisherige Bearbeitungen des Stoffes waren. Dumonts Jeanne fehlt es weder an Frömmigkeit noch an Determiniertheit, aber sie äußert sich anders, denn diese Jeanne ist nicht leidend oder heroisch, sondern verspielt und lebensfreudig. Das ganze Gesinge und Getanze mag davon ablenken, aber im Kern gelingt es Dumont sehr gut diesem jungen Mädchen, das gleichzeitig ein französisches Nationalheiligtum ist, mit seinem filmischen Porträt näherzukommen. Sie ist überaus entschlossen Gottes Plan zu erfüllen und ihr glorreiches Heimatland Frankreich vor fremden Mächten zu schützen, wie ihre Vorgängerinnen in der Filmgeschichte. Der Grundton des Films, der halbironische Gestus, der Hang zum Absurden scheint den Ernst ihrer Mission aber beständig zu unterminieren. Diese Unentschiedenheit macht den Film erst so richtig interessant. Dumont scheint sich nicht groß darum zu scheren, ob die filmische Form, die er für den Film gewählt hat, dem epischen Charakter seines Sujets gerecht wird. Historische Ungenauigkeiten, Anachronismen, amateurhaftes Schauspiel und Genreelemente, stehen sehr präzisen und gar nicht trashigen Kadrierungen (die Bildsprache unterscheidet sich in ihrer Brillanz nicht von Dumonts früheren Arbeiten), und einem Interesse für Physiognomien und der mittelalterlichen Lebenswelt gegenüber. Das führt dazu, dass diese Jeanne weniger als verklärtes Relikt, denn als lebendige Person auftritt, nicht als mythologische Gestalt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, die mit einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort und einer dazugehörigen Geisteswelt in Verbindung zu bringen ist. Jeannette ist kein historisierender Blick zurück auf eine Legende aus längst vergangenen Tagen, sondern eine Aktualisierung, die versucht ihrer Protagonistin über einen Umweg in die Gegenwart näherzukommen.

Die Annäherung an Jeanne d’Arc wird durch die Anachronismen und historischen Fehler vervollständigt, indem man durch sie einerseits die Jeanne in ihrer ganzen Menschlichkeit kennenlernt, und andererseits immer wieder die Rahmung des Gezeigten hinterfragt. Die Absurdität und der Eklektizismus sorgen somit für einen Verfremdungseffekt, der aber paradoxerweise zu einem tieferen Verständnis der filmischen Welt führt: Die Inszenierung der Vision, in der Jeanne den Auftrag bekommt Frankreich zu retten, unterscheidet sich kaum von ihrem restlichen Leben – religiöse Visionen sind im 15. Jahrhundert sehr viel wahrhaftiger und gleichzeitig banaler. Es geht weniger darum, was ein 13- oder 16-jähriges Mädchen im Spätmittelalter über Gott und das Land, in dem sie lebt, wissen kann, als darum, wie stark eine Überzeugung unter den damaligen Voraussetzungen wirken kann. Vielleicht ist dann die kinetische Energie eines Heavy-Metal-Songs gar nicht so weit von der Wucht einer göttlichen Eingebung entfernt als man glaubt. Natürlich ist der Film auch ein Witz, eine Abrechnung mit überhöhtem Nationalstolz (der Nationalismus Jeannes ist eine ebenso anachronistische Setzung, wie die musikalische Gestaltung) und eine ironische Variation eines Filmmusicals, aber es ist zugleich ein Porträt von Jeanne d’Arc, das erstaunlich tief in den Mythos eindringt. Wie konnte es geschehen, das vor über 500 Jahren ein Mädchen eine Armee anführen konnte? Wie konnte sie den Status einer Nationallegende erlangen? Wie konnte eine göttliche Eingebung den Lauf der Geschichte entscheidend verändern? Dumont macht in Jeannette die Verzahnung der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt greifbar. Was auf uns verrückt wirkt, ist, dass er zwischen den beiden keinen Unterschied macht. Und damit ist er wahrscheinlich ziemlich nah am Lebensgefühl der Menschen aus vergangenen Jahrhunderten.

Viennale 2017: Ta peau si lisse von Denis Côté

Ta peau si lisse von Denis Côté

Langsam wandert die Kamera über den halbnackten Körper und die weiche, makellose Haut. Vom Nacken zur Schulter und dann weiter über die wohlgeformte Brust nach unten zum Bauch – der Sixpack als Blickfang bevor die Reise weiter geht. Am Rücken folgt die Kamera den Muskelsträngen nach oben zur tätowierten Schulter und dann wieder nach unten zum Hintern, der nur unzureichend von einem Tanga verdeckt ist. Ta peau si lisse ist eine filmische Fleischbeschau der etwas anderen Art. Die exploitativen, voyeuristischen Blicke schweifen hier nämlich nicht über weibliche, nackte Haut, sondern über Männerkörper.

Sechs Männer hat der frankokanadische Filmemacher Denis Côté für Ta peau si lisse gefilmt. Gemeinsam haben sie alle eine besondere Beziehung zu ihrem Körper. Fünf von ihnen betreiben Bodybuilding, einer ist Wrestler und Strongman. Alle ordnen sie dem Training ihrer Körper, der Maximierung ihrer Leistungsfähigkeit, ihr restliches Leben unter. Zwei sind etablierte Größen der Bodybuilding-Szene von Québec, die ihre Muskelberge augenscheinlich pharmazeutischer Hilfe zu verdanken haben, einer ist ein Ex-Bodybuilding-Champion, der mittlerweile als Trainer und Kinesiologe arbeitet. Hinzu kommen ein asiatisch-stämmiger Familienvater, dessen wettkampfmäßige Bodybuilder-Karriere noch am Anfang steht, ein 19-jähriger Student, der Bodybuilding als Hobby im Keller seines Elternhauses betreibt und ein Wrestler und Strongman.

Männer, die auf Männer starren

Die Männer sind fleischgewordene Marmorstatuen, Muskelprotze, deren ganzer Alltag sich darum dreht genug Kalorien zu sich zu nehmen und genug Trainingseinheiten in den Tagesplan einzufügen. Zwischen Essen und Trainieren bleibt nur wenig Zeit für Familie, Freunde und ein Leben abseits der Kraftkammer. Der Film hat seine stärksten Momente, wenn genau dieses Dazwischen in den Blick kommt. Wenn die Männer gemeinsam mit ihren Frauen trainieren, um wenigstens ein paar kostbare Stunden am Tag miteinander zu verbringen oder wenn beim Familienessen als Zwischengang noch ein Steak hinuntergeschlungen wird, um den Proteinhaushalt aufzustocken. Dann wird die Besessenheit dieser Menschen besonders deutlich und diese Besessenheit ist das eigentliche Thema des Films – noch mehr als die Betrachtung dieser Körper oder der Versuch, die körperlichen Anstrengungen des strengen Trainingsplans nahbar zu machen.

Ta peau si lisse von Denis Côté

Der Alltag, von der Passion für die Optimierung des Körpers durchsetzt, steht im Zentrum von Ta peau si lisse: Essen, Training, Arbeit, Essen, Training, Massage, Essen, ein unendlicher Kreislauf, der nicht unterbrochen werden darf, um ja keine wertvollen „gains“ zu verlieren. Gegen Ende des Films sieht man die Protagonisten dann zwar auch auf der Bühne und im Wrestling-Ring beim Wettkampf, doch der spielt nur eine Nebenrolle. Die „Competition“ ist nur ein kleiner Teil ihres Lebens, der Weg dahin ist das eigentliche Ziel, der eigentliche Lebensinhalt. Sehr viel mehr Zeit als beim Wettkampf verbringt der Film folglich bei der Vorbereitung, bei der Suche nach den letzten paar Prozent, um die eigene Leistung auszureizen: das Eintrainieren neuer Posen, die die Muskeln noch definierter erscheinen lassen, die Pflege des Barts, das Eincremen der Haut, alternativmedizinische Behandlungen zur Steigerung der Trainingseffizienz.

Zwischen Erotik und Komik

All dieser Einsatz, um am Ende angestarrt zu werden, egal ob beim Wettkampf auf der Bühne oder beim Spaziergang mit dem Hund. Côté betont, dass diese Menschen ihre Posen, ihre Auftritte, ihre prüfenden Blicke nicht als sexuell wahrnehmen und obwohl er versucht mit der Kamera ebenfalls eine solche professionelle Bewunderung auszudrücken, bleibt ein letzter Rest an fleischlicher Lust im Bild. Die nackte Haut sorgt automatisch für eine erotische Grundspannung, die aber ständig durch die Komik des streng kodifizierten Gebarens der Männer unterminiert wird. Der Überschuss an Männlichkeit, der zur Schau gestellt wird – das wird in Ta peau si lisse sehr deutlich – hat eine doppelte Wirkung. Der nackte, menschliche Körper in seiner ganzen Verletzlichkeit und Schönheit changiert beständig zwischen Lustobjekt und Witzfigur. Während nackte Frauen in unserer Gesellschaft in erster Linie mit der Lust in Verbindung gebracht werden und nackte Männer meist als komisch präsentiert werden, zeigt Côtés präzise Beobachtung der Männerkörper, dass diese Rollenverteilung schlicht eine Konvention patriarchaler Medienpraxis darstellt. Ta peau si lisse ist sowohl Körperstudie, als auch mediale Reflektion, sowohl präzise Alltagsdokumentation, als auch Ergründung einer hermetisch-abgeriegelten Subkultur.

Viennale 2017: L’Atelier von Laurent Cantet

L'Atelier von Laurent Cantet

Die Dardenne-Brüder haben den Höhepunkt ihres Schaffens allem Anschein nach bereits hinter sich. Ein seltsamer Zeitpunkt also, um einen Text mit einer positiven Bemerkung über die Belgier zu beginnen. Es hat sich aber ergeben, dass ich mit L’Atelier von Laurent Cantet einen Film gesehen habe, der mich besser begreifen hat lassen, was die Brüder Dardenne zu ihren Hochzeiten (und mit Abstrichen auch noch heute) ausgezeichnet hat. Sie stehen für die Popularisierung eines Filmstils, der „aus dem Leben gegriffen“ erscheint. Ihre einflussreiche Form der Inszenierung mit Handkamera und extremer Nähe zu den Protagonisten ist gleichermaßen ein Fluch, denn ihr Stil hat unzählige weniger talentierte Nachahmer gefunden. Die Nachahmer (und zum Teil auch die Dardennes selbst) haben die Form vulgarisiert, haben die Ästhetik der beweglichen, hektischen, „dokumentarischen“ Kamera zweckentfremdet und auf alle möglichen und unmöglichen Szenarien angewendet. Nähe wird dann oft hergestellt, wo sie eigentlich gar nicht ist. Eines haben die Dardennes in ihren besten Filmen nämlich beherzigt: dass der Realismuseindruck, den sie anstreben im Widerspruch zum Mythos steht. Das soll heißen, der Konflikt, der ihre Filme antreibt, kann eigentlich nicht in ihrer Ästhetik dargestellt werden, ohne fehl am Platz zu wirken. Die „suspension of disbelief“, die dafür notwendig ist, steht von Natur aus im Gegensatz zu jedem Versprechen einer authentischen Beobachtung des Lebens, die der Stil der Dardennes verspricht. Um dieses Dilemma zu lösen, geht der Konflikt ihren Filmen voran beziehungsweise er steht als Exposition ganz am Anfang: es ist jemand getötet, zurückgelassen oder arbeitslos geworden – die Prämisse steht fest bevor die Handlung des Films einsetzt. Was im Film gezeigt wird, sind die Folgen und Dynamiken, die sich aus diesem Ursprungskonflikt ergeben – das Ganze funktioniert in etwa nach der Struktur eines Whodunit.

L’Atelier zählt wie bereits Cantets Entre les murs ohne Zweifel zu den Filmen, die einen an die Filme der Dardenne-Brüder denken lässt – die Handkamera bleibt immer nah an den Figuren, regelmäßige dokumentarische Wackler sollen „Authentizität“ vermitteln. Am Anfang: eine Gruppe Jugendlicher und eine etwa 40-jährige Frau. Sie sammeln Ideen für einen Roman. Die Jugendlichen sind Teilnehmer eines Workshops für Arbeitssuchende, die Frau ist erfolgreiche Romanautorin. Statt den Sommer über in Aushilfsjobs zu arbeiten, sollen die Teilnehmer des Workshops ihre sozialen Kompetenzen und ihre Kreativität trainieren. Die Zusammensetzung der Gruppe scheint einem Leitfaden für Diversität zu folgen: da sind unter anderem zwei blonde Jungen, ein Schwarzer, zwei Araber. Selbst für ungeübte Ohren, klingt das Französisch der Jugendlichen aus dem französischen Süden deutlich anders, als der Pariser Intellektuellensprech der Schriftstellerin. Der Schauplatz des Films ist La Ciotat an der französischen Mittelmeerküste (seit den Lumières eine Stadt, die unweigerlich mit der Geschichte des Kinos verbunden ist). Gekonnt und nicht zu aufdringlich stellt Cantet die einzelnen Figuren vor und zeigt uns ihr Verhältnis zueinander. Besonders Augenmerk legt er auf Antoine, einen der zwei Workshop-Teilnehmer ohne Migrationshintergrund. Antoine verbringt seine Nachmittage schwimmend und sonnenbadend am Meer, seine Abende vor dem Laptop, wo er sich Promovideos der französischen Armee und eines rechtsextremen Demagogen ansieht, und seine Nächte mit seinem Cousin und dessen Freunden mit Alkohol, einer Pistole und Gewaltfantasien. Einen Protagonisten wie Antoine sieht man nicht allzu oft im Kino, zumal er nicht bloß als dummer, gewaltverherrlichender Psychopath dargestellt wird, sondern von Cantet mit Ambivalenz und charakterlicher Tiefe bedacht ist. Die ersten rund dreißig Minuten des Films lassen darauf hoffen, dass auf diese präzise und dichte Figurenbeschreibung mehr folgt.

L'Atelier von Laurent Cantet

Doch dann implodiert der Film und das hat mit dem zu tun, was ich eingangs über die Dardennes geschrieben habe. Die volatile Natur Antoines und seine kruden politischen Ansichten sorgen für Reibungen innerhalb der Gruppe. Dadurch gerät er in Konflikt mit den anderen Workshop-Teilnehmern und mit der Kursleiterin Olivia. Obwohl sie seine politische Haltung ablehnt, findet Olivia Gefallen an der rohen Energie, die in Antoine steckt und die sich auch in seiner Prosa äußert – es entwickelt sich eine beinahe erotische Spannung. Diese Spannung stilisiert Cantet zu einem monumentalen Konflikt hoch. Der Film zerbricht daran, die Form, die vermitteln will, dass es sich bei diesen Figuren und ihrer Umwelt, um einen Ausschnitt aus dem „echten Leben“ handelt, zerschellt an der filmischen Klimax, als Antoine mit Pistole im Anschlag vor Olivias Haus erscheint und sie wie in einem mittelmäßigen B-Western in die Wildnis führt. Der Film wirft die feine Psychologisierung und Figurenzeichnung des ersten Drittels des Films einfach über Bord, opfert sie einem Showdown, der in diesem Film eigentlich gar keinen Platz hat. Es scheint, als ob es diese Zuspitzung nur gibt, um die Spannung zu entladen, um überhaupt zu rechtfertigen, dass sich im Laufe des Films ein dramatischer Konflikt abgezeichnet hat.

L’Atelier steht und fällt mit seinem Höhepunkt. Der Film lässt die mühsam erarbeitete Tiefe und Ambivalenz einfach zugunsten einer Spannungsentladung verpuffen. Das ist sicherlich nicht das einzige Problem des Films – bereits an anderen Stellen folgt die Gruppendynamik eher dramaturgischen Vorgaben als einer genauen Beobachtung der Realität, wenn sich die Workshop-Teilnehmer, obwohl sie beinahe handgreiflich werden, trotzdem noch immer artig gegenseitig aussprechen lassen – die Gesprächskultur dieser „Problemteenager“ ist wahrlich beachtlich, ebenso ihr unumstößliches und stringentes Artikulieren gefestigter Weltbilder. An diesen Stellen spürt man ebenfalls schmerzhaft, wie das Drehbuch die Inszenierung erdrückt – genau das wussten die Dardennes in ihren besten Filmen stets zu vermeiden.

Viennale 2017: ★ von Johann Lurf

★ von Johann Lurf

Das Konzept von Johann Lurfs erstem Langfilm ★ ist schnell erklärt. Neunzig Minuten lang sind Sternenhimmel aus über hundert Jahren Filmgeschichte zu sehen. Lurf hat sich dazu einige Beschränkungen auferlegt – außer dem Himmel, den Himmelskörpern und gegebenenfalls Wolken und Satelliten darf nichts anderes im Frame zu sehen sein, auf der Tonspur ist immer der Ton des Originalfilms zu hören. Angeordnet hat Lurf die Ausschnitte streng chronologisch, das freilich lässt sich beim erstmaligen Sehen des Films nicht mit Sicherheit bestimmen. Zwar beginnt der Film mit Passagen aus Stummfilmen, die folglich ohne Ton präsentiert werden und man kann mit Fortdauer des Films erkennen, wie die Aufnahmen technologischer ausgereifter erscheinen, doch mit Ausnahme einiger Filmschnipsel, die man je nach filmgeschichtlicher Kenntnis verorten kann, löst sich das Rätsel der Logik der Montage erst mit den Ausführungen des Regisseurs. Man kann diese Form der filmischen Anordnung kritisieren, besteht die Arbeit des Filmemachers in diesem Fall eher in der Recherche der einzelnen Filmausschnitte, als in deren künstlerischer Zusammensetzung, doch das Resultat wirkt erstaunlich rhythmisch. Der Zufall als Cutter, ordnet die Sternenhimmel mal rasant wechselnd, mal langsam fließend an, Farben, Töne und Bewegungen folgen willkürlich aufeinander an, wirken aber weniger beliebig, als man meinen sollte. In seinen stärksten Momenten wirkt der Film wie ein sorgsam konstruierter Remix, ihn zu sehen ist ein manisches und zugleich sinnliches Erlebnis.

★ von Johann Lurf

Neben der visuellen Sensation, gibt ★ aber auch Auskunft über filmgeschichtliche Konventionen. Der Zusammenschnitt der Filme aus über einhundert Jahren lässt Rückschlüsse über die filmische Gestaltungsweise von Sternenhimmeln im Laufe der Jahrzehnte zu. Verschiedene Bewegungen kommen regelmäßig vor: das Eintauchen in den Sternenhimmel beziehungsweise dessen Gegenbewegung – das langsame Zurückziehen; später das langsame Abkippen vom Sternenhimmel in Richtung Horizontlinie (das im Film immer zu Ende geht, bevor die Oberfläche erreicht ist); der Blick in den Nachthimmel, wo Sternschnuppen (oder in einer parodistischen Variation, Satelliten) vorüberziehen; rasante Fahrten durch den Weltraum in Überlichtgeschwindigkeit, in der die Sterne ihre Erscheinung verändern. Auffällig ist auch die zunehmende, wissenschaftliche Präzision der Sternendarstellung. Während anfangs noch oft willkürliche Lichtpunkte vor dunklem Hintergrund zu sehen sind, werden in späteren Filmen öfter korrekte Darstellungen des Sternenhimmels ausgewählt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass erst die technischen Rahmenbedingungen geschaffen werden mussten, um überhaupt in den Nachthimmel oder in Planetarien filmen zu können (das war in größerem Rahmen erst nach dem Zweiten Weltkrieg möglich), später erleichterte die Möglichkeit der Simulation des Himmels mittels Computertechnik die korrekte Darstellung von Himmelskörpern. Größer gedacht legt der Film auch inszenatorische Konventionen offen, die nicht direkt mit der Darstellung des Sternenhimmels zu tun haben: Der rhetorische Stil der Erzählerstimmen, die sehr oft zu hören sind, verändert sich, ebenso die Musikuntermalung und die Dialogregie – auch die Weiterentwicklung der Tricktechnik kann am Beispiel der Sternenhimmel nachvollzogen werden.

Im Gesamtwerks Lurf, der bisher in erster Linie mit streng komponierten und rhythmischen ausgefeilten Bild-/Tonkompositionen auf sich aufmerksam machte, ist dieses 90-minütige filmhistorische Hasardstück zugleich Ausreißer, als auch logische Weiterentwicklung. Ausreißer wegen der Länge des Films, dem Produktionszeitraum von mehreren Jahren und der Form der Montage, Weiterentwicklung, weil es sich bei ★, wie bei seinen meisten anderen Filmen, um eine experimentelle Untersuchung handelt, in der die Erfahrungsweise bestimmter Bild-/Tonfolgen getestet wird. Wenn in Twelve Tales Told noch in kleinerem Rahmen die Regeln der Selbstinszenierung von Filmstudios in Frage gestellt wurden, so setzt ★ dieses Interesse Lurfs mit seiner Betrachtung filmischer Sternenhimmel fort. Lurf hat angekündigt sein Sternenprojekt noch weiter fortzusetzen, um irgendwann alle Sternenhimmel der Filmgeschichte in einem Mammutfilm zu vereinen. Ein kaum zu erreichendes Ziel (abgesehen davon, dass sicherlich bereits etliche filmische Sternenhimmel für immer verloren sind), aber eine sympathische Utopie.

Viennale 2017: Licht von Barbara Albert

Licht von Barbara Albert

Die Geschichte des Kinos hängt eng mit der Geschichte des Lichts zusammen. Licht wird durch einen optischen Linsenapparat eingefangen und von einem photochemischen oder digitalen Aufzeichnungsapparat empfangen. Bei der Vorführung wird das Aufgezeichnete durch den Einsatz von künstlichem Licht wieder zum Leben erweckt. Die Kamera kann als eine idealisierte Version eines automatisierten Auges beschrieben werden, eines Auges, das in der Lage ist Seheindrücke auf einer künstlichen Netzhaut festzuhalten, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederzugeben. Die Filmtheorie, Filmgeschichtsschreibung, Filmkritik sind voll von Metaphern zum Sehen und zum Auge.

Die Geschichte der Neuzeit, also jener Zeit, in der die Naturwissenschaften die geistige und moralische Führung des Menschengeschlechts übernommen haben, ist eine Geschichte der Ratio, eine Chronik der Verdrängung des Unerklärlichen durch die wissenschaftliche Evidenz. Diese Stigmatisierung des Unerklärlichen macht es zur verbotenen Frucht, daher auch die Anziehungskraft des Magischen, Mythischen. Was sich der Erklärung widersetzt, was als Überschuss von der Wissenschaft ausgestoßen wird, wird gerade deshalb für die Kunst interessant. Wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht fruchtet, kann die künstlerische Auseinandersetzung neue Erkenntnisse bringen, die jenseits der Ratio liegen.

Gibt es eines, das ich an Barbara Alberts Licht kritisieren müsste, dann wären es die Momente, in denen die Kamera die Perspektive der Protagonistin Maria Theresia Paradis einnimmt. „Resi“, wie sie von Freunden und Familie genannt wird, ist im Alter von drei Jahren schlagartig erblindet. Trotz jahrelanger Behandlung hat nie ein Arzt eine Erklärung für die Blindheit gefunden. Dafür hat Resi in Kindheitsjahren ein ausgesprochenes musikalisches Geschick am Klavier entwickelt für das sie in höfischen Kreisen bekannt ist. Resis Eltern sind dennoch unzufrieden mit der Entwicklung ihrer Tochter, die kaum den Idealen des österreichischen Adels gerecht wird. In einem letzten Versuch ihre Tochter zu heilen, schicken sie Resi zur Kur bei Franz Anton Mesmer. Mesmer verfolgt eine experimentelle Methode bei der er versucht mithilfe des natürlichen Magnetfelds Heilung herbeizuführen. Mesmer nennt die mysteriöse Energie mit der er arbeitet „Fluidum“, seine Behandlung wirkt wie eine Mischung aus Handauflegen und Chigong. In anderen Kontexten, würde Mesmer wohl als Scharlatan dargestellt werden, Resi springt jedoch auf seine Therapie an und beginnt langsam ihre Sehkraft zurückzugewinnen. Wo vorher nur Dunkelheit herrschte, beginnt Resi nun Farben, Formen und Silhouetten zu erkennen. Statt diese Eindrücke, wie auch die davor gewesene Dunkelheit indirekt – über das Verhalten Resis – zu beschreiben, wählt Albert an einigen Stellen POV-Einstellungen, in denen verwaschene, undeutliche, geisterhafte Eindrücke von Natur und Menschen zu sehen sind; der Versuch einer unmöglichen Aufzeichnung eines Sehens auf die Welt, das erst Sehen lernen muss.

Der Wahnsinn übt eine anhaltende Faszination auf Kunstschaffende aus. Es ist gerade sein Ausbrechen aus dem naturwissenschaftlichen Erklärungsmuster, das ihn zum Gegenstand ihres Interesses macht. Es wird versucht den Wahnsinn auszuschließen – Michel Foucault beschreibt das in Wahnsinn und Gesellschaft –, ihn zu brandmarken, als etwas Unnatürliches. Der Wahnsinn wird zusammengeführt an Orten, wie dem Schloss von Franz Anton Mesmer, wird „Spezialisten“ wie Mesmer übergeben, die jenseits der gebräuchlichen wissenschaftlichen Methoden arbeiten. Scharlatane, Quacksalber, Hochstapler werden sie genannt, doch was tun, wenn sie Erfolg haben? Die Kredibilität der gesamten Wissenschaft steht auf dem Spiel, wenn der Ausschuss des wissenschaftlichen Systems durch eine alternative Methode in die Gesellschaft rückgeführt werden kann. Das Asylum, der Ort der Zuflucht vor der Welt, hat kein Ort der Heilung zu sein.

Abgesehen von den Aufnahmen aus der Ich-Perspektive, die völlig unnötig Resis Blindheit entzaubern, ist Licht ein äußerst präziser und dichter Film. Das beginnt bei den Kostümen und Sets, deren Exaltiertheit auf historischen Begebenheiten beruht, die aus der Sicht des heutigen Publikums aber absurd und surrealistisch wirkt. Ähnliches gilt für die Sprache: der Adel spricht kodifiziert und wertet seinen Wortschatz durch französische Modewörter auf, das Gesinde spricht derber aber dafür effizient (man könnte über den Film auch als einen Film des Klassenkonflikts schreiben). Hinzu kommt das Spiel, getragen von Maria Dragus als Resi, deren vorsichtige, tastende Bewegungen nach und nach einer bestimmteren Form der Fortbewegung und Interaktion mit der Welt weichen. Rund um sie die höfische Gesellschaft mit ihrem hierarchisierenden Spiel von Ehre und Stellung. Aus diesen Bausteinen setzt Albert ein dichtes Mosaik an Eindrücken zusammen, das die doppelt eingeschränkte Lebenswelt von Resi meisterhaft abbildet: eingeschränkt durch das Fehlen des Gesichtssinns, aber auch durch die strenge Etikette der Gesellschaft. Als Resi die Gesellschaft verlässt und sich an einen Ort – Mesmers Schloss – begibt, der sich jenseits der Logik der Gesellschaft befindet, beginnt sich auch die andere Einschränkung zu lösen.

Licht ist ein Film über das Sehen (und somit über das Kino) und ein Film über die Ausschlussmechanismen der Gesellschaft. Es ist dabei unerheblich, dass der Film im 18. Jahrhundert spielt, abgesehen davon, dass die Eigenheiten sozialen Umgangs dieser Zeit uns aus heutiger Sicht auffälliger erscheinen. Das Grundverhältnis von Gesellschaft und dem gesellschaftlich Geächteten hat sich nicht gewandelt, ebenso wenig, wie das Verhältnis des Sehens zum Licht.

Dossier Beckermann: Scheitelpunkt (Wien retour)

Wien retour von Ruth Beckermann

Wien retour beginnt mit Aufnahmen einer Zugfahrt. Die Kamera filmt aus dem Fenster, während der Zug über die Nordbahnstrecke durch die Wiener Außenbezirke fährt. Die Eisenbahntrasse führt quer durch Floridsdorf und überquert schließlich die Donau, wo die Baustelle der Donauinsel zu sehen ist. Im 20. Wiener Gemeindebezirk endet die Zugfahrt am Bahnhof Praterstern, dem ehemaligen Nordbahnhof. Während die Kamera die urbane Landschaft aufzeichnet, werden die Opening Credits eingeblendet, als der Zug in den Bahnhof einfährt, setzt ein Voice-over-Kommentar ein.

Die Schauspielerin Paola Loew erklärt in nüchternem Ton, welche Bedeutung der eben zurückgelegte Weg für den Film hat: Der Nordbahnhof war früher die Endstation der Nordbahnstrecke, über ihn waren die Ostgebiete der K.-u.-k.-Monarchie an die Hauptstadt Wien angebunden. Wer aus diesen Gegenden nach Wien reisen wollte, der war auf der selben Strecke unterwegs, wie Ruth Beckermanns Kamera. Heute ist der Praterstern mit U-Bahn oder S-Bahn ans Stadtzentrum angebunden, früher musste man mit der Straßenbahn in die inneren Bezirke weiterreisen. Viele der Ankommenden aus dem Osten, so die Erzählerstimme, setzten ihre Reise jedoch nicht in Richtung Zentrum fort. Sie blieben in der Gegend rund um den Praterstern, im Zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt. Es waren vor allem jüdische Reisende aus dem Osten der Habsburgermonarchie, die zuallererst Verwandte oder Bekannte in der Leopoldstadt aufsuchten, denn nach dem Ersten Weltkrieg lebten dort rund 60.000 Juden. Das gab dem Stadtviertel den Beinamen „Mazzesinsel“.

Die Mazzesinsel ist auch der Titel eines Buchprojekts von Ruth Beckermann. Eingeleitet von einem Essay von Beckermann, versammelt der Band eine Fülle historischer Materialien – Reportagen, Fotografien, Liedtexte – über das Leben in der Zwischenkriegszeit in diesem jüdisch geprägten Viertel. Das Buch entstand als Folgeprojekt zu Wien retour, denn für den Film hatte Beckermann umfangreiche Recherchen zu dieser Zeit und diesem Stadtteil unternommen. Nicht alle Materialien, auf die sie stieß, konnte sie für den Film verwerten, manches kommt sowohl im Film als auch im Buch vor. Wien retour gab zu einem entscheidenden Zeitpunkt in Beckermanns Karriere den Anstoß zur Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte ihrer Heimatstadt. Die Jahre zuvor hatte Beckermann mit ihren Kollegen vom Filmladen am Verleih und der Produktion politischer Filme gearbeitet, die eine Gegenöffentlichkeit herstellen sollten. Es entstanden Reportagen über aktuelle Streiks und die Situation der Arbeiter in Österreich.

Wien retour von Ruth Beckermann

Franz West: Kommunist, Jude

Mit Wien retour wendete sich Beckermann der Vergangenheit zu. In Franz West fand sie einen Protagonisten für ihren Film, der sowohl über die Geschichte der Linken als auch über die Geschichte der Juden in Österreich berichten konnten. Franz West (ursprünglich: Franz Weintraub) war eine bedeutende Figur der kommunistischen Bewegung in Österreich. West wurde 1909 als Sohn einer jüdischen Familie in Magdeburg geboren. Die Familie übersiedelte jedoch 1924 nach Wien, wo sie in den Folgejahren im jüdisch geprägten zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, lebte. Bereits in der Schulzeit schloss er sich dem Verband Sozialistischer Mittelschüler (VSM) an. Während seines Jusstudiums (1928–1933) war er im Verband Sozialistischer Studentinnen und Studenten Österreichs (VSStÖ) aktiv, konnte jedoch aufgrund seines politischen Engagements sein Studium nicht abschließen und wurde des Landes verwiesen. Als illegaler Funktionär der verbotenen Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) arbeitete er im Untergrund weiter. Erst als der austro-faschistische Ständestaat von den Nationalsozialisten übernommen wurde, emigrierte er kurz vor dem Anschluss Österreichs nach England. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Österreich, wo er unter anderem als langjähriger Parteifunktionär der KPÖ und als Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung Volksstimme tätig war.

Eine faszinierende Biographie, der sich Beckermann über die eingangs beschriebene Zugfahrt annähert. Nach der Ankunft des Zugs am Bahnhof Praterstern und dem einführenden Kommentar von Paola Loew, der mit der Einblendung historischer Fotografien unterlegt ist, springt die Kamera zur Prater Hauptallee, einer von Bäumen gesäumten Flaniermeile im städtischen Naherholungsgebiets Wiens. Dort tritt Franz West das erste Mal vor Beckermanns Kamera. Er erzählt, zwischen Joggern und Spazierenden, von den Naziaufmärschen Mitte der 30er Jahre an diesem Ort. Nach einer weiteren überleitenden Passage, in der Archivmaterialien gezeigt werden, verlagert sich der Film in Franz Wests Büro. Im weiteren Verlauf des Films beschreibt West das Leben in der Leopoldstadt zwischen 1924 und 1934.

Wien retour von Ruth Beckermann

Biographie einer Nation

West ist ein Stellvertreter. Zwar erzählt er aus einer subjektiven Perspektive von seinen Erlebnissen, es gelingt ihm jedoch von seinem eigenen Schicksal zu abstrahieren, über seine eigene Biographie die Geschichte des ganzen Viertels zu erzählen. Wien retour ist eine historische Quelle im Sinne der Oral History, ein Talking-Head-Dokumentarfilm über eine historische Epoche in der Geschichte Wiens und Österreichs und gleichzeitig viel mehr als das. Seine Stimme ist die eines jüdischen Wiener Intellektuellen, mit einer Sprachfärbung, die in der Zwischenkriegszeit kultiviert worden war und mit der jüdischen Kultur des Stadtteils unterging. Heute gibt es niemanden mehr, der so spricht wie Franz West. Zugleich ist er ein meisterhafter Geschichtenerzähler, der bildmächtig das jüdische Leben in der Leopoldstadt der Zwischenkriegszeit beschreibt, das politische Klima im „Roten Wien“, das Erstarken faschistischer Kräfte und die Unterdrückung sozialistischer und demokratischer Kräfte. So übersteigt die audiovisuelle Aufzeichnung seiner Biographie den Rahmen eines historischen Dokuments. Was Stefan Zweig Jahrzehnte vor ihm mit Die Welt von Gestern in Buchform leistete, gelingt Beckermann und West mit Wien retour: eine brillante Studie über die österreichische Seele als Nacherzählung des eigenen Lebens.

Christa Blümlinger beschrieb Wien retour treffend als ein „Porträt über einen jüdischen Wiener Kommunisten, in dessen Biographie sich die Katastrophen und Widersprüche des vergangenen Jahrhunderts eingeschrieben haben.“ Der Film ist in dieser Hinsicht ein paradigmatisches Werk in der Filmographie Beckermanns. Er ist der Scheitelpunkt, an dem ihr Interesse für filmische Gestaltung, ihre politisch-aktivistischen Ziele zu überschatten beginnt. Auch thematisch steht der Film zwischen den politischen Reportagen der späten 70er und frühen 80er und den Essayfilmen, die kommen sollten. Beckermann selbst beschreibt Wien retour als den letzten ihrer Filme, der entstand, bevor sie ihren persönlichen Filmstil gefunden hat, und den sie dementsprechend heute ganz anders machen würde. Trotz dieser Selbstkritik ist Wien retour aufgrund seiner Materialfülle und nicht zuletzt wegen seines faszinierenden Protagonisten eines der Hauptwerke in Beckermanns Œuvre.

Dossier Beckermann: Rote Fäden (Those who go those who stay)

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Wo soll man bloß anfangen?

Mit Those who go those who stay zieht Ruth Beckermann nach über dreißig Jahren des Filmemachens in vielerlei Hinsicht Zwischenbilanz. Ein solches Resümee, so könnte man meinen, fasst lose Enden zusammen, ergänzt bisher Nicht-Erzähltes oder Nicht-Gezeigtes, gibt Auskunft über Motivationen für das Filmemachen, schließt ein Kapitel, einen Lebensabschnitt ab. Those who go those who stay ist da anders: das Unabgeschlossene Beckermanns früherer Filme findet hier keinen Abschluss, sondern eine Fortsetzung, kein Gedanken daran verschwendet die mannigfaltigen Themen und Motive ihrer vorherigen Arbeiten in einem letzten Kraftakt zu einem Gesamtkunstwerk abzurunden. Nein, diese Zwischenbilanz ist widerständig. Sie lässt trotzdem deutlicher werden, was Beckermann in ihrem Filmschaffen antreibt. Im Kern geht es nämlich darum, einen Film nicht als endgültiges, unumstößliches Urteil zu verstehen, sondern um eine Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen der Welt. Those who go those who stay ist folgerichtig keine Zusammenfassung einer spezifischen Position, sondern ein Angebot noch einmal Bilder und Töne der Welt zu sichten und zu hören, die bisher eine wichtige Rolle in Beckermanns Werk gespielt haben. Ein roter Faden ergibt sich nicht aus der Zusammenführung verschiedener motivischer Stränge, sondern aus der Verdichtung parallellaufender roter Fäden, die sich mal deutlicher, mal weniger deutlich durch ihr Werk zogen.

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Assoziative Sprünge durch Raum und Zeit

Die Schwerpunktsetzung lagert Beckermann dabei auf das Publikum aus und geht dabei noch radikaler vor als sie das in ihren früheren Filmen getan hat. Kaum etwas verbindet die kurzen, oft jäh abbrechenden Episoden, die Beckermann zu diesem Film zusammengesetzt hat, außer einem Willen zur Assoziation und vor allem zur Neugier. Welche Orte sind das, die sie bereist: ist das Wien? Paris? Israel? Czernowitz? Italien? Welche Menschen sind das, mit denen Beckermann spricht: ist das ihre Mutter? Freunde? Feinde? Flüchtlinge? Was „erzählt“ ein Film, der so wild durch Raum und Zeit springt: ein Krankenhausbesuch bei der Mutter; dann ein Gespräch mit Matthias Zwilling, einem der letzten Juden in Czernowitz (wo Beckermanns Vater geboren ist); dann wieder ein Besuch einer FPÖ-Veranstaltung am Wiener Stephansplatz; zwischendurch Aufnahmen aus Israel; gegen Ende afrikanische Flüchtlinge in Süditalien – einige Jahre bevor neue Kriege und neues Leid Europa einen Flüchtlingsstrom bescherte, der verheerende politische Kurzschlussreaktionen auslöste.

Mögliche Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Vignetten lassen sich mühelos herstellen. Die Volkstümelei der FPÖ trifft auf die weit entfernte Not abgekämpfter Flüchtlinge, deren Fluchtroute sich zu weiten Teilen mit jener der Mutter deckt, als sie 1938 Wien verlassen musste. Sie floh freilich in die andere Richtung: Nach Israel, dem „Land der einzigen Möglichkeit“, zu dem Beckermann – und viele andere, die dieses Land nicht primär als theologische Konstante verstehen – ein schwieriges Verhältnis hat. Verbindungen über Verbindungen, Querverbindungen über Querverbindungen. Es hilft natürlich, wenn man über ein gewisses Vorwissen besitzt, wenn man Those who go those who stay sieht. Dann lässt sich Beckermanns Verhältnis zu den Menschen und zu den Orten im Film besser ausloten und verstehen. Tatsächlich ist ein solches Vorwissen aber nicht zwingend notwendig. Es war der erste Film von Beckermann, den ich überhaupt gesehen habe und er funktionierte auch ohne viel Verständnis für die persönliche Beziehung der Filmemacherin zu den Sujets ihres Films, denn die Fragen, die der Film verhandelt sind universal, die Gespräche und Gesprächsfragmente geben genug Information, um sich selbst einen Reim zu machen.

Those Who Go Those Who Stay von Ruth Beckermann

Teppich der Erfahrungen

Darin liegt eine Qualität von Beckermanns Filmschaffen: im freien Changieren zwischen Individualität und Universalität. So wie es Franz West in Wien retour gelingt aus seinem eigenen Schicksal auf das Schicksal der österreichischen (und europäischen) Juden zu abstrahieren, so gelingt es Beckermann in ihren Filmen aus einer biographischen Erzählung, über die Existenz und Identität eines ganzen Volks zu reflektieren. Those who go those who stay macht evident, dass eine solche Reflektion nicht über einen philosophischen Kommentar stattfinden muss, der erklärt, wie all diese Bilder und Töne zusammenhängen; und auch nicht über kathartische Momente oder andere Versuche Emotionen zu konstruieren. Die Zusammenhänge stellen sich dann her, wenn die Bilder und Töne aufeinandertreffen – und auf den Erfahrungshorizont des Publikums. Beckermann tritt mit Kamera und Tonaufnahmegerät den Menschen und der Welt gegenüber und breitet einen Teppich aus Fragmenten aus. Ein wirrer, löchriger Teppich ist das, ein Teppich, an den man herantreten muss, an dessen Vervollständigung man selbst arbeiten muss.

Wo soll man bloß aufhören?

Griechenland – Ein Bilderalbum (Von Griechenland von Peter Nestler)

Von Griechenland von Peter Nestler

Griechenland ist ein beliebtes Urlaubsziel.

Von Griechenland von Peter Nestler

Peter Nestler fährt nach Griechenland.

Von Griechenland von Peter Nestler

Er sammelt Bilder.

Von Griechenland von Peter Nestler

Nicht für ein Urlaubsalbum.

Screenshot 2017-08-04 00.03.21

Für ein Fotoalbum anderer Art.

Von Griechenland von Peter Nestler

Eines der Menschen.

Von Griechenland von Peter Nestler

Und der Geschichte.

Von Griechenland von Peter Nestler

Aristoteles definierten den Menschen als zoon politikon, als politisches Wesen. Aristoteles war Grieche.

Von Griechenland von Peter Nestler

Die Menschen zeigen.

Von Griechenland von Peter Nestler

Ist das Kommunismus?

Von Griechenland von Peter Nestler

Oder kann das weg?

Von Griechenland von Peter Nestler

Der Faschismus muss überwunden werden.

Von Griechenland von Peter Nestler

Es wird ein freies Griechenland geben.

Von Griechenland von Peter Nestler