Friaulische Kassiber: Durch Wolken gehen

In Clauzetto, auf dem balcone del Friuli, steckt eine Wolke. Sie steckt fest. Ihr schwerer weißgrauer Bauch kommt nicht über die Hänge und fällt auch nicht ins Tal. Langsam anschwellend verharrt dieses undurchdringliche Gemisch aus Wassertropfen zwischen Karstfelsen und der sich in den zähen Wolkenfängen verheddernden Sonne. Wer hinauf zum Monte Pala wandert, durchlebt die Gezeiten einer Wolke. Ich schreibe dir davon. Es ist eine Anleitung, um zu schweben. Oder eine verblassende Nachricht von der Rückseite des Himmels.

a: Am Anfang blickt man sie über sich und erkennt graue und weiße Schwaden, zu massig, um als Schleier durchzugehen, zu verhüllend, um Unterscheidungen treffen zu können. Diese Wolke verfärbt die unter ihr liegende Landschaft in graue Dumpfheit.

b: Etwas höher erkannt man den Beginn der Wolkenschicht, den Übergang von Luft zu Wasserluft, von Klarheit zu Trübsal. Man sieht feinste Schlieren, die wie unzählige Finger aus dem gräulichen Dickicht nach unten greifen, um sich jeden Tropfen aus der Atmosphäre einzuverleiben, seien es Tränen, Speichel oder Schweiß. Hier spürt man einen Regen, der in der Luft zu stehen scheint.

c: Dann geht man hindurch, man geht durch, man wechselt von einem Zustand in den nächsten, man verlässt die Welt der Eindrücke und landet in einer sichtlosen Stille. Sofort entfernen sich die Geräusche, kaum ein Vogel wagt sich ins Innere der Wolke und selbst das an den Ästen auftauende Laub raschelt nicht mehr. Das Wolkenscharnier ist hier, die Schwelle zwischen dem Gehen und dem Schweben.

d: Weiter oben, im Kern der Wolkennässe fällt Schnee statt Regen. Aber es ist nicht nur das. Die Flocken fallen jetzt nicht mehr, sie steigen und stehen und wirbeln und fallen und fliegen zugleich. Die Nässe kommt nun richtungslos. Es gibt überhaupt keine Richtung mehr, man dreht sich um ein sich verschiebendes Zentrum, blickt durch diffuses Licht, eigentlich ein Unlicht, das jederzeit droht in tausend Teile zu zerfallen. Man ist in einem Körper, der unablässig zerfällt und sich neu zusammensetzt, der droht sich zu verlieren, wenn er das, was er trägt, aufgibt.

e: Schließlich stößt man an die Wolkendecke. Hier ist es heller. Die Sonne klopft gegen eine zerberstende Wand aus Eiskristallen, die Aerosole tanzen in den warmen Strahlen, der Weg, dem man so blind folgte, wird wieder sichtbarer, man merkt jetzt, dass man ganz durchnässt ist, nicht wie sonst, sondern von Innen heraus, man ist selbst Nebel geworden. Man atmet Wasserdampf und schlüpft aus dem Grau in ein weltfremde Überlegenheit. Hier kreisen die Adler.

f: Jetzt ist man ein Wolkenflüchtiger. Man wischt sich die Nässe aus dem Gesicht und merkt, dass man etwas jünger wurde. Nicht viel, nur so viele Stunden, wie es dauert, bis der erste Tropfen fällt. Bis sich alles auflöst und von vorne beginnt.

Vergiss nicht deine Regenjacke.

Dein,
Patrick

Ein Mann ist keine Nacht: Verbrannte Erde von Thomas Arslan

Contra ius interea solum nocte, gegen das Gesetz, aber nur bei Nacht: dieser von Anne Carson so niedergeschriebene und von sprachlicher wie seelischer Dunkelheit durchzogene Beispielsatz für das lateinische Adverb interea beschreibt auch das Kino, zumindest ein bestimmtes Kino, beispielsweise den Gangsterfilm, nach seiner Schwärze in bestimmten Ausprägungen auch Noir getauft, den, der sich den zerbrechlichen Verbrechern statt den mit ihrer eigenen Moral hadernden Polizisten (Cops) widmet, den, der wie Nicholas Ray einmal feststellte, von den sensibelsten Menschen handelt, jenen, die es nicht mehr aushalten und die sich deshalb am Rand, im Schatten (so der Titel des ersten Films von Thomas Arslan über den Verbrecher Trojan), außerhalb der Norm bewegen, von denjenigen also, die nicht anders zu leben wissen oder getrieben sind, von denjenigen, die in den guten Filmen (Melville, Mann, Ray) immer ein Rätsel bleiben, nicht weil sie etwas verbergen, sondern weil etwas in ihnen stumm bleibt, ein Schmerz vielleicht, eine Ahnung, eine Einsamkeit, Verlorenheit, man weiß es nicht, aber was auch immer es ist, es lässt sie handeln, wie sie eben handeln.

Verbrannte Erde ist ein solcher Film, ein Film der Nacht gewidmet und auch den einzigen Fragen, die sich in dieser Zwischenzeit des Seins, der Nicht-Zeit (Arslan findet seine Berliner Nicht-Orte nicht nur in der sich zunehmend von sich selbst entfernenden Geographie der deutschen Hauptstadt sondern auch in den Zeiten, an denen sich diese Orte in ein Nichts verwandeln und so ihren eigentlichen Sinn erst bekommen) stellen, nämlich: Kann ich dir trauen? Wohin gehst du? Was ist dein Preis? Alles andere ist unnötiges oder sehnsüchtiges Zwischenspiel wie ein kurzes Gespräch zwischen Trojan (schmallippig, mit der durch die Muskeln fließenden Anspannung eines vom Leben Geschundenen gespielt von Mišel Matičević) und Diana (Marie Leuenberger), in dem das „andere Leben“, das, was diese Nachtkreaturen umtreibt, wenn mal Tageslicht herrscht, seltsam verpufft, mit einem Augenfunkeln vielleicht, aber das bleibt Interpretationssache, denn wer hier zu viel von sich verrät, macht sich verletzbar.

Dieser Verbrecher, der hier mit einer undurchsichtigen Bande ein Gemälde Caspar David Friedrichs stehlen soll, so viel ist klar, ist ein klassischer Verbrecher (in dem Sinn, dass er einem Kino entspringt, das sich nicht erklären muss), einer, den es vermutlich nicht mehr gibt in der Wirklichkeit, vermutlich gar nie gab, eine Erfindung des Kinos ist er, aber im Kino gibt es ihn auch nicht mehr. Er ist der Verbrecher, der gerechter ist als die Ungerechten, die ihn umgeben, der moralischer ist als die Unmoral der Gesellschaft. Aber auch nur vielleicht, viel wissen wir auch nach zwei Filmen nicht über ihn. Er, der gleich in den ersten Bildern einer Autofahrt wie aus der Nacht geboren zu werden scheint, ist jedenfalls der, dem man Erfolg wünscht, sei es, weil man sich in seiner Einsamkeit wiederfindet oder weil er einmal ein gutes Herz zu zeigen scheint oder weil die, die ihn bedrohen, noch viel schrecklicher sind als er oder weil diese Stadt nicht mehr die gleiche ist, weil alles verendet, aber er an etwas festhält, was einmal intakt schien. In diesem Sinn ist Verbrannte Erde, obwohl er aufgrund seines simplen, stringenten Plots auch Adrenalin zuführt, ein von in die Nacht kippender Musik begleiteter Meta-Film, ein Film über etwas Geisterhaftes, eine kleine Erinnerung an das, was das Kino einmal getan hat. Wer hierin Nostalgie findet, muss sich bewusst machen, dass in der Nacht alles Vergangene näher rückt und alles Gegenwärtige einer Verformung anheimfällt, die es als das entlarvt, was es ist … anders formuliert: Die Schweigsamen herrschen dann, wenn die Redenden schlafen, die Toten leben länger (wie anders ist die scheinbare Unversehrtheit des niedergeschossenen Trojan gegen Ende des Films zu erklären?) und die Gesetze werden lächerlich im Angesicht der Gerechtigkeit. Das ist Kino, ruft einer an der Straßenecke, aber seine Worte werden von der ignoranten Nacht verschluckt.

Friaulische Kassiber: Sedimentgestöber

Bei San Pietro ist der Tagliamento von eisigem Celeste. Sein Flussbett erstreckt sich wie ein steingewordener Ozean zwischen zwei Klippen, auf denen alte Befestigungsanlagen den nächsten Krieg erwarten. Wir stolpern zwischen den sich auftürmenden Schlamm- und Kalksteinen, in die sich das südlich stürzende Wasser eingeschrieben hat: Rillen, Kerben und Lebenslinien in dieser grobkörnigen Ablagerungsgesellschaft. Du findest einen Kiesel mit den Jahresringen einer Rinde. Du steckst ihn in deine Jackentasche, als könne er dir die Zukunft voraussagen.

Ich zähle die Jahre: Zweihunderttausendjährige Schotterablagerungen, vierhundert Jahre ins Gefälle eintauchende Sandsteine, einhundertzehntausend Jahre seit der Vergletscherung, sich seit Jahrtausenden zersetzendes Geröll, einhundertundzehn Jahre seit ein verblutender Soldat der österreichisch-ungarischen Armee den Stein zwischen seinen Fingern hielt, damit das Sterben leichter fiel, achtundfünfzig Jahre seit hier alles überschwemmt wurde, nur noch ein paar Jahre bis zum Bau eines Staudamms an dieser Stelle, zwanzig Jahre bis zum nächsten Erdbeben, das nur die Steine überleben werden. Kannst du dir das vorstellen, du mit deinem Ringelstein in den Taschen und dem Lächeln, das immer nur dem flüchtigen Moment gilt?

Mitten im Flussbett liegt eine niedergerissene und hier vor langer Zeit versandete Weide. Schwemmgut, aber sie blüht. Silbrige Blütenkätzchen zittern in der Flussluft. Die vor Jahren aus der Erde gerissenen Wurzeln der Weide haben zwischen den Steinen neuen Halt gefunden. Die Kohlmeisen und Amseln halten Abstand. Sie zwitschern entfernt von den Zweigen der Ufereschen, ganz so, als ahnten sie, dass das Wasser hier jederzeit ansteigen und alles mit sich reißen könnte: Die Menschen, die Tiere, die Geschichte und all diese Steine, die sich dann anderswo ablagern würden.

Ich weiß nichts von alldem, bin nur ein Taumelnder auf diesen glitschigen, aus der Erde hervorragenden Körpern, den Knochen der Erde, den Opfern der Gorgonen. Ob sie sich einst wieder zusammensetzen, zu neuem Leben erwachen? Du stehst neben der Weide und ich zähle die Steine, die wir zusammen gesehen haben.

Dein,
Patrick

Friaulische Kassiber: Storchengeklapper

Etwas östlich des Tagliamento stehen die Äcker unter Wasser. Krokusse, Schneeglöckchen, Gänseblümchen umsäumen das zwischen Maulbeerbäumen schwimmende Schlammland, fango wie sie hier begleitet von warnenden Gesten sagen, um uns zur Umkehr zu bewegen. Wir gehen weiter und sinken ein, verklumpte Ballen aus Erde, Unrat, Kot und plattgetretenen Blüten haften sich an unsere Sohlen. Wir nehmen sie unbemerkt mit uns, setzen sie woanders wieder ab. Das Leben eines solchen Klumpen Drecks, es ist nicht zu fassen, denn kein Zustand bleibt jemals der gleiche, alles metamorphisiert sich endlos, war bereits etwas anderes, bevor wir ihm als Dreck entgegentraten.

Unser Blick neigt sich folglich trotz des unwirklich und überwältigend im nahenden Wolkenschwarz aufblitzenden Schneefelsenpanoramas der Alpen zu Boden. Wir beobachten, das bei jedem sachte gesetzten Tritt aus den Erdporen schießende Gadschwasser, hören die körperlichen Sauggeräusche und bemitleiden einen von brauner Ackerkrume benetzten Schmetterling, der sich knapp über dem Boden hält, torkelnden Flugs den nahen Frühling entgleiten sieht. Wir verlieren uns aus den Augen, sehen nur noch unsere Fußtritte zwischen den Schalenspuren einiger Rehe.

Mit einem Mal aber vernehmen wir einen wie entfernte Holzschlägel schallenden Sonnenruf aus der über uns aufreißenden Wolkenschicht. Wir richten unsere Augen nach oben, du auf der einen Seite des Feldes und ich auf der anderen. Vor dem sich nun zeigenden Blau kreisen mehr als zwanzig Störche, was sage ich, es müssen fünfzig sein. Mehr noch als der Augeneindruck dieser sich riesig am Himmel abzeichnenden Wesen, durchdringt uns ihr Klappern, dieses wie sein eigenes Echo hervorbrechende Rufen.

Nachdem wir so einige Minuten in den Himmel blinzeln, rufen wir uns über die Weite zu, du mit einer Krokoskrone um dein Haupt, ich mit langem Storchenhals, beide voller Dreck und etwas müde vom vielen Schauen. Ich hoffe, du erinnerst dich.

Dein,
Patrick

Notiz zu Zeuxis

Wie kann es sein, dass einer, der Trauben malt, so wirklichkeitsgetreu, so blau, dass selbst die Vögel darauf reinfallen und versuchen, die Früchte aus der Leinwand zu picken, einen Wettstreit zwischen Malern verliert? Ich bin mir nicht sicher, habe ich doch den von Parrhasius aufgemalten Vorhang nie gesehen. Wenn ich den Berichten aber Glauben schenke, dann hat Zeuxis vor allem deshalb verloren, weil seinem eigenen Blick mehr Vertrauen entgegengebracht wurde, als dem der nickhäutigen Vögel.
Dabei sollte sich doch vor 2500 Jahren schon herumgesprochen haben, dass die Vögel schwerer zu täuschen sind als die Menschen. Es mag sein, dass manche von ihnen gegen Flächen fliegen, die sie für Luft halten, aber für gemeinhin lassen sie sich nicht von menschlichen Trugbildern in die Irre führen, während die Menschen nur allzu gern und andauernd auf sich selbst hereinfallen. Das gilt auch für andere Tiere. Wenn beispielsweise eine Katze auf eine Photographie reagiert, dann weiß man, dass sich im Bild etwas bewegt, was wir Menschen gar nicht sehen können.
Ich frage: Wer kann Naturtreue besser beurteilen als die Vögel? Sicher nicht die Menschen. Ich fordere daher eine Neuaustragung des Wettstreits. Über den Sieger bestimmen der über das Pergament streichende Wind, das farbentziehende Sonnenlicht und die vorbeisegelnden Motten.
Vielleicht aber wäre es, Yves Bonnefoy hat darauf hingewiesen, ohnehin besser, wenn weder wir noch Zeuxis so sehr danach streben würden, die Natur nachzuahmen. Stattdessen könnte man sich an Cézannes Ausspruch orientieren, dass die Natur nicht in der Oberfläche, sondern in der Tiefe wäre und demnach denjenigen zum Sieger küren, vor dessen Bild die Vögel ganz ruhig säßen, weil sie im Bild erkennen würden, dass es der gleichen Welt entstammt, in der sie zwischen den Zweigen nach Trauben suchen.

Notiz zu La condanna von Marco Bellocchio

Gut, möchte man meinen, dass Sigmund Freud keine Filme drehte. Hätte er aber doch würde das Ergebnis wohl in etwa so aussehen wie Marco Bellocchios seltsamer La condanna. Teilweise gedreht im betörenden Halblicht der Villa Farnese in Caprarola und in Anwesenheit eines beratenden Psychologen balanciert der Film auf einem mehr als fragwürdigen Drahtseil was Fragen der sexualisierten Männlichkeit betrifft. Zunächst zeigt der Film, wie eine Frau und ein Mann sich in einem geschlossenen Museum verführen. Die beiden sind dort eingesperrt, so glaubt die Frau, bis der Mann später gesteht, dass er den Schlüssel habe. Daraufhin zeigt die Frau den Mann wegen Vergewaltigung an. Vor Gericht breitet der Angeklagte dann seine Philosophie über das Unbewusste der Sexualität und die Wahrheit des weiblichen Orgasmus aus. Die zuvor gezeigten Bilder im Museum geben ihm Recht, es ist ganz klar, auf wessen Seite der Filmemacher steht. Der etwas lachhaft inszenierte Staatsanwalt, der (man hört den psychoanalytischen Holzhammer) seine Partnerin nicht zum Orgasmus bringen kann, wird von der in sich ruhenden Aftershave-Aura des Angeklagten angestachelt und verunsichert und verliert sich in einer existenzialistischen Krise. Diese armen, schwitzenden Männer.

Die Frauen im Film, auch diejenige, die den Mann anklagte, fühlen sich alle vom verurteilten Vergewaltiger angezogen. Sie starren ihn verliebt an und werfen ihm eine Rose zu. Die Botschaft ist so eindeutig wie abartig: Die Frauen, meint Bellocchio, würden genau jene Eigenschaft in einem Mann suchen und bewundern, die diesen auch dazu veranlassten, sie zu vergewaltigen. Aha. Man blickt einigermaßen schockiert auf einen solchen Satz genau wie man die moralischen Entwicklungen im eigentlich gediegen daherkommenden Film betrachtet. Ob das nun bloße Provokation oder ernstgemeinte Auseinandersetzung mit der Komplexität sexueller Begegnungen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Das Problem ist, dass die durchaus mysteriöse, zumindest ambivalente Stimmung des Anfangs mit einer seltsamen Eindeutigkeit aufgelöst wird, indem behauptet wird, dass ein wie auch immer geartetes Verhalten in der Natur eines Geschlechts angelegt sei. Das ist dann nicht nur auf lächerliche Weise simplifizierend, sondern genauso reaktionär wie die bürgerlichen Vorstellungen von Sexualität, die Bellocchio womöglich angreifen wollte.