mala parte

Liliana Cavani im Österreichischen Filmmuseum, Jänner/Februar 2024

Text: Sandro Huber

Es gibt nicht viele Orte. Die Westbahnhofhalle ist manchmal einer, das Filmmuseum ist ein anderer. Als Kino ist es unsichtbar, deshalb kann man darin sehen. Zum Beispiel bei der Werkschau von Liliana Cavani in diesem milden Februar, der zum Flanieren einlädt. Wien hält sich gern für die Riviera, die Luft fehlt ihm nicht, es hat Maria am Gestade, die Kärnterstraße geht nach Süden. Die Italienerinnen kommen gern, auch ins Filmmuseum, nicht ganz so viele wie letztes Jahr zu Pasolini. Untertitel gibt es oft nur auf Englisch, das ist nicht schlimm.

Im Filmmuseum gibt es genug zu tun, die Preise dafür bleiben leistbar, auch zweimal für denselben Film. So kann man etwas lernen. Drei Stockwerke darüber in der Albertina kostet es das Doppelte, den Leihgaben gelangweilter Milliardäre dabei zuzusehen, wie sie dadurch an Wert gewinnen, oder in den erzherzoglichen Prunkräumen sich ein wenig zu dehnen, bitte eigene Matte mitzunehmen, sofern nicht gerade geschlossene Gesellschaften stattfinden. Dank privater Gelder gehört das Künstlerhaus nun auch dazu. Die Zeichen stehen wieder auf Repräsentation. Bald wird man in Mailand sein, so es nicht schon zu spät ist wie 1968. Was sich durchsetzt, sind nicht die Cannibali, laut Soundtrack as happy and wild and free as a man was meant to be[1], sondern alte und neue Paläste, Strukturen, zu deren Errichtung Organisationen nötig sind, deren Größe allein den Einzelnen verneint. Bauten, die ohne Staat oder Schlimmeres nicht gehen. Es überrascht nicht, diese Straßen mit Toten gepflastert zu sehen. Dazu bräuchte es keinen niedergeschlagenen Aufstand, kein Verbot der Regierung sie zu begraben, der Verkehr allein würde reichen. Der Ruß an den Fassaden von Ämtern und Banken zeigt außen an, was innen Tödliches am Werk ist. Im Innenhof eines Gebäudes mit Freitreppe, Wachposten und Eisengitter, das sich auf Befehl im Boden versenkt, steht eine Augustus-Büste, ein Kopf allein so groß wie ein ganzer Mensch. Staatsoberhaupt, Bauherr, Pontifex Maximus. In Rom waren Religion und Staat eins, noch bis 1870. Ein Jahrhundert später scheint in Mailand, Residenzstadt seit Diokletian, die Trennung verkraftet: Das Fresko in der Kirche zeigt Gepanzerte, der Legat mit roten Schuhen geht segnend der Straßenreinigung voran. Die Leichen bleiben liegen. Sie können nicht mehr widersprechen. Es würde sie auch niemand verstehen, denn sie hätten nichts zu befehlen. Death to all who touch the rebels‘ bodies steht an den Wänden. Man versteht die Anordnung. Abbassatevi sagt das Kind in der Offiziersjacke in der Sauna, und die Nackten gehorchen. „Die Grundeinheit der Sprache – die Aussage – ist der Befehl oder das Kennwort, die Parole. Anstatt den gesunden Menschenverstand zu definieren, also das Vermögen, das die Informationen zentralisiert, sollte man eher jene scheußliche Fähigkeit definieren, die darin besteht, Befehle auszugeben, zu empfangen und zu übermitteln. Die Sprache ist nicht einmal dazu da, um geglaubt zu werden, sondern um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen. […] Das wird recht deutlich an Verlautbarungen der Polizei oder der Regierung, in denen man sich nur wenig um Wahrscheinlichkeit oder Wahrhaftigkeit bemüht, sondern deutlich sagt, was man zu beachten hat und was man sich merken soll. Die Gleichgültigkeit dieser Erklärungen gegenüber jeder Glaubwürdigkeit grenzt oft an Provokation.“[2] Rebels = Garbage wird später an den Wänden stehen, als die nicht begrabenen Körper beginnen zu verwesen. Wahr ist, was wahr gemacht wird. Rebels. Make. You. Vomit. Auch das stimmt. Die Bürger sitzen im Park, halten sich Taschentücher vor die Nase, lesen Bücher. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Die öffentliche Sicherheit beruht auf der Mitarbeit aller demokratischen Kräfte heißt es im Fernsehen. Widerspruch ist zwecklos, erkennt Antigone schon bei Sophokles Die Erde, mit der sie dem ausgesprochenen Verbot zuwiderhandelnd ihren Bruder bedeckt, um dem Recht der stummen Toten Genüge zu tun, besteht nicht aus Worten, und sie tut es außerhalb der Stadt, abseits der Bühne, auf die nur Berichte über ihre stumme Geste dringen. Doch Rede und Widerrede sind die Bedingung der Tragödie wie der Demokratie, das Wortlose muss eingeholt werden für die Polis. Den Chor gilt es zu überzeugen, sein Seitenwechsel beschließt das Schicksal des Tyrannen. Film ist weniger redselig. 1968 gibt Antigone im Verhör Nonsense-Antworten, zeichnet Fische, einmal singt sie. Sie wird sich entschuldigen müssen, sie ist ohne sich zu verabschieden aus dem Haus gegangen, sagt ihre Mutter bei Likör und Kuchen zur Militärpolizei. Wo ist Ihr Sohn jetzt? – Oh, er hatte kein Glück. Man kann sich denken, was das heißt, ähnlich wie die Angebote der netten Herren in Anzügen und Sonnenbrillen, die ihrer Gefangenen Champagner anbieten: Haben Sie Slogans? Wie kommunizieren Sie mit der Masse? Wir werden zu einem Dialog finden, da mache ich mir keine Sorgen. Dialog ist eine Drohung, das fürstliche Renaissance-Zimmer keine Dekoration. Verhältnisse bestehen fort, wie Gebäude, Vorgaben, die jedes Jahrhundert neu erfüllt. Wie viel Zwangsarbeit es dafür braucht, Sklaverei. Die Verachtung des „kältesten aller kalten Ungeheuer“ (Nietzsche)[3] für seine Bürger, Bewohner, Untertanen, Insassen, Probanden steckt schon in den Wänden. Was sollen solche betonierten Hallen anderes enthalten als Kasernen oder Institute, die Menschenversuche machen? Zement: noch so eine römische Erfindung. Imperien sind Bauunternehmen. Ihre Verlassenschaften deformieren die Hinterbliebenen, so sie sich nicht daraus befreien. Ohne Hilfe von außen wird das nicht gehen. Antigones partner in crime, mit dem sie kein Wort spricht, scheint ein solcher rettender Gesandter. Die denunziationslüsternen Passanten wispern, er spreche Ostgotisch oder Vandalisch. Jedenfalls kein Römer. Gemeinsam tragen die beiden Tote in eine Höhle, geben ihnen Trauben und Quellwasser mit auf die Reise. Keine gebaute Umwelt, dafür menschliche Rituale, nicht aus der Vorgeschichte, wie Pasolini sie sich dachte, sondern aus noch anderen Räumen, Anti-Geschichte, An-Organisches, An-Architektur, bedeutet Organisation doch immer Herrschaft. Im selben Jahr schickt auch Pasolini in Teorema einen wortkargen Fremden nach Mailand, quasi Jesus als Sexbombe, der eine verknöcherte Industriellenfamilie, geschichtlich am Ende, zur Explosion bringt. Bei Cavani, weniger reich an Illusionen, lässt die Bourgeoisie sich auf solche Spiele nicht ein: Antigone, die Rebellin aus dem Inneren, und der Fremde ohne Herkunft werden ohne Prozess liquidiert. Doch nach der Erschießung folgen andere in Bluejeans ihrem Beispiel. Schwer vorstellbar. Beim Verlassen des Kinosaals, selbst ein Hohlraum in einer ehemaligen Bastei, das heißt Stadtmauer, Belagerung, Kanonen, wirkt die Stadt näher an die Wirklichkeit gerückt. Taxis fahren an der ehemaligen Hofpfarrkirche vorbei, die immer noch aus Stein besteht, der weiß renovierten Nationalbibliothek am Josefplatz, wo sich die Cäsaren aufgeklärt geben. Joseph II. grüßt vom Pferd herab, wenigstens er noch mit ehrlicher Patina. Wenigstens an ihm klebt noch das Blut. Neuer Putz wird daran nichts ändern, das bisschen Lichtspiel wird den Michaelertrakt mit seinen Brunnen, Österreichs Macht zur Lande und zur See, nicht in eine Lustspielkulisse verwandeln. „Beklemmende Städte, deren Boulevards kotzige Sphinx- und Medusenhäupter, antik-heidnische Götzinnen schmücken, gekettete weibliche und männliche Sklaven, voll hervorquellender Euter und Muskeln, voller unter Lappen und Gewinden versteckter, wartender Geschlechter niedergezwungener Titanen einer anderen Zeitrechnung, daß diese Städte heute als die kulturträchtigen Europas gelten und gerade angesichts dieser versteint gebannten Versklavung Frauen und Männer so diskutieren, als wäre diese Massivarchitektur bloße Pappe. Diese Prachtboulevards europäischer Städte feiern mit ihrem Lichterglanz, ihren magischen Nächten die Unterwerfung, den Sieg der modernen Welt über die alte, aus der Figuren wie Kundry herüberweisen und stumm machen. Die unseligen Häupter heben sich zum: Dienen … Dienen!, das im hereinbrechenden Morgen leise verebbt.“[4] Wen wirft die Austria mit steinernem Gesicht rechterhand in den Staub, linkerhand ins Wasser? Der Trakt wird 1889 mit industriellen Techniken der Gründerzeit erbaut nach einem Plan Fischer von Erlachs von 1726. Neobarock. Verwerfungen, die anhalten.

Eine Woche später, beim nächsten Besuch im Unsichtbaren Kino, aber auch acht Jahre später und zehn Jahre früher, vor ungefähr fünfundsechzig Jahren im Wien der Fünfziger, in Il portiere di notte, gibt es keine unschuldigen Höhlen mehr. Die Donau ist nurmehr eine gute Stelle, um missliebige Zeugen zu ertränken. Als die beiden Liebenden ihren Schutz verlassen, um sie zu überqueren, werden sie auf der alten Reichsbrücke mit den stählernen Streben erschossen, während die kupfernen Kirchenglocken läuten. „Schutz“, meint eine verbarrikadierte Junggesellenwohnung im Karl-Marx-Hof, den vor neunzig Jahren das Militär beschossen hat. Klerikale Reaktion und schwere Artillerie gegen das Rote Wien. Diesmal reichen subtilere Mittel, das Verderben ist längst im Inneren angekommen. Rascher noch als ‘34 den Kanonen, ‘38 dem Führer erliegen die Nachbarin, der Greißler, alle Verbündeten den verführerischen Angeboten des SS-Absolventenvereins. Wiedersehen macht Freude. Ich kann dir nicht helfen, weißt du … ich warte ja noch auf meine Kriegspension! verleugnet sich der Freund selbst am Telefon. Der Gemeindebau, die Genossen, die „kommende Welt“, deren Bauvolk sie sein wollten: ein verrotteter Kadaver, eine angegraute Kathedrale, eine Hoffnung, die sich selbst verriet wie die Sozialistin Lucia im Lager zur SS überlief, um nackt verbotene Chansons von der Dietrich vorzusingen, vom eigenen Begehren korrumpiert. Ihr dortiger Liebhaber Max, einst Herr über Leben und Tod, arbeitet jetzt aus Scham, wie er zugibt, als Nachtportier im Hotel zur Oper. Die dämmrige Halle, die dunklen Winkel, das geheime Besprechungszimmer wirken ebenso ausgehöhlt davon, zu vielen anrüchigen Angeboten nachgegeben zu haben, durchzogen von Schiebereien und Spitzeleien eines Polizeistaat, der nicht mit Fürst Metternich begann und nicht mit Reichsstatthalter Schirach unterging, wie die ganze Stadt. Gespenstische Stille. Affären im Hintergrund. Gelegentliches Flüstern. Die Kirche scheint abwesend, doch das Problem ist nicht erledigt, es steckt in den Räumen: ihren menschenfremden Dimensionen, dem Hallen der Schritte, dem zeremoniösen Gehabe der Messinglampen, den geheimniskrämerischen Betonungen selbst des Staubabwischens. Natürlich ist der alte Zimmerkellner eingeweiht. Eine Stadt für Jesuiten, Diplomaten, Spionage, Geheimjustiz, Hinterzimmerpolitik, den Kaiser und den Schwarzmarkt. Widerstandlos scheinen die Nazis sich durch Archive zu bewegen, um belastende Akten zu vernichten. Alte Seilschaften bewähren sich auch ohne schriftliche Verträge. Gut halten sich auch die Brillanten, in der Oper an den Hälsen und Orden eines Publikums, das ebenso unbewegt wie die Zauberflöte den Untergang mehrerer Imperien betrachtet hat, von den Verheerungen unberührt, nur ein wenig älter geworden seitdem, und im Hotel an den Ohren der alten Gräfin, die sich, selbst im Pelz, den Pagen ins Bett kommen lässt. Der kommt schon, aber waschen will er sich nicht mehr dafür. Europa ist nicht gut für den Charakter. Von Wien ist wenig zu sehen, Mozart-Erinnerungsräume, wenig Himmel. Dem stehen die verrußten Museen im Weg, Paläste mit Einschusslöchern, Ministerien, in denen nicht nur der erste Weltkrieg vorbereitet wurde. Kolosse, deren Leichenduft und glitzernde Knochen wie Parfüm und Juwelen der Gräfin, die glänzenden Angebote der SS die Seelen betören. Ein Blick in die Auslagen der Inneren Stadt nach der Vorstellung bestätigt das Fortwirken des Lichterglanzes. Magische Nächte, auch wenn nicht gerade Opernball ist. Ein Schauspieler hat einmal versucht, diesen „Ball der Bälle“ im Führer-Kostüm zu besuchen, die Polizei hat ihn daran gehindert. Warum eigentlich? Die dort ausgeführten Juwelen müssten sich doch noch an ihn erinnern, sie haben ja auch den Kaiser nicht vergessen. Max und Lucia, die ihre Affäre wiederaufnehmen und einander nicht ausliefern wollen, unterscheidet von den anderen nur, dass sie festhalten an der Form der Korruption, der sie einmal verfallen sind, statt sich durch Therapie und Katharsis, wie es das SS-Tribunal als psychoanalytisch inspirierte Selbsthilfegruppe vorlebt, selbst zu entlasten. Keine Unschuld, aber zumindest Scham und Konsequenz, außerdem die Weigerung an weiteren Verbrechen mitzuwirken. Deshalb werden sie liquidiert.

Ein paar Tage später, einige Jahre sind vergangen, geht es weiter mit La Pelle. Neapel 1943. Man nähert sich dem Problem. Diesmal stehen Polizisten im Weg, um einen Ball in der Hofburg vor Unmut zu beschützen. Das ist nicht neu. Die Absperrungen sind aus Metall. Herrschaft besteht aus Erz, auch wenn die zugehörigen Herzöge nicht mehr regieren. Vor der Michaelerkirche, auf deren Windfang der Erzengel balanciert, mit nur einer Fußspitze den niedergeworfenen Leibhaftigen hinab- und sich abstößt, stehen noch einige Poller aus Stein, noch nicht auf Befehl im Boden versenkbar, verbunden mit eisernen Ketten. Sie klirren nicht im Wind, dafür sind sie zu schwer. Handarbeit. Massive Schutzzauber, falls Feuer und Schwert nicht reichen. Doch Neapel wird nicht verteidigt. Zum ersten Mal in tausend Jahren hat die Stadt die fremden Herrscher, diesmal waren es Deutsche, selber entfernt, um die Sieger zu begrüßen, diesmal sind es US-Amerikaner. Doch folgt kein malerisches Panorama, wie sich die Stadt am Golf landenden Armeen darbietet, dem Blick der Sieger unterwirft. Stattdessen Gässchen, Innenhöfe, die in Höhlen übergehen, Gänge, Treppen wie Termitenbauten ins Innere der Paläste getrieben, wo Innen und Außen ununterscheidbar werden, Albträume wie von Piranesi, halb Baustelle halb Ruine. „In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist. Denn fertiggemacht und abgeschlossen wird nichts. Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne benutzt. Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder neapolitanischer Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panorama zu folgen. Eine hohe Schule der Regie ist, was auf den Treppen sich abspielt.“[5] Der Mangel an Außenaufnahmen mag dem Dreh geschuldet sein. Natürlich sieht Neapel 1980 nicht mehr aus wie im Krieg, die Kirchen sind wiederaufgebaut, Fassaden instandgesetzt dank staatlicher Gelder, von denen viel im mafiösen Untergrund versickert ist. Es geht nicht um den Anschein, sondern um das, was gleich bleibt. Außerdem ist der Golf vermint. Oben besteht die Stadt aus Vulkanstein, den sie unter sich abbaut, immer wieder stürzen Viertel ein. Es bleiben genug Höhlen für Friedhöfe, Verstecke, für Hehlereien. Wenn die Bosse nicht hier die deutschen Kriegsgefangenen verstecken, um sie gemästet den Siegern per Kilo zu verkaufen, dann woanders, im Bordell oder in Palästen. Es gibt Verbindungen, geheime Tunnel, durch manche passen nur Kinder. Von dem Panzer, den zwei schon korrumpierte GIs ihnen verkaufen wollen, lassen die flinken Hände nichts über als einen Ölfleck. Das waren nur zwei, die anderen werden folgen. Amerikaner sind zwar keine Ostgoten oder Vandalen, aber im Vergleich mit der barocken Raffinesse Neapels doch Barbaren. Die Adelspaläste sind nicht weniger kaputt als die ärmlichsten Behausungen, nicht weniger korrupt. Moralischer Verfall. Neapel zersetzt den soliden amerikanischen Charakter wie einen gestohlenen Panzer. Aus ganz Europa kommen die décadents, die gelernt haben Marx statt Oscar Wilde zu zitieren, um den Armen sexuell zur Seite zu stehen. Es wird getanzt. „Rückstand der letzten und Vorspiel der folgenden Feiertage ist diese Musik. Unwiderstehlich durchdringt der Festtag einen jeden Werktag. Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. Ein Gran vom Sonntag ist in jedem Wochentag versteckt und wieviel Wochentag in diesem Sonntag!“[6] Das gilt auch im Krieg. Bei einer adeligen Privatveranstaltung, halb heidnisches Ritual, halb schwuler Rave, gebiet ein junger Mann eine Figur mit riesigem Phallus. Dresscode: halb nackt, halb Militär. Ein Lustgewinn, nicht abstoßender als die GIs, die dafür bezahlen ihren heterosexuellen Trieben zu erliegen. Neapel macht sich den Krieg zu eigen und verdient daran.

Vom „Glücksarsenal des Kaputten“ neapolitanischer Technik hat Alfred Sohn-Rethel geschrieben, der die Stadt in den Zwanzigern besucht hat, erstaunt von der Findigkeit ihrer Bewohner im Umfunktionieren vorgegebener Mechanismen und dem anarchischen Funktionieren alles dessen, was hier nicht ordnungsgemäß funktioniert. „An wenige ihrer vorgezeichneten Zweckverwendungen nur mehr gebunden, erfährt die Technik hier die sonderbarsten Ablenkungen und geht mit ebenso überraschenden wie überzeugenden Wirksamkeiten in einen ihr völlig fremden Lebensgrund ein. Von der zur erhöhten Glorie der Madonna erstrahlenden Osrambirne war schon die Rede. Als ein weiteres Beispiel mag der Radmotor dienen, der, aus den Zwängen des zerschmetterten Motorrads gelöst, mit seinen um eine leicht exzentrische Achse wirbelnden Drehungen in einer Latteria die Sahne schlägt. Auf solche ungeahnte Weisen leistet die moderne Technik den Übungen dieses mit elektrischer Straßenbahn und Telefon seltsam überlebenden 17. Jahrhunderts die ausgezeichnete Hilfestellung und dient so überall der Freiheit dieses Lebens über sie aufs Unfreiwilligste noch zur Folie. Die Mechanismen können hier das zivilisatorische Kontinuum nicht bilden, zu dem sie ausersehen; Neapel dreht ihnen das Gesicht auf den Rücken.“[7] 1943 zeigen diese Spiele ihr anderes Gesicht. Neapel dreht die naiven GIs auf den Rücken und lässt sie dafür bezahlen. Europa ist Kaputt, wie Malapartes Roman von der Ostfront heißt, moralisch, physisch, und verdient daran, die eigene Haut zu verkaufen. Auch Kinder werden prostituiert, um zu überleben. Von ihren eigenen Müttern. „Es gab nichts mehr in Neapel, nichts mehr in Europa, alles war beim Teufel, alles zerstört. Wohnungen, Kirchen, Krankenhäuser, Mütter, Väter, Söhne, Tanten, Großmütter, Vettern, alles ‚kaputt‘. Ich lachte, es schmerzte mich sogar im Magen, so heftig lachte ich, so bitter lachte ich.“[8] Am Ende bricht der Vesuv aus. Das sind Kräfte, die von innen kommen. Durch den Ascheregen geht die principessa, tritt mit herrscherlicher Selbstverständlichkeit in ein elendes Häuschen. Ist der schüchterne Junge ihr Geliebter oder bloß Untertan, Opfer einer spontanen Eingebung, wie sie Fürsten haben? Unter dem Mantel trägt sie nur ein Dessous, während die Amerikaner im Feuerregen Rettung fliegen. Natürlich gibt sich der Bursch ihr hin. Niemand bleibt unschuldig. Mehr ist vom befreiten Neapel nicht zu lernen.

Während in I Cannibali der Korruption zumindest das stumme Bild einer Unschuld entgegengehalten werden konnte, von Höhlen, frischem Wasser und Trauben, und in Il portiere di notte zumindest ein Grad der eigenen Verheerung gehalten werden konnte als letzte Selbstbehauptung – auch wenn beide Paare am Ende vom Staat respektive einer Organisation mit staatsähnlichen Ambitionen liquidiert werden –, ist in der Stadt aus Höhlen, Kirchen und Palästen nichts mehr heilig. Vesuv ist ein Gott, sagt der Menschenhändlerboss. Ein böser Gott, der es Asche regnen lässt und bitter lacht, gemacht aus dem schlechten Teil, mala parte, aus dem Neapel gebaut ist. Und Neapel ist Europa, auch heute. Vieles bleibt beim Alten. Die rettende Ankunft der Barbaren, wie nach einem Gedicht von Kavafis schon die Römer erwarteten, scheint nicht absehbar, und selbst wenn – beweist Malaparte – würde das Imperium sie nur in seinen Untergang hineinziehen, wie Wien es 1914 mit Europa getan hat. Seitdem ist der Kaiser unbewusst. Auch ein Besuch des Schahs, der wie 1967 in Berlin den Polizeistaat sichtbar werden lässt, scheint nicht zu erwarten. Muss wieder der Vesuv ausbrechen, um zu entsiegeln, was unterm „Basiliskenblick einer saturierten Reaktion“[9] allzu leicht erstarrt erscheint? Schöne Auslagen sind wieder chic, Panzerglas, private Sicherheitsdienste stehen davor. Not all cigars are created equal. Spend your time royally steht am Kohlmarkt mit Blick auf die Hofburg. Seit 1968 sind nicht nur in Paris die Straßen asphaltiert worden, durch die der Geist von Baron Hausmann weht. Dementsprechend wenig Pflastersteine sind zur Hand. Die Toten liegen jetzt woanders. Einstweilen bleibt nur der kalte Wind. Das ist gut, er hält davon ab, sich einzurichten, hält einen in der Wirklichkeit wie die Filme Cavanis. Schlecht ist nur, dass nach der Spätvorstellung nicht nur die Filmbar geschlossen ist und Leuten ohne Obdach keins mehr geben kann – wie gut, dass es Institutionen ohne Wachpersonal gibt! – , sondern auch die Kirchen. Man könnte sonst hinübergehen nach St. Stephan, wo jetzt auch Gottfried Helnwein angekommen ist. Sein Fastentuch vorm Hochaltar soll an das Turiner Grabtuch erinnern, immerhin jahrhundertelang im Besitz der Augusta Dinastia di Savoia, der noch der Große Faschistische Rat bei der Absetzung des Duce Ehrerbietung erwies. 1996 hat er noch die Muttergottes als Eva Braun gemalt, die den Führer gebärt, umstanden von der SS. Da war die Erinnerung an den Sozialismus noch frisch, das ließ Abstand halten. Näher, mein Gott, zu Dir. Auch das ist nicht neu, wie das meiste, Cavanis Filme, die Architekturen, die sie zeigt, darum nicht weniger wirklich. Undine Gruenter sagt von der Architektur in der Stadt, sie bezeuge die „Gleichzeitigkeit vieler Zeiten in der Gegenwart“. Zuweilen muss sie natürlich freigelegt werden, wenn die Toten sonst nicht mehr zu sehen sind, wie die alten Filme. Das ist sehr reale Arbeit, auch am Abend und am Wochenende. Filmemachen, Filmezeigen, Filmesehen. Der Saal war meistens voll, das ist gut. Andere haben frei. Vorm Palais Palffy stehen junge Leute, rauchen, lachen. Rote Samthosen, goldene Blusen, Sonnenbrillen, offene Hemden, Fächer, schwarze Schuhe. Um die Tür bildet sich eine Aura von Geheimnis. Was verbirgt sich? Wer kommt rein? Wer gehört dazu? Das Filmmuseum ist da anders. Das Programm ist bekannt, die Tür steht offen und jeder Platz kostet gleichviel. „Die Ausstellung findet auf der Leinwand statt.“ In der Augustinerstraße 1. Gehen Sie hin, es ist nicht weit.


[1] Ennio Morricone: Cannibal Cantata II.

[2] Gilles Deleuze, Felix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie II in Tausend Plateaus. Merve, S. 106.

[3] „Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich, der Staat, bin das Volk.‘“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. dtv, S. 63.)

[4] Einar Schleef: Droge Faust Parsifal. Suhrkamp, S. 155.

[5] Walter Benjamin und Asja Lacis: Neapel in Denkbilder.

[6] Ebd.

[7] Alfred Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten. Wassmann, S. 37f.

[8] Curzio Malaparte: Die Haut. Fischer, S. 131.

[9] Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. Suhrkamp, S. 539

Ausschreibung: Workshop „Von Filmen sprechen“ 4.-7. April 2024 in Graz

Die Diagonale – Festival des österreichischen Films und Jugend ohne Film laden fünf Teilnehmer*innen zu einem viertägigen Filmkritik-Workshop nach Graz ein. Die Diagonale versteht sich als Forum für die Präsentation und Diskussion österreichischer Filmproduktionen. Von 4.-9. April stehen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit und wollen beschrieben und besprochen werden. In unserem Workshop widmen wir uns dieses Mal ganz dem Format des Podcasts.

Bereits vor dem Festival werden wir in drei gemeinsamen kurzen Zoom-Sessions in die Podcastproduktion eintauchen und uns so gemeinsam auf den Festivalbesuch vorbereiten (Termine in Absprache). Vor Ort in Graz wird es das Ziel sein, miteinander und mit eingeladenen Filmgästen als Gesprächspartner*innen eigene Folgen zu produzieren, die im Anschluss über die Kanäle der Diagonale verbreitet werden.

Als Workshop-„Hosts“ werden die Teilnehmer*innen Patrick Holzapfel, Bianca Jasmina Rauch (Jugend ohne Film) und Lucas Barwenczik (CUTS – der kritische Film-Podcast) begleiten. Auch der ein oder andere Überraschungsgast wird unseren Workshop besuchen, um Erfahrungen zu teilen.

Voraussetzung für die Teilnahme sind die Lust sich einerseits tiefergehend und kritisch mit Filmen und Festivals auseinanderzusetzen, andererseits sich den technischen Aspekten der Produktion zu widmen. Wir freuen uns auf einen gemeinsamen Austausch, auf das Nachdenken über Filme, das Denken beim Sprechen und auf das Aufbrechen von herkömmlichen Formaten.

Akkreditierung, Unterkunft und Reisekosten (bis zu 100,- Euro) werden vom Festival gestellt. Die Teilnahmegebühr beträgt 20,- Euro.

Interessierte und Motivierte bewerben sich bitte bis zum 10. März 2024 an folgende Adresse: jugendohnefilm@gmail.com und beschreiben in ein paar Sätzen, wo sie am liebsten über Filme sprechen und was sie an Filmpodcasts reizt.

Youki Workshop 2023: Bäume in Filmen

von Leon Moses Fasthuber

Im Oktober 2023 besuchten Bianca Jasmina Rauch und Patrick Holzapfel das Youki Internationales Jugend Medien Festival in Wels, um auf Einladung einen Workshop zu halten. Es ging um Filmtexte, das Sehen, Wahrnehmen, kritisches Denken…und Bäume. Einer der Teilnehmer, Leon Moses Fasthuber, schickte uns daraufhin einen Text über seine Recherche zu Bäumen in Filmen. Es ist sein erster Filmtext und wir freuen uns, ihn veröffentlichen zu können.

Meine Augen richten sich nun auf die Bäume, die ich auf der großen Leinwand zu sehen bekomme. Ich frage mich: „Hmm, habe ich beim Filmeschauen schon mal auf die Bäume geachtet?“ So wirklich, hab ich das noch nie und mit diesem nicht vorhandenen Vorwissen bin ich beauftragt worden, folgenden Text über Bäume zu verfassen.

Wo beginnen? Auf der Autobahn? Warum nicht? So mancher mag schon mal auf der A1 Richtung Wien West gefahren sein. Die Aussicht bleibt fast das ganze Jahr über relativ uninteressant, doch zur Herbstzeit verwandelt sich der Wienerwald in ein Bob-Ross-Gemälde. Da verliert man sich gerne drin. Die Farbenpracht unserer Wälder wird auch in so einigen deutschsprachigen Filmproduktionen herausgehoben. Für viele, wie auch für die Filmemacherin Elisabeth Scharang, kann der Wald ein Zufluchtsort darstellen. Der Baum wird zum Symbol der Ruhe, er stellt eine Verbindung mit unseren Ahnen her. Doch der Wald wird in Filmen oft auch als Ort eines Verbrechens gezeigt. Tatortseher schwärmen von den Drohnenaufnahmen über Deutschlands Wäldern. Das Auge kann gar nicht all diese bedrohlichen Grünschattierungen erfassen.

Das mag sein, aber ich muss noch mehr herausfinden. Also mache ich, was heute so ziemlich alle Filmliebhaber machen würden. Ich recherchiere auf Letterboxd. Die Seite schlägt einem die verschiedensten Listen vor: Filme die „der Baum“ heißen, Filme, die Bäume auf ihrem Plakat haben, Filme, in denen keine Bäume vorkommen. In den meisten Filmen fällt den Bäumen keine wichtige Rolle zu, dennoch fühlt es sich unnatürlich an, wenn sie nicht da sind. Denn Bäume sind nicht nur in Filmen, sondern auch in unserem Alltag stille Wegbegleiter. Sind sie mal nicht da, fühlt man sich komisch, das gezeigte Bild kommt einem entrückt vor. Als wäre die Realität gekrümmt. Ich denke beispielsweise an Blade Runner 2049 von Denis Villeneuve. Am Fuße eines letzten, schon toten Baumes, findet der Protagonist, Officer K, eine Blume. In einer Welt, in der das Leben schwer zu finden ist, wirkt das Erscheinen dieser Blume, in leuchtenden Farben, wie ein Wunder. Ein anderes nicht so drastisches Beispiel liefert Brokeback Mountain von Ang Lee. Hier wird ein Kontrast gezeichnet zwischen idyllischen Wäldern und flachen Feldern. Dieser Kontrast soll den aktuellen Beziehungsstand der zwei Protagonisten veräußerlichen.

Ich suche weiter nach Bäumen in Filmen, nun bei diversen Streaminganbietern. Doch das einzige was man bei Disney+ findet, ist der animierte Kurzfilm Far from the Tree. Dieser hat zwar das Wort Baum im Titel, doch spielen Gehölze in dieser Geschichte eine eher nebensächliche Rolle. Mama Waschbär und ihr Kind sind auf der Suche nach Nahrung und begeben sich zum Strand, wo sie von einem Fressfeind bedroht werden. Schlussendlich gelingt ihnen in letzter Sekunde die Flucht, indem sie auf einen Baum klettern. Auf Prime Video werden einem einige Dokumentationen zum Thema Wälder und Natur angezeigt. Wie im Wahn suche ich nach allem Filmen, in denen ein Baum vorkommt. Im Film Undir trénu von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, löst ein Baum ein Drama zwischen zwei Familien aus und wird am Ende noch zum Mörder. Diese ganze Recherche raubt mir die Phantasie, also denke ich zurück. Ich stelle mir die Frage: „Welche Filme kommen mir in den Sinn, wenn ich an Bäume denke.“ Wes Andersons Stop-Motion-Film Fantastic Mr. Fox schießt mir in den Kopf. Darin verkörpert der Baum ein luxuriöses Haus. Durch die Eskapaden von Mr. Fox, wird sein Haus jedoch relativ schnell zur Bedrohung. Dann kommt mir auch Avatar von James Cameron in den Sinn, indem die Na´vi den Baum der Seelen anbeten. Dieser wirkt allmählich lebendig, wie er mit seiner Außenwelt durch neuronale Verbindungen kommunizieren. Im Kino ist fast alles möglich, hier können Bäume gehen und sprechen und schießen. Von Groot aus Guardians of the Galaxy bis zu Pinocchio ist menschgewordenes Holz ein Begriff für jung und alt. Bäume tun Gutes und sind für die Menschheit existenziell wichtig. Sie stehen für Wiedergeburt und Schöpfung, wie das Tree of Life von Terrence Malick verdeutlicht. Doch das Gegenteil kann auch der Fall sein. An so manchen Bäumen haben sich Menschen schon erhängt wie in The Conjuring von James Wan.

Wie man merkt, bin ich voll und ganz ins Baum-Rabbithole gefallen. So weit, dass ich nun bei Éric Rohmers Les Contes des quatre saisons angekommen bin. Die Filmreihe wurde von 1990 bis 1998 realisiert. Jeder Film erzählt eine Geschichte zur jeweiligen Jahreszeit. Ich denke, durch die vier Jahreszeiten können Bäume uns lehren, wie wichtig sie für unseren Alltag sind. Gerade an heißen Sommertagen, gibt es nichts Besseres, als sich in den Schatten eines Baumes zu legen. So wie das Elio und Oliver in Call Me by Your Name von Luca Guadagnino machen. Im Herbst verfärben sich die Blätter und laden den einen oder anderen auf einen Spaziergang ein. Wenn dieser sich dann wie bei Suzy und Sam in Moonrise Kingdom von Wes Anderson über die ganze Insel zieht, können einem schon mal die Füße schmerzen.

Im Winter verlieren viele Bäume ihre Blätter, Schnee liegt auf den Ästen und für eine kurze Zeit wird es kahl und kalt. Christliche Menschen haben einen Weg gefunden, das ganze Jahr über einen grünen Baum bei sich zu haben. Denn der Christbaum, der in der Adventszeit unsere Wohnzimmer schmückt, verliert nicht sein grünes Kleid. Über die Fülle an Weihnachtsfilmen muss man jetzt nicht schreiben. Es gibt unzählige. Manche sind gut und manche sollte man in den Müll schmeißen. So wie das die Menschen leider mit ihren Weihnachtsbäumen machen, wenn Weihnachten vorbei ist. Dann kommt der Frühling. Die Zeit, in der Kirschen blühen und der Wind die rosa Blüten davonträgt. Vorbei an dem sich bewegenden Koloss in Hauru no Ugoku Shiro von Hayao Miyazaki. Ich schreibe von einer Zeit, in der die Natur wieder ihre Farbpracht zeigt. Der Frühlingsduft, der sich in die Nase bohrt. Die Blüten und die Knospen, die zu sprießen beginnen. Das alles kann schon richtige Frühlingsgefühle in uns auslösen. Umgeben von Wäldern können diese Gefühle zu Liebesbeziehungen führen, wie bei Tarzan und Jane oder – wenn auch ungleich fragiler – bei Fljora und Glascha in Idi i smotri von Elem Klimow.

Ich ziehe mir Film über Film rein und denke dabei zurück. Vor meinem geistigen Auge spielen sich Szenen meiner Vergangenheit ab. Als ich noch ein Kind war, gingen wir oft auf Kirschblütenwanderung durch die Scharten in Oberösterreich. Studio Ghibli löst in mir starke Gefühle von Nostalgie auf.

Als ich begann diesen Text zu schreiben, war ich total überfordert. Was soll man schon über Bäume in Filmen schreiben. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass es keine Welt ohne Bäume gibt. Auch im Film. Bäume sind überall: In Wäldern oder verarbeitet als Holz zu Häusern, Möbel, Türen, Fenster, Spielwaren, Büchern, Papier und zu Textilien. Selbst wenn man nicht nach Bäumen sucht, findet man sie in jedem erdenklichen Bereich. Bäume decken so ziemlich jedes uns bekannte Thema ab. Von der Kunst bis zum Klimawandel. Es ist gut möglich über dieses Thema noch länger, vielfältiger und ausführlicher zu schreiben, doch ich finde es wichtig, jedem etwas Raum für eigene Überlegungen zu lassen. Also leg ich mich jetzt unter den nächstbesten Baum und philosophiere über das Leben.

Zwischen Trümmerrealismus und Restfleisch

Eine Wanderung vom italienischen Nachkriegsfilm zum Kannibalenzyklus

von Florian Weigl

Ein Text, der gescheitert ist. Weil ich zu gut geblufft habe und ungeguckt einen Text versprach, der versucht die Landschaften des italienischen Nachkriegskinos und des Kannibalenzyklus gegenüberzustellen. Nur gibt es bei letzterem keine Pluralität. Die Bilder der Landschaften in den Nachkriegsfilmen sind präzise und spannungsreich, sie kämpfen sich durch die politischen Visionen, die man für Italien hatte. Die Dschungelentwürfe der Kannibalenfilme gleichen sich hingegen an das gesellschaftliche Klima an. Was die Filme untereinander macht, beginnt und endet in der Wahl und Qualität der Perücken, die den indigenen Völkern aufgezogen werden. Das, was ich an Exploitation schätze – die Produktionswut, das blanke Totdrehen eines Sujets, bis sich ein neues eröffnet, die Performances und Eigenheiten, die durch die Gleichheit stoßen –, nutzt sich hier schnell ab.

Im Nachkriegskino steckt eine Nähe und Liebe zu dem Wenigen, was Italien nach dem Krieg bleibt. Der Kannibalenfilm verschwendet ganze Kontinente an seiner europäischen Arroganz. Was von diesem Text vor allem bleibt, ist die persönliche Annäherung an das Kino – skizzenhaft und von Film zu Film, Stadt zu Stadt und Dschungel zu Dschungel. Immer wandernd, immer suchend.

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Das, was das italienische Nachkriegskino der italienischen Linken vor allem schenkte, war die ideologische Gewissheit, gewonnen zu haben. Roberto Rossellinis Roma città aperta spielt vor allem in Innenräumen und auf Wandkarten. Die eine Karte arbeitet für ein freies Rom, die andere für die Dominanz der Herrenrasse. Was von der Stadt zu sehen bleibt, sind Ausschnitte, die Pier Paolo Pasolini später in Accattone ausformen wird: Die engen Gassen und Hinterhöfe, die Weite der Außenbezirke, die noch nicht vom Kern vereinnahmt wurden.

In Ladri di biciclette weicht Vittorio De Sica die Härte der Bildern auf, macht sie publikumswirksamer. Die Route Antonios (Lamberto Maggiorani) ist von Verzweiflung und Glück zugleich gezeichnet. Sie führt vom Tatort in der Via Francesco Crispi, zu den Märkten auf dem Piazza Vittorio und dem Piazza di Porta Portese. Die Spur führt weiter in die Kirche Santi Nereo e Achilleo und schließlich bis in die Via de Panico, in der Antonio den Dieb zwar stellen, aber nicht überführen kann und von den Bewohnern am Ende vertrieben wird. Auf der Karte ergibt die Route keinen Sinn. De Sica meidet bewusst die touristischen Gegenden (und Attraktionen). Rom bleibt dabei eng: Schmale vicoli, in denen Männer sich aneinanderdrängen und breite corsi, auf denen man fast von Autos erfasst wird. Wenn es wie in den Vororten oder am Stadtrand Platz gibt, wird gebaut. Die Stadt wächst nach dem Krieg in die Höhe, stapelt neue Wohnungen. Ganz gleich, ob die Menschen ihre Mieten nicht bezahlen können.

Dagegen blickt Rossellini in die Weite, er reist mit Paisà über das Land. Sizilien ist Stein, Lava und Wasser. Die Alliierten landen an der Küste, aber die Einwohner bleiben misstrauisch. Charaktere definieren sich durch ihre räumlichen und kulturellen Distanzen, was sich besonders an dem italoamerikanischen GI erkennen lässt. Die Mutter ist US-Amerikanerin, der Vater ist ein Sizilianer aus Gela, doch seine italienische Identität wird sofort angefochten. Ob Gela überhaupt existiert?, fragt einer der Einwohner. – „Gela!“, hört einer der Dorfälteren und springt ins Bild, „Ich bin ebenfalls aus Gela!“. Zu seiner Verteidigung benutzt der italoamerikanische GI fast unbewusst seine Hände, schiebt sie von unten ins Bild und drückt sie sanft aber stetig fordernd nach oben.

In der Neapel-Episode verhandeln Kinder über die Besitztümer und den Körper eines Schwarzen GIs, der als Kriegspolizist die Stadt patrouilliert. Es entwickelt sich zuerst ein Duett, das sich durch die zerbombte Stadt manövriert. Man streitet und zofft sich und findet schließlich auf dem Trümmerhaufen zusammen. Joe (Dots Johnson) spielt Mundharmonika und träumt von der Wall Street, die einmal ihm gehören wird. Pasquale (Alfonsino Bovino) will Schuhe verkaufen. Die Kamera berichtet mehr, als das sie zeigt. Gegen Ende des Tages erkundigt Joe sich nach den Eltern und das Kind wird still. Er bringt ihn zu einem Steinbruch in Mergellina, der zur Wohnung für alle Obdachlosen und Kriegswaisen geworden ist. Überwältigt und erschrocken von der Armut bricht er auf und lässt das Kind zurück.

Senza pietà! von Alberto Lattuada:Auch hier steht die Beziehung einer Italienerin mit einem Schwarzen GI (John Kitzmiller) im Fokus. Der GI ist flirty und interessiert – on a good time, Angela (Carla Del Poggio) gedanklich vor allem auf der Suche nach ihrem Bruder und gefangen in drohender Armut. Die Apartments sind überfüllte Zweckgemeinschaften. Man zankt und keift über die Pasta hinweg, aber alles locker und komödiantisch inszeniert. Außerhalb des Apartments wird der Film zum Noir. Die Besitzverhältnisse zeigen sich an der Garderobe. Der Gangster mit beschmutztem Geld aber weißem Anzug, Angela im immergleichen, schlichten Kleid. Menschen gehen unschuldig ins Gefängnis und brechen wieder aus. Das einzige glückliche Ende neben den anderen Enden ist hier ein karges Boot mit der Hoffnung auf Amerika. Der Strand ist genauso nackt und trostlos wie die Stadtruinen bei Rossellini.

Kitzmiller blieb nach seinem Militärdienst in Italien und wurde Teil der Filmindustrie. Er debütierte in Luigi Zampas Vivere in pace, einem Dorfpanoramafilm, realisiert kurz vor dem Ende des Krieges. Der Blick auf die Natur bleibt bewusst naiv. So soll sie gegenüber dem Faschismus den Bauern Zuflucht spenden. Am Ende des Films verstecken Sie sich in den Bergen und warten wie Schafe. Zampa eröffnet mit einem dynamischen Schwenk durch die einzige Straße des Dorfes: Schule neben Kirche neben Einkaufsladen. Alles ist miteinander verwoben und kein Gebäude liegt in Trümmern, wie es in den Stadtszenen von Paisà zu sehen ist. Der Schein des Sets trügt. Wie in Roma città aperta verhandelt Aldo Fabrizzi mit allem und jedem: Er beherbergt zwei GIs, eine Waise und einen Kriegsdienstverweigerer, er ist sowohl mit dem partisanennahen Arzt, dem kollaborierenden Bürgermeister und dem stationierten SS-Offizier verbandelt. Feindschaften sollen begraben und der Krieg für beendet erklärt werden.

Die wirtschaftliche und soziale Umstellung nach dem Krieg ist immer auch eine Systemfrage. In Francesco De Robertis La vita semplice kämpft in Venedig eine kleine, familiengeführte squero, eine Reparaturwerkstatt für Gondeln, um ihre Existenz. Sie wird von einem Vater-Sohn-Duo geführt, das einfach nicht arbeiten will. Lieber wollen sie das Leben in seiner Einfachheit genießen, indem sie aus den neu formierten kapitalistischen Strukturen aussteigen. Der Film setzt die Schnelligkeit der neuen Motorboote dem Schatten des Kirschbaums und dem Chorus der Wellensittichen entgegen. Wie Tag Gallagher so treffend festhält: “In America it was thought that reality determined ideas; in Italy it was obvious that ideas determined reality. Rhetoric and willpower can transform reality, said the Fascists and Gramsci too. Since the world exists only in our imagination, we can make of it anything we choose.”

Nördlich von Sizilien, genauer auf Stromboli scheitert diese Idee in Vittorio De Setas Isole di fuoco am kargen Leben. Die Möwen schweigen. Der Vulkan vergisst sich nicht, er schlummert nur und das, was lebt, lebt in seinem Schatten. Die Häuser sind schlicht und weiß. Zwei Kerben für Fenster, die etwas Licht hineinlassen. Nachts bändigt man das Feuer in Laternen. Die Männer fahren als Fischer zur See, die genauso unnachgiebig ist wie das Land. Sie arbeiten barfuß und mit hochgekrempelten Hosen. Es braucht bis zu zehn von ihnen, um eines ihrer Boote an Land zu ziehen.

Wieder Stromboli (Roberto Rossellini), aber “our story begins in the displaced persons camp of Farfa, Italy”. Stacheldrahtanträge und pragmatische Montage: Altar, Zug, Schiff, Stromboli. Bald Ingrid (Ingrid Bergman) verloren zwischen schlichten Häuserschluchten. Im Hintergrund hallt ein Kinderschluchzen, doch es wird nicht zur bekannten Dynamik zwischen Eltern und Kind kommen wie in Ladri di biciclette. Stattdessen küsst Bergman verdorrtes Gras und umgibt sich mit “little old men who speak of America all the time”. (Rossellini dirigierte die Männer, indem er einen Faden um ihre Zehen zog. Ihr Englisch war nicht existent und sie lernten ihre Sätze rein phonetisch, ohne deren Inhalt zu verstehen.) Schönheit stößt sich hier immer erstmal ab. Zwei Modi – Land und Star – die durch ihre Größe nur selten in das gleiche Bild passen und gegeneinander montiert werden.

Die Welt, die Vittorio De Setas zeigt, ist in sich verloren und wird doch in der Montage gefestigt. Viele seiner Filme zeigen Männer bei ihrer Arbeit. Die Methoden der Arbeit sind älter als jene, die sie praktizieren, der Ertrag bleibt jedoch gering. In Lu tempu di li pisci spata geht es um die Jagd. Sie benötigt sechs Männer, dauert Stunden und bringt dabei vielleicht einen Fisch. Durch De Setas Augen und Hände wird sie pure, ekstatische Bewegung. Dagegen ist die Mattanza in Stromboli eine mechanisch-industrialisierte Tötungsmontage. Hier zeigt sich die Zukunft, Bergmans vor Grauen verzogenes Gesicht als gewollter Nebeneffekt.

Andernorts verhärten sich die Fronten. In Riso amaro und Non c’è pace tra gli ulivi dramatisiert Giuseppe De Santis seine Landschaftsbilder. In der Anfangssequenz von Non c’è pace tra gli ulivi erhebt sich die Kamera in einem nahezu vollständigen Panoramaschwenk über die Berge Ciociarias, während De Santis die Geschichte der Landschaft auf Phrasen verknappt. Harte Jahre, harte Seelen. Hirten erheben sich wie Statuen, still und perfekt platziert. Alle tragen ciòcie, das traditionelle Schuhwerk der Region. Dann werden in Einzeleinstellungen die Figuren in einer Strenge und Stringenz inszeniert, die den Film als einen sozialistischen Rachefilm offenbaren. Politisch wie auch formal bekennt sich De Santis damit zum sowjetischen Kino.

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Als Benito Mussolini 1935 mit dem Plan, sein Africa Orientale Italiana auszuweiten, Äthiopien überfiel und unter Einsatz von Bomben und Senfgas annektierte, jubelte Italien. Als nach einem vereitelten Anschlag auf Rodolfo Graziani, die italienischen Streitkräfte als Vergeltung ein äthiopisches Kloster überfielen, in dem sie die Fadenzieher vermuteten, nicht vorfanden und stattdessen alle Mönche und Nonnen umbrachten, jubelte Italien. Als sich Vittorio Emanuele III di Savoia nun ebenfalls „König von Äthiopien“ nannte, was nur von Deutschland und Japan anerkannt wurde, jubelte Italien erneut.

Der Krieg kostete und Italien bezahlte mit Chauvinismus und leeren Mägen. Nachdem Italien Äthiopien eingenommen hatte, ließ Mussolini das Land allerdings nicht ausbluten. Er versuchte, italienische Bauern in Äthiopien anzusiedeln, aber die meisten Emigranten gingen wegen des besseren Bodens nach Eritrea und Somalia. Dennoch wurde investiert: Italien baute Straßen, weitere Zugverbindungen und Flughäfen mit einer eigenen Fluglinie. Dazu kamen Telefonmasten, Krankenhäuser und Schulen. Es war ein Kolonialismus, der sich durch die Kultur definierte, der mit einem gewissen utopischen Trotz Italien und dessen Geschichte in Ostafrika fortschreiben wollte. Dann kam der Zweite Weltkrieg.

1979, Kolumbien an der Grenze zu Brasilien: Das Grün des Regenwalds ist stark und weitflächig, durchbrochen von braunen Flussbetten. Durch das Wasser ziehen sich die Spiegelungen der Wolken. Das Bild ist unruhig, denn die Kamera filmt aus einem Helikopter, der niemals landen wird. Der Lärm der Maschine wird überspielt von Riz Ortolanis sanftmütigem Flautando der Streicher. Das Bild zeigt den Titel des Films: Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato). Wer den Helikopter verlässt, wird sterben. In Ultimo mondo cannibale, dem Vorgänger, den Deodato auf Mindanao in den Philippinen drehte, bleibt das Flugzeug als Fremdkörper im Bild, hier ist der Blick auf die Landschaft unverstellt, als blicke man selbst hinaus.

Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre wurde der italienische Genrefilm vom Kannibalenfilm dominiert. Die Ausgangslage war immer dieselbe: Eine Reise – von Europa nach New York nach Südamerika – und in kleinerer Besetzung zurück. An Bord immer Journalisten, Wissenschaftler oder Drogendealer. Die Struktur der Filme variiert kaum: Man geht in den Dschungel, man stirbt.

So wie das Flugzeug und der dadurch entstehende Blick ist ebenso die Gewalt durch Tiere und jene gegen sie ein elementarer Teil der filmischen Sprache. Man sieht wie vor der Kamera Schildkröten, Alligatoren, Affen und anderes zerstückelt, gebraten oder roh gegessen werden. Die Gesichter der Abenteurer blicken in die Leere des Dschungels und versuchen vergeblich ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, während vermeintlich dokumentarische Todesszenen zwischen ihre Blicke montiert werden.

Ich erinnere mich an die Anakondas. In Sergio Martinos La montagna del dio cannibale sieht man wie eine Anakonda einem Kapuzineräffchen langsam in den Schädel beißt, um es dann zu verschlingen. Lenzi wiederholt dasselbe Szenario in Cannibal Ferox mit einer Bisamratte. Diese wird angebunden, sodass sie keine Möglichkeit zur Flucht besitzt. Als sie von der Anakonda gefasst wird, kreischt sie, ehe auch ihr langsam das Leben ausgequetscht wird. Cut zu Giovanni Lombardo, der sich an der Grausamkeit aufgeilt, während Zora Kerova sich entsetzt abwendet. Unterdessen zoomt die Kamera auf die Augen des sterbenden Tiers und es lässt unweigerlich staunen, ein Lebewesen beim Todeskampf zu beobachten. Das Tier wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst.

Der Dschungel ist sowohl Gegenspieler als auch unreflektiertes Exotikum. “In there the more that you carry, the quicker you get tired, the sooner you die.” In Ultimo mondo cannibale sieht Massimo Foschi seinen Begleiter vermeintlich ertrinken, ehe er sich in blanker Angst zum Dschungel wendet, während auf der Tonspur die vertrauten Laute von Affen, Vögeln und allem, das kreischt, ertönen. Das Einzige, was noch mehr Angst macht, ist die Abwesenheit dieser Tiergeräusche.

Schon in der Anfangssequenz von Umberto Lenzis Mangiati vivi! Zeigt sich die interkontinentale Spannung: Der Übergang zwischen Zivilisation und Dschungel ist in diesem Genre immer nur einen Schnitt entfernt. In Mangiati vivi! wird diese oft linear verlaufende Beziehung – man begibt sich von der Zivilisation in den Dschungel – zum ersten Mal rückgekoppelt. Ein indigener Auftragsmörder streift durch Kanada und New York und tötet ausgewählte Zivilisten mit einem Giftpfeil. Er wird mit der verschwundenen Schwester der Protagonistin verknüpft, die sich einer südamerikanischen Purification-Sekte (“a real bunch of crazies”) angeschlossen hatte, ehe sie verschwand. Man begibt sich auf die Suche nach ihr und stößt auf Ivan Rassimov, der sich wie Colonel Kurtz aus Apocalypse Now seine eigene Sekte aufbaut.

Es scheint fast so, als würden die Filme abseits von Italien mit sich selbst fremdeln. Der Blick auf die Landschaft ist und bleibt bewusst touristisch. Er verknappt, banalisiert und zeigt wenig Interesse an dem, was ihn verkomplizieren könnte. Obwohl der neorealistische Nachkriegsfilm sich vor allem durch die Gleichheit seine Trümmerbilder in Szene setzt, behält jede Stadt einen eigenen Charakter. Jedoch bleibt es kaum rational fassbar. Florenz fühlt sich wie Florenz an, Venedig wird immer seine Kanäle behalten. Vielleicht sind es auch nur die Menschen, für die sich der Nachkriegsfilm mehr interessiert, während sie bei den Kannibalenfilm zu Material werden, das sexualisiert, exotisiert, zerhackt und zerfleischt werden kann.

Duisburger Filmwoche 2022: Unrecht und Widerstand von Peter Nestler

Der Film erzählt vom Unrecht, das den Sinti:zze und Rom:nja in der NS-Zeit widerfahren ist und vom Unrecht, das ihnen bis heute widerfährt. Lange wurden die Verbrechen der Nazis gegen sie nicht anerkannt, stattdessen wurden und werden Sinti:zze und Rom:nja bis heute diskriminiert. Der Film erzählt aber auch vom Widerstand dagegen, vor allem von der Arbeit Romani Roses, dessen Vorfahren nicht alle das KZ überlebt haben.

Zu Beginn der Diskussion weist Alexander Scholz daraufhin, das Z-Wort nur im historischen Kontext zu benutzen. So führen zwei frühere Filme von Peter Nestler und Rainer Komers das Z-Wort im Titel: Zigeuner sein und Zigeuner in Duisburg. Anschließend berichtet Scholz von seiner Seherfahrung, dass der Film ihn zum Recherchieren angeregt hätte, da er sich bisher noch nicht so viel mit der Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja befasst habe. So ist auch der weitere Verlauf der Diskussion von einer gewissen Ehrfurcht vor dem Thema geprägt. Es wird betont, wie wichtig es sei, sich mehr mit den Sinti:zze und Rom:nja zu befassen, mit ihren Verfolgungserfahrungen in der NS-Zeit, sowie dem bis heute andauernden Rassismus gegen sie. Scholz nennt die Filme von Nestler und Komers „Gegendiskurse“ zu den hegemonialen Erzählungen, da die Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti:zze und Rom:nja bisher in Deutschland zu kurz kam. So wurden auch die beiden früheren Filme von Nestler und Komers lange Zeit in Deutschland gar nicht gezeigt, Zigeuner in Duisburg wurde 1980 noch vom WDR abgelehnt, berichtet Komers. Die Form des Films wird kaum diskutiert, Scholz weist lediglich auf die „Politik des Ausredenlassens, des Raumgebens“ hin, dass es auffallend sei, dass die Gesprächspartner:innen ausreden dürfen.

Vonseiten des Publikums wird ebenfalls unterstrichen, wie wichtig der Film ist und dass er diese Leerstelle im öffentlichen Bewusstsein der NS-Erinnerung ein Stück weit füllt. Weiter wird von einem „Eindruck des durchgängigen Betroffenseins“ gesprochen, was Nestler als Grundvoraussetzung des Widerstands sieht. Daraufhin erzählt er von seinen Kindheitserinnerungen, wie er als Kind mit Antiziganismus und Nazismus konfrontiert wurde. Eine Person aus dem Publikum fügt dem ebenfalls eine Kindheitserinnerung der Begegnung mit Antiziganismus hinzu.

Jemand weiteres merkt an, dass es nicht nur Nestlers und Komers Filme zum Thema gebe und dass es gelte, auch andere Filme, die sich mit Antiziganismus befassen und die in der Vergangenheit vom Fernsehen abgelehnt wurden, wieder auszugraben und zu entdecken. Zum Schluss weist eine Meldung aus dem Publikum daraufhin, nicht nur die Sinti:zze und Rom:nja als homogene Gruppe zu sehen, sondern auch die verschiedenen, einzelnen Stimmen wahrzunehmen, „Der Schritt von der Gruppe zum Individuum steht an.“

So wichtig und aufschlussreich ich den Film inhaltlich fand, hat er mich formal nicht überzeugt. Schade, dass auch in der Diskussion das schwere Thema eine kritische Auseinandersetzung mit dem relativ konventionellen dokumentarischen Zugang nicht zuließ.

Von Anna Stocker

Duisburger Filmwoche 2022: EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR von Jan Peters

Wenn ein Monat zu dreien wird. Drei Minuten, manchmal zu fünf. Und Alltag plötzlich zum Film. Wie in einem Videotagebuch versucht der Filmemacher Jan Peters seinen persön lichen Januar analog auf Super-8-Film einzufangen. Eine Struktur, die bedarf, gebrochen zu werden. So fügen sich am Ende zwar 31 Filmausschnitte zusammen, jedoch entstehen diese weit über den bedachten Monat hinaus. Wesentlich ist das aber nicht, denn Blick und Linse liegen hierbei genau auf dem vermeintlich Unwesentlichen.


Ein Film bestehend aus vielen kleinen Filmen. Jan Peters nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine Alltagsmomente, die sich in ihrer Mischung aus Trivialität und Besonderheit zu einem bunten Mosaik zusammenfügen. Nach seinen zwei Projekten NOVEMBER, 1-30 und DEZEMBER, 1-31 war es für den Filmemacher an der Zeit, erneut den Versuch zu starten, einen Monat lang, jeden Tag eine dreiminütige Filmrolle, wie ein Tagebuch mit Erinnerungen zu füllen.

Der Name ist Programm. Denn Peters „eigentlicher Januar!“ wird erst durch weitere Aufnahmen der Monate Februar und März zum letztlich dokumentierten Januar. Anspielend auf genau dieses Prinzip der Zeitlichkeit eröffnet der Moderator das Gespräch mit der Frage nach dem Regelbruch innerhalb der geplanten Chronologie. Sehr unkompliziert und offen gibt der Filmemacher zu, dass er es sowohl bei diesem als auch bei seinen zwei Vorgänger-Filmen einfach nicht geschafft habe, täglich zu filmen und sich der Dreh deshalb über einen längeren Zeitraum erstrecken musste. Eine authentische Antwort, die im Publikum für Sympathiepunkte sorgt, von denen Peters bereits einige mit seiner im Film zur Schau gestellten und unendlich wachsenden To-do-Liste sammeln konnte. Auf die Frage, warum er es denn trotzdem immer wieder versuchen würde, dieses Format erneut aufzugreifen, antwortete Peters ziemlich schlagfertig mit dem Zitat „a picture a day keeps the doctor away”. Bezüglich seines Spiels mit den 31 Filmrollen, die mitten im flüsternden Voice-Over abbrechen, erklärt er seine Struktur in genauso simpler Manier: „Ich habe 31 verschiedene Rollen und die füge ich am Ende einfach zusammen”.

Wenn man jedoch seinen 100-minütigen Film anschaut, wird einem schnell bewusst, dass sich der Filmemacher an dieser Stelle durchaus zu bescheiden gibt. Denn obwohl die eingefangen Momente relativ willkürlich erscheinen, steckt lange Arbeit hinter den künstlerischen Aufnahmen und ihrem Prozess der Entwicklung.

Ein simples Regelwerk bildet den Rahmen des Filmes, welcher seine Dynamik aber dadurch behält, dass die eigens auferlegten Regeln an vielen Stellen bewusst gebrochen werden und Sequenzen mal länger, mal kürzer andauern. Der Moderator erkennt die Thematik von analogen Fotos als möglichen roten Faden des Filmes. Wir sehen Bilder über Bilder. Darunter sind heimatlose und fremde Fotos, gefunden auf der Straße nach Neujahr, wie auch intime Aufnahmen aus dem eigenen Familienalbum.

Während des Gesprächs erhält Peters einiges an positiver Resonanz. Doch äußerten sich auch ein paar Stimmen, die auf eine gewisse Überforderung durch Reizüberflutung aufmerksam machten, welche sich durch die schnell wechselnden Aufnahmen in Kombination mit der gesteigerten Sprechgeschwindigkeit des Voice-Overs entstand. Demnach fühlten sich manche aus dem Publikum entweder hellwach oder ziemlich ermüdet nach dem Film. Allerdings empfindet Peters beide Reaktionen als völlig legitim. Denn genau diese Einheitlichkeit der Struktur mit den uneinheitlichen Aufnahmen erlaube es einem innerhalb der drei Minuten auch mal „abzudriften!”, um sich dann in einem neuen Januartag wiederzufinden. Die Überforderung des Textes und der Bilderflut würde zudem nur noch mehr dazu einladen, den Film ein zweites oder sogar drittes Mal zu sehen, wie eine Stimme aus dem Publikum feststellt und somit das beklatschte Schlusswort bildet.

Von Sina Wohnhaas

Duisburger Filmwoche 2022: 5 Dreamers and a Horse von Vahagn Khachtryan

Träume. Werden sie in Erfüllung gehen oder zerfallen? Während sich ein junger Mann in einer abgeschiedenen Gegend Armeniens nach einer Partnerin sehnt, kämpfen am anderen Ende des Landes zwei junge Frauen für eine gendergerechte Zukunft. Die Fahrstuhlführerin hingegen träumt von den Sternen.

Der Beginn des Filmes 5 DREAMERS AND A HORSE scheint Mischa Hedinger auch passend als Einleitung für das Gespräch mit dem Filmemacher Vahagn Khachtryan und dem Editor Federico Delpero Bejar zu sein. Der Reiter, der mit seinem Pferd durch die weiße Weite galoppiert, erscheint wie ein Traum. Doch plötzlich fällt das Pferd und wir erwachen. Es ist ein Film über Träume, aber auch über die Realitäten unterschiedlicher Generationen, der Gesellschaft Armeniens, in der Frauen noch immer für die Ehe gekidnappt werden können. Es ist kein Frieden für die LGBTQ+-Community in Sicht. Hedinger erkennt unterschiedliche Vorstellungen der Träumenden, sowie des Regisseurs und der Zukunft, aber auch das Gefühl der Stagnation.

Die Frage, wie viel Fiktives in dem Dokumentarfilm steckt, kann auch Khachtryan nicht beantworten. Er selbst arbeitet mit Menschen, um ihren Wirklichkeiten einen Raum zu geben. Die darstellenden Personen wurden im Laufe des Filmes selbst zu Regisseur:innen. Wie viel Fiktion also im Kaffeesatzlesen der alten Dame oder im Kartenspiel der Mädchen ist, muss das Publikum sich selbst beantworten.

Das Konzept des Films scheint sehr natürlich entstanden zu sein. Seine Arbeit begann vor einigen Jahren mit seinem Neffen, der damals unbedingt ein Pferd haben wollte, das sich die Familie aber nicht leisten konnte. Als Khachtryan einige Jahre später nach Armenien wiederkehrte, hatte sein Neffe zwar ein Pferd, aber wollte nun eine Frau. Im selben Jahr, 2017, traf er den Co-Regisseur Aren Malakyan. Sie fingen an, über die Träume verschiedener Generationen zu sprechen und suchten nach Charakteren, die nach den Träumen ihrer Kindheit strebten, erklärt Khachtryan nach einer Publikumsfrage.

Der filmische Prozess scheint, genau wie das Konzept, einen organischen Vorgang zu haben. Khachtryan ist nicht nur Regisseur, sondern auch Kameramann und Freund – es war eine Entwicklung in jeder Hinsicht. Das Gefühl sollte stimmen und so entstand auch ein Gefühl für die verschiedenen Kamera-Positionen, Bewegungen und Charaktere.

Wie kam es aber dazu, dass man nur drei anstelle der fünf Personen, wie im Filmtitel beschrieben, zu sehen bekommen hat? Federico Delpero Bejar erklärt, dass es schwierig war, alle Geschichten auf eine natürliche Art und Weise zu verbinden. Sie seien alle interessant, aber am Ende sei eben ein Fluss aus dem Schweben, Aushalten und Bewegen entstanden, welcher die Generationen und Personen auf natürliche Weise verbinde. Der Reiter beispielsweise sollte die Darstellung von Tradition wiedergeben und das Gefühl der Weite erwecken. Die Frau im Aufzug hingegen sei eingesperrt und isoliert, weswegen sie nach Weite strebe, ergänzt der Regisseur.

Hedinger wundert sich, warum am Ende die Häuser, fremde Menschen, Explosionen und die große Demonstration mit tausenden von Menschen gezeigt werden. Khachtryan entpuppt sich selbst als einer der Träumenden, dessen Wünsche eben 2020 durch den Krieg gestorben sind.

Durch die Explosionen und die Darstellung der Massendemonstration stellt sich das Publikum auch die Frage, wie der Film in Armenien selbst angekommen ist und ob dieser überhaupt gezeigt werden durfte. Der Film wurde in Armenien staatlich gefördert und dort schon zweimal gezeigt. Bei der Premiere selbst wären auch die Darsteller:innen, zum Teil mit Frau und Kind, gekommen. Manche Träume erfüllen sich, während andere sterben. Khachtryan gesteht, dass er Angst vor der internationalen Reaktion hatte, aber irgendwie habe jede:r den Film am Ende gefühlt und verstanden. Der Traum ist am Ende also auch das Träumen selbst. Doch Träume scheinen sich vor allem dann zu erfüllen, wenn man auf dem Weg dorthin nicht allein ist.

Von Fabia Suhl

Duisburger Filmwoche 2022: Aşk, Mark ve Ölüm von Cem Kaya

Als türkische Arbeitsmigrant:innen in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland kommen, werden sie für den Wohlstandserhalt gebraucht, aber von vielen Bundesbürger:innen nicht gewollt. Um Ausgrenzung und Heimweh zu entfliehen, retten sich viele in die Kultur der Heimat und lassen einen riesigen türkischsprachigen Musikmarkt entstehen. Aşk, Mark ve Ölüm dokumentiert diese an der Mehrheitsgesellschaft vorbeigegangene Geschichte mithilfe von Musiker:innen, Fans und Zeitzeug:innen.

Als das Licht nach dem Film angeht, hat man das Gefühl, am dritten Festivaltag einen ersten Publikumsliebling gesehen zu haben. Im Kino gibt es viele grinsende Gesichter und die positive Stimmung überträgt sich auch auf die anschließende Diskussion im naheliegenden Saal. Regisseur Cem Kaya macht mit dem Smartphone Fotos von den Menschen, die hier sitzen und zum großen Teil auch stehen. So voll wie nach seinem Film, war der Diskussionraum nie wieder. Bei der Begrüßung wird überschwänglich applaudiert.

„Was ein Knaller.“, leitet Moderatorin Nesrin Tanç die Gesprächsrunde über den Film ein und bedankt sich gleichzeitig beim Regisseur, dass endlich die Musikkultur türkischer Migrant:innen in der Bundesrepublik Deutschland thematisiert wird.

Anders als der Film ist der Beginn des Gesprächs etwas trocken und es geht hauptsächlich um die Arbeit mit Archivmaterial. Ein Großteil davon sind Mitschnitte aus dem bundesdeutschen Fernsehen, Musikvideos migrantischer Künstler:innen und Familienaufnahmen türkischer Hochzeiten in Deutschland. Vieles hatte sich schon durch die Vorgängerfilme Kayas über die türkische Popkultur angesammelt, so auch einige Interviews, die teilweise bereits 2011 geführt wurden. Die Recherche, Sichtung und Sortierung von Archivmaterial nahmen einen großen Teil der Arbeit ein und laut Kaya ging es immer wieder darum, aus der Masse besonders exemplarische Elemente zu finden. Als Beispiel nennt er einen Ausschnitt aus einer Fernsehshow mit Rudi Carrell, in dem sogenannte „Gastarbeiter“ mit aufgeklebten Bärten zu sehen sind und der eindrücklich erkennbar macht, wie die angeworbenen Migrant:innen dargestellt und wahrgenommen wurden.

Dann spricht Tanç an, was den Film wohl so beliebt macht. Die „catchy“ Inszenierung Kayas, die eindeutig seine Handschrift trägt und der wohl zuträglich ist, dass er Werbe- und Musikvideos dreht. Er selbst wollte seinen Film „bigger-than-life“ wirken lassen und nutzte dazu unter anderem Weitwinkelkameras in den Interviews, um neben den Talking-Heads auch deren Umgebung zu zeigen und auf diese Weise viele Bilder für die Zuschauer:innen bereitzustellen. Er bemerkt außerdem, dass es sich um einen Essayfilm handelt, der die Kollektivgeschichte aus seinem subjektiven Blick erzählt.

Tanç betont noch einmal, wie dankbar sie für den Film ist, da er auch einen Teil ihrer Geschichte zeigt, den sie nie teilen konnte und der für die Mehrheitsgesellschaft immer noch unsichtbar ist. In ihrer spürbaren Euphorie reißt sie die Diskussion aber etwas an sich und lässt zunächst wenig Platz für die Fragen und Anmerkungen der Zuschauer:innen. Erst nach einer Intervention des Regisseurs kommen Meldungen aus dem Publikum. Und hier wird schnell deutlich, dass auch dieses dankbar für den Film ist, da es zum großen Teil die Mehrheitsgesellschaft widerspiegelt, die keine Ahnung von der migrantischen Musikkultur hatte und nun endlich einen Einblick bekam.

Eine Zuschauerin lobt, wie mühelos der Film es schafft, zwischen Türkisch und Deutsch, in der gesprochenen Sprache wie in den Untertiteln, zu rotieren. Kaya erklärt dazu, dass er es seinen Protagonist:innen überlassen hat, in welcher Sprache sie sprechen wollen. Er merkt außerdem an, dass am Anfang des Films viel Türkisch und im weiteren Verlauf immer mehr Deutsch gesprochen wird, was seiner Meinung nach auch die Entwicklung der Generationen der Deutsch-Türken widerspiegelt.

Mit „Ey, die haben doch auch GEZ bezahlt, verdammte Scheiße“ bringt ein Zuschauer seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass die Migrant:innen nicht nur mit Ihrer Musik so wenig in den deutschen Medien vorkamen.

Auf die Frage, warum der Film dort endet, wo er endet, antwortet Kaya, dass er dort aufhören wollte, wo das Internet anfängt. Mit der Möglichkeit von YouTube und Ähnlichem wären die Schranken für die Sichtbarkeit von migrantischen Künstler:innen deutlich gefallen.

Zum Ende redet Kaya noch einmal euphorisch über die Arbeit mit dem Archiv und darüber, was es nicht in den Film geschafft hat. So hat er einen Abschnitt über politische kurdische Musik ausgelassen, da er selbst nicht mit dem Thema vertraut ist und sich dieses nicht aneignen wollte. Das Publikum entlässt den Filmemacher mit ebenso viel Applaus, wie es ihn empfangen hat. Auch nach einer Stunde Redebeiträgen ist wenig von der Begeisterung für Aşk, Mark ve Ölüm verloren gegangen.

Von Christopher Groß

Duisburger Filmwoche 2022: Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien von Constantin Wulff

Die Wiener Arbeiterkammer ist eine geschäftige Institution, selbst wenn die Corona-Pandemie ihre Hallen leert und die Menschen in den Onlinebetrieb zwingt. In, mit der Kamera begleiteten, Beratungsgesprächen offenbaren sich die vielfältigen Probleme und Ausbeutungsstrategien am Arbeitsmarkt und zugleich die Arbeit einer Organisation, die all dem entgegenwirkt und versucht, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Eingangs schildert Moderator Mischa Hedinger seine Seheindrücke. Nach seinem ersten Gefühl sei der Film sehr nah an den Menschen und ihren Ausbeutungserfahrungen gewesen, öffne sich dann aber plötzlich und der Ort und die Institution rücken in den Fokus. Er betont die Vielschichtigkeit und lobt den doppelten Blick auf die Arbeit der Institution, einmal von der Institution aus, aber auch von den Arbeitnehmenden.

Wulff bedankt sich für das Lob und beantwortet die erste Frage nach der Arbeitsmethode und dem Verhältnis zu Frederick Wiseman, der bekannt ist für seine Institutionenporträts. Mit Wiseman stehe er in freundschaftlichem Austausch und schicke Wiseman seine Filme vor der Veröffentlichung. Sie unterschieden sich jedoch in der Arbeitsweise, da Wulffs Film eine knapp einjährige Recherchephase vorausgegangen sei. Daraus sei das besondere Interesse an den Beratungsgesprächen hervorgegangen. Wulff interessiere sich weniger für die individuellen Schicksale, als für ein Bewusstsein der Strukturen. Diese ergeben sich im Film aus häufig vertretenen Berufen und auch deshalb habe er sich entschieden, die Szene über Bauhaftung im Film aufzunehmen.

An die Strukturen knüpft eine spätere Fragestellerin an. Sie hätte gerne erfahren, wo die Arbeiterkammer scheitert. Wulff entgegnet, die Zahl sei sicher hoch, sein Interesse habe aber nicht den Einzelfällen, sondern der Institution Arbeiterkammer gegolten, die bereits durch ihre Existenz die Situation auf dem Arbeitsmarkt immens verbessert habe. Anmerkend dazu wird im Publikum auf den Titel Für die Vielen anstatt „Für Alle“ verwiesen.

Ein Zuschauer lobt die Werbefilmszene und erklärt sich zum Fan des Werbefilms, woraufhin kurzes Gelächter ausbricht. In seiner Lächerlichkeit vermittle die Szene doch auf eine rührende Weise die emotionale Bindung zum Thema Gerechtigkeit. Wulff ergänzt, er finde die Szene auch spannend, da sie viel über das Selbstverständnis der Institution verrate.

Die nächste Frage dreht sich um die Pandemie, woraufhin Wulff eifrig unterbricht, um die Antwort „vorwegzunehmen“. Corona habe ihn „null interessiert“, ließe sich aber durch den beobachtenden Blick, den der Film einnimmt, nicht ausblenden. Ein offenkundig betrunkener Mann unterbricht das Gespräch aus der ersten Reihe und gibt einige wenig verständliche Worte von sich, welche sich lose auf das Thema Pandemie beziehen. Er hört nicht auf zu reden und allgemeine Unruhe bricht im Saal aus. Es gibt Zwischenrufe, „Wir wollen über den Film reden!“, bis schließlich ein Mann das Wort ergreift und einfach laut über den Film spricht. Der Saal beruhigt sich wieder. Während der Pandemie, welche die Form der Arbeit verändert hat, stellte sich die Arbeiterkammer als wichtige Institution heraus, die auch politische Arbeit leistete. Wulff zeigt sich glücklich, durch die Vernetzung in der Kammer auf die Maskenaffäre (österreichische Firmen hatten chinesische Masken importiert und diese als „Made in Austria“ umetikettiert) aufmerksam geworden zu sein.                                                   

Die Fragerunde öffnet mit der Frage nach der rechtlichen Grundlage der Firmennennungen im Film. Wulff erklärt, sowohl mit der Institution als auch juristisch genau geklärt zu haben, dass es möglich sei, die Namen der Firmen zu gebrauchen. Dies diene der Arbeiterkammer sogar als Prävention, denn viele Firmen tauchen immer wieder in der Arbeit der Kammer auf.

Die Rezeption des Films sei in Deutschland überraschend positiv, in Österreich gebe es von der Linken eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber der Kammer, die in ihrer Gründung fußt, sich jedoch in den letzten Jahren gelegt habe. Worauf diese Voreingenommenheit fußt, bleibt in der Diskussion unklar. Einige Linke kritisieren beispielsweise, dass der starre Fokus auf Arbeiter andere soziale Gruppen ausblende, oder werfen ihr eine zu enge Beziehung zur Sozialdemokratischen Partei Österreichs vor.

Danach gefragt, wie es Wulff gelinge, bei so einem langen Dreh die kritische Distanz zu wahren, antwortet er, die Grundregel sei, dass die Institution vertraglich keinen Einfluss auf den Schnitt nehme. Ein gewisses Vertrauen der Mitarbeiter sei natürlich nötig, er wiederhole jedoch keine Szenen und interveniere nie in den Arbeitsvorgang. Anschließend finde im Schnitt eine „kalte Analyse“ des Materials statt, die die nötige Distanz gewährleiste.             

Kritisch wird dann die Schlussszene, in der der Film von der Arbeiterkammer in die ruhigen Straßen Wiens wechselt, diskutiert. Auf einige Zuschauer wirkt sie leer, auch Hedinger stellt in Frage, ob es der bestmögliche Schluss sei. Die Szene sei in ihrer Bedeutung zu vielschichtig und lüde uns zu sehr ein, über die Häuser und deren Einwohner zu spekulieren. Wulff verteidigt sie als Rückbezug zum Anfang, sowie von der Institution zu den Arbeitern, ihm gefalle die Offenheit der Szene.

Zum Schluss wird noch über das Verhältnis zu den abgebildeten Menschen gesprochen. Wulff erläutert, alle hätten eine Einverständniserklärung unterschrieben und durch die lange Wartezeit konnte er das Projekt meist gut erklären. Das Team sei mit der Kamera immer sehr präsent gewesen, das Gegenteil zu einer „unsichtbaren Kamera“, die Wulff scharf als „Überwachungskamera“ kritisiert.

Die Diskussion beleuchtet die respektvolle und zugleich interessiert-distanzierte Haltung, mit der in Für die Vielen eine Institution betrachtet wird. Die Arbeiterkammer erschließt sich dem deutschen Zuschauer, trotz eines fehlenden deutschen Pendants, durch reines Beobachten der Arbeitsschritte.

Von Luk Polleit