Il Cinema Ritrovato 2018: Spring in a Small Town von Fei Mu

Spring in a Small Town von Fei Mu

Andrey Arnold: Wie findest du dein Festival bis jetzt?

Sebastian Bobik: Es fällt mir schwer so früh schon wirklich Bilanz zu ziehen, aber alles in allem denke ich es war bisher ziemlich gut. Ich habe vieles gesehen, bin überrascht, enttäuscht und auch überwältigt worden von verschiedenen Filmen. Bei dir?

AA: So weit, so gut. Gestern haben wir einen Film gesehen, von dem du besonders begeistert warst. Willst du ein bisschen was dazu sagen?

SB: Definitiv! Gestern haben wir Spring in a Small Town von Fei Mu gesehen. Ein chinesischer Film aus dem Jahr 1948, also kurz nach dem Krieg. Der Film erzählt unter anderem über das Trauma des Krieges, aber tut es in einer Art Kammerspiel. Auf einem Grundstück und innerhalb einiger Tage werden die verschiedensten Emotionen von fünf Figuren durchlebt, die durch eine Wolke aus Sehnsucht und Entfremdung driften. Besonders stark fand ich die Kraft dieses unterdrückten Begehrens, aber auch die Ehrlichkeit, mit der schon damals Emotionen rund um einen möglichen Ehebruch dargestellt werden. Es wird nie platt moralisiert, wer Recht oder Unrecht hat, und die Tatsache, dass sich diese Figuren eigentlich alle sehr sympathisch sind und keiner dem anderen wehtun will macht das ganze ebenso schöner, wie auch schmerzvoller.

AA: Außergewöhnlich für einen Film dieser Zeit fand ich vor allem die Atmosphäre. Er spielt in einer völlig eigenen Welt. Eine Welt, die zugleich konkret und abstrakt ist und völlig aus der Zeit gefallen scheint (soweit ich mich erinnern kann, verzichtet der Film auf eine explizite historische Zeitangabe). Schauplatz ist ein Dorf oder Städtchen, das vom Krieg verwüstet wurde. Manche Häuser stehen noch, aber der Gesamteindruck ist der einer Ruinenlandschaft. Und zwar einer, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie völlig in der Versenkung verschwinden (an den Mauern rankt sich schon der Efeu) oder doch eine Wiedergeburt wagen will (in den Außenaufnahmen spürt man die Frische des Frühlings). Hier lebt die Hauptfigur, eine unglücklich verheiratete Frau, in einem sonderbaren Schwebezustand, der sich auch in ihrem Habitus äußert. Ihre Bewegungen sind anmutig, aber auch müde und von einer somnambulen Langsamkeit. Man hat beinahe den Eindruck, ihre Wirklichkeit stünde unter Wasser. Hast du das ähnlich empfunden?

SB: Absolut! Ich glaube, was diese Atmosphäre unterstützt, ist, dass es nicht nur keinerlei zeitliche Angabe gibt, sondern auch, dass dieses „Dorf“ eigentlich kaum eines ist. Man sieht nie irgendwelche anderen Figuren, nicht einmal im Hintergrund, während unsere Hauptfiguren spazieren gehen. Es stimmt auch, dass jegliche Gesten und die Handlung allgemein sich beinahe in Zeitlupe bewegen. Auch das ab und zu auftretende Voice-Over, welches zwar von Yuwen (der Hauptfigur) gesprochen wird, aber auch von Dingen berichtet, die sie nicht wissen kann, trägt zu dieser absolut eigenen Atmosphäre bei. Der Film ist ungewöhnlich still. Man konnte in bestimmten Szenen jede Regung im Kinosaal vernehmen. Manchmal wurden Geräusche wie eine sich schließende Tür völlig ausgelassen.

Doch obwohl der Film eindrücklich und ehrlich von einer großen Einsamkeit erzählt, lebt er ja eigentlich von den Figurenkonstellationen. Oft werden ganze Szenen in langen weiten Einstellungen gezeigt (die Kamera bewegt sich trotzdem leicht mit, wird nie ganz statisch, sondern ist immer „flüssig“). Was dann besonders auffällt, ist der Raum zwischen Figuren. Zwar wird geredet und gesungen, doch man spürt vor allem die Blicke, die kurzen Berührungen von Händen, die zugleich wieder beschämt aufgehoben werden, und wie oft Figuren das Verhalten anderer sehnsüchtig beobachten. Es gibt eine wundervolle Szene im Film, wo die Figuren einen Ruderausflug machen. In mehreren Großaufnahmen sehen wir ihre glücklichen Gesichter. Doch unser heimliches Paar bekommt eine gemeinsame Einstellung. Eine Großaufnahme von ihr folgt ihrem Blick und endet in einer Großaufnahme von ihm. Innerhalb einer Einstellung werden zwei Figuren verbunden – fantastisch. Überhaupt ist es schön zu sehen, dass ein Film, der eigentlich eher in geschlossenen Räumen spielt und viele Dialoge beinhaltet, seine eigene filmische Sprache entwickelt, die nicht aufgedrückt „filmisch“ ist, indem sie sich über Montage hervorhebt, aber auch nicht mit völlig statischen Einstellungen arbeitet. Ist dir in der Hinsicht noch etwas aufgefallen?

AA: Der Film fließt ja generell eher, als dass er schneidet. Wir haben gestern kurz über Ozus Early Spring gesprochen – noch so ein trauriger Ehekrisen-Frühlingsfilm, der hier läuft. Unter anderem auch darüber, wie Ozu das Gefühl auf den Punkt bringt, wie ein neuer Morgen existenzielle Nöte wie von Zauberhand vergessen macht (oder verdrängen lässt). Er zeigt seine Figuren am tiefsten Punkt, in schmerzlicher, trostloser Verlorenheit. Einen Schnitt später ist die Nacht vergangen, die Vögel zwitschern, die Sonne lacht, und dieselben Menschen, die eben kurz davor waren, alles hinzuschmeißen, machen sich auf den Weg zur Arbeit. In Spring in a Small Town gibt es solche Schnitte nicht. Alles fließt unaufhörlich ineinander, Gefühle und Stimmungen, Innen und Außen(räume). Der Film wirkt wie eine einzige, unaufhörliche Überblendung, die sich erst ganz am Ende darauf festlegt, wohin sie eigentlich überblenden will.

Regisseur Fei Mu findet unterschiedliche Lösungen, um dieses Fließen zu vermitteln. Eine sind natürlich buchstäbliche Überblendungen, zum Teil erstaunlicherweise sogar innerhalb einer Szene, einer Bewegung. Eine andere ist die langsame, hin- und herwandernde Kamerabewegungen innerhalb einer Einstellung, die du beschrieben hast. Besonders eingeprägt hat sich mir diesbezüglich eine Szene am Anfang des Films. Der alte Freund des (seelen-)kranken Gatten der Hauptfigur, ein junger Arzt, ist bei den Eheleuten zu Gast. Einst waren er und die Frau Geliebte, was noch niemand außer ihnen weiß. Die kleine Schwester des Gatten, die einzige richtige Frohnatur im Ensemble der Eingeschlossenen, hat ein Auge auf ihn geworfen und singt ein Lied, um ihm zu imponieren, während die Frau im Vordergrund Hausarbeiten erledigt, Sachen hin- und herträgt. Die Kamera lässt sich indessen von Blicken leiten, von widersprüchlichen Aufmerksamkeiten und Begehrensvektoren, schwankt ruhig zwischen den Positionen, ohne Schnitt. Ich musste an Hou Hsiao-hsien denken. Generell dürfte der Film ziemlich einflussreich gewesen sein im chinesischsprachigen Raum. Im Katalog steht, dass Jia Zhang-ke ihm in I Wish I Knew Tribut gezollt hat. Du meintest gestern, er hätte bei dir Assoziationen zu In the Mood For Love geweckt. Könntest du das näher ausführen?

Spring in a Small Town von Fei Mu

SB: Die Assoziation ist wahrscheinlich die simpelste, aber auch die schnellste für mich gewesen. Ich rede dabei gar nicht so sehr von der Form und dem Stil des Filmes (obwohl beide Filme natürlich auf unterschiedliche Art und Weise die Zeit und einzelne Momente der Sehnsucht in absolut zerreißende Länge ziehen), aber einfach auf der Basis der Handlung und wie der Film damit umgeht. In beiden Filmen geht es um eine verbotene Liebe, ein Thema das oftmals in Melodramen behandelt wird. Doch die beiden Filme stechen eben dadurch heraus, dass diesem Begehren, diesen Gelüsten niemals nachgegeben wird. Die Figuren sind erstarrt in einem Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie sie sich benehmen sollten, und dem, was sie eigentlich tun wollen. Es gibt in beiden Filmen keine Sexszenen, nicht einmal einen Kuss, glaube ich. Stattdessen erbebt das Universum des Filmes jedes Mal, wenn sich die Hände der Begehrenden kurz berühren, oder sie sich durch den Raum Blicke zuwerfen.

Was ich aber sehr spannend fand, ist das Fei Mus Film fast ehrlicher damit umgeht als Wongs. Bei In the Mood For Love spüren wir immer die Sehnsucht und Zärtlichkeit, aber er wird nie wirklich erotisch. Spring in a Small Town hingegen hat für mich in einigen Szenen eine wahnsinnig erotische Spannung aufgebaut. In den Momenten in denen die beiden sich nicht in Gesellschaft anderer befinden, flirten sie beinahe. Jede Bewegung, jeder Hüftschwung wird dabei so klar gesetzt, dass ich eine wahnsinnige Spannung zwischen den Beiden verspürt habe, die sich nicht davor geschämt hat auch das einfache sexuelle Begehren zu thematisieren. Ebenfalls mit großer Ehrlichkeit wird sogar der Gedanke in den Raum geworfen, dass es am einfachsten wäre, wenn der Ehemann einfach verschwinden würde. Ein Gedanke, den Yuwen, sobald sie ihn ausspricht, auch wieder bereut. Es sind solche Momente in denen der Film sehr modern wirkt und ehrlicher mit solchen Themen umgeht als die meisten Filme, die zu diesem Thema gemacht werden. Ich musste ebenso wie du oft an Hou denken. Der Film hat mich extrem beeindruckt, und mittlerweile habe ich das Gefühl, er hat sich auch in deinem Kopf festgesetzt. Trotzdem möchte ich dich fragen: Hat sich deine Meinung zum Film seit gestern verändert? Anfangs war ich definitiv begeisterter als du.

AA: Stimmt, aber das lag weniger am Film selbst als an der festivaltypischen Kollision unterschiedlicher Zeitlichkeiten. Ich war zum gegebenen Zeitpunkt einfach nicht eingestellt auf die, ohne das wertend zu meinen, Trägheit und Trübseligkeit des Films, und hatte daher stellenweise Schwierigkeiten, mich auf sie einzulassen. Aber Spring in a Small Town scheint mir ohnehin ein Sicker-Film zu sein, der seine Kraft nicht zuletzt im Weiterwirken entfaltet. Er hat fraglos Eindruck bei mir hinterlassen, wie ich auch jetzt in der Diskussion merke. Man könnte noch lange über ihn diskutieren. Interessant wäre etwa die Frage nach seiner Politik: Schließlich geht es auch um den Widerstreit zwischen Altem und Neuem, darum, wie das Alte (repräsentiert durch den wohlwollenden, aber buchstäblich introvertierten, depressiven Ehemann) dem Neuen oder der Möglichkeit des Neuen im Weg steht, wie schwer es auch moralisch ist, sich aus dem Sumpf der Nachwehen eines schweren (Kriegs-)Traumas herauszuziehen. Oder den gegebenen Verhältnissen zu entfliehen.

Eigentlich fast wie bei Ozu, um den Vergleich wieder aufzugreifen – Early Spring und Spring in a Small Town teilen sich, wenn ich mich nicht irre, sogar ähnliche Schlussbilder. Nur hat man bei Ozu ein Gefühl der Fruchtlosigkeit jeglichen Emanzipationsbestrebens, weil alles so hart und unerbittlich ist (das Schicksal, die Schnitte, die Architektur), und hier die mögliche Veränderlichkeit des Seins auch in der Form durchzuschimmern scheint. Oder wäre gerade die Härte weniger besänftigend? Spannend finde ich auch, wie der Film jemanden wie Antonioni vorzuzeichnen scheint, nur in weniger urbanem Kontext: Verfallende Mauerreste und zerschossene Anwesen als Psychogeografie einer orientierungslosen Bürgerlichkeit. Eine etwas abschüssigere Assoziation: Mario Bavas nebelversunkene Gruselschlösser, die gleichfalls von schwerlastender Vergangenheit in Abgründe gezogen werden. Hervorzuheben wäre auch der bereits von dir erwähnte, eigenartige Einsatz des Off-Kommentars, ein scheinbar allwissender innerer Monologs der Hauptfigur, bei dem ich mir nie sicher war, ob er überflüssig oder absolut essenziell für den Film ist. Schade nur, dass Spring in a Small Town (wie die meisten chinesischen Arbeiten hier) nicht auf Film gezeigt wurde: Passagenweise wirkte das Digitalisat doch recht klobig auf mich.

Il Cinema Ritrovato 2018: Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Das Il Cinema Ritrovato beginnt für mich mit Ohrensausen. Im Sala Scorsese der Cineteca di Bologna dröhnt und scheppert es von der Leinwand, als gäb’s kein Morgen mehr, das Trommelfell schlackert im Schallwellenbad. Meine Sitznachbarinnen sind im Begriff, sich notgedrungen Ohropax aus Papiertaschentüchern zurechtzupfen, als die Saalregie sich erbarmt und den Pegel runterschraubt. Vielleicht hätte sie ihn aber lassen sollen, wo er war. Vielleicht muss es laut sein, wenn Čhapaev kommt.

Čhapaev ist die Hauptfigur von Čhapaev, einem Film über den sowjetischen Bürgerkriegshelden Čhapaev. Der Ton und seine Kraft liegen ihm (dem Film) am Herzen. Denn Čhapaev entstammt der „Goldenen Ära des sowjetischen Tonfilms“: So heißt auch die Festivalprogrammschiene, in der er läuft. Und die widmet sich, um genau zu sein, dem Jahr 1934: Einem besonders fruchtbaren Kapitel in den Annalen der Sowjet-Filmgeschichte, wie Kurator Peter Bagrov in seiner Einführung betont – mythologisch in etwa Hollywoods annus mirabilis 1939 zu vergleichen.

Und Čhapaev ist selbst in diesem Kontext nicht irgendein Film, sondern der Film schlechthin. Sprich: Größer als die Beatles und Jesus zusammengenommen, legendär bis heute und darüber hinaus. Jeder Russe hat von ihm gehört, so gut wie jeder hat ihn gesehen. Dialogzeilen entwickelten sich zu geflügelten Worten, seine Protagonisten zu Archetypen, über die man ganz vortrefflich Witze reißen kann. Er bietet Action & Humor, Musik & Melodramatik, tolle Bilder und coole Sprüche: Ein White Sun of the Desert seiner Zeit.

Das alles nimmt kaum Wunder. Was an Čhapaev besonders erstaunt, ist seine Klarheit. Klar sind die Gesten und Dialoge: Jeder Satz will gehört werden, jede Bewegung greift mit Nachdruck Raum und gebietet Respektabstand, muss sich erst setzen, bis die nächste auf die Bühne darf. Klar sind die Figurentypen, klar auch Montage und Kameraführung, klar der Himmel über den kargen, strahlenden Landschaftskulissen. Der Film spielt an der Wolga, im Ural. Ob er auch dort gedreht wurde? Ich weiß nicht, aber ich kaufe es ihm ab.

Nur Čhapaev selbst ist nicht so klar, wie man vermuten könnte. Er ist zwar ein Volksheld vor dem Herrn, aber kein propagandistischer Pappkamerad – denn im Grunde schließt das eine das andere aus. Gespielt wird er vom Theaterschauspieler Boris Babočhkin, davor auf Schurkenrollen abonniert (und privat ein glühender Verächter des Sowjet-Regimes). Sein Red-Army-Kommandeur ist ein aufbrausender, roher Bursche, der keine Widerrede duldet. Aber auch ein gefühlvoller, zuweilen sogar g’schamiger Mann, der zu singen beginnt, wenn das Gemüt ihn drückt. Er macht Fehler und lernt aus ihnen, hat Humor und Heimweh, kurzum: ist ein Mensch.

Auf eindrucksvolle Weise vereinen sich in ihm die Ikonizität des überlebensgroßen Idols mit Nahbarkeit und Bodenständigkeit. Auf seinem treuen Rappen sitzend, den Feldherrenblick aufs Schlachtfeld gerichtet, wirkt er am Gipfel einer malerischen Totale wie ein russischer Napoleon; mit diesem vergleicht ihn auch sein junger Adjutant Pet’ka (die Diminutivform von Petja, d.h. Peter). Dabei erscheint sein gerühmtes strategisches Talent als eine Art Bauernschläue: Wie man sich als Anführer einer Armee-Division zu verhalten hat, erklärt er einem Untergebenen mithilfe von Kartoffeln und Zigaretten, weil diese gerade zur Hand sind – und mit einer Pfeife, die er dem aus Moskau angereisten Kommissar behände aus dem Mund zieht, nur um sie ihm kurz darauf mit resoluter Anmut wieder zwischen die Lippen zu stecken, als wäre nichts gewesen. Und von Alexander dem Großen hat der tapfere Krieger, zu seiner nicht unbeträchtlichen Verlegenheit, noch nie etwas gehört.

Auch besagter Kommissar hat die dramaturgische Funktion, Čhapaev zu vermenschlichen: Er repräsentiert sein Gewissen, fungiert als Stimme der Vernunft (sprich: der Partei), die den stolzen, übermütigen und ungebärdigen Lausebengel im Zaum halten soll. Dank ihm nimmt man Čhapaev nicht nur als Autorität wahr, sondern als jemanden, der selbst Objekt einer (höheren) Autorität ist. An einer Stelle kommt es zum ausgestellten Konflikt zwischen den Janusköpfen des Helden: Ein Offizier wird wegen Plünderei unter Arrest gestellt. Als Čhapaev das erfährt, wähnt er seine Befehlsgewalt unterminiert und regt sich auf. Doch dann stehen plötzlich Dorfbewohner vor der Tür, um sich für die Rückgabe des Diebesguts zu bedanken, und er sieht seine Vermessenheit ein.

Die Sequenz ist mit großer Sorgfalt geschnitten, jongliert virtuos mit Gesichtern (das Regieduo der Vasilyev-Brüder, in realitas gar keine Brüder, waren vor ihrem Durchbruch mit Čhapaev berühmt für ihre nahtlosen Zensurmontagen ausländischer Kinoproduktionen). Als Čhapaev das Licht der Erkenntnis aufgeht, lugt der böse Offizier, ganz personifiziertes Id, hoffnungsvoll durch einen Spalt in seiner Kerkertür. Doch sein Chef schickt ihn mit dem zerknirschten Blick eines auf frischer Missetat ertappten Lümmels zurück in die Dunkelheit. Der Zwist zwischen Altersweisheit und jugendlichem Übermut scheint aufgelöst. Auch äußerlich vereint Čhapaev beides: Die Jugend in seiner kantigen Statur und dem energischen Habitus (um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, pflanzt er sich mit Vorliebe breitbeinig auf), das Alter im Schnurrbart und der gerunzelten Stirn.

Er war der Held, auf den die sowjetischen Kinozuschauer gewartet hatten. Buchstäblich: Seit 1931 war die Einfuhr ausländischer Filme vom Zentralkomitee drastisch eingeschränkt worden. Gleichzeitig geriet auch die heimische Laufbildproduktion zunehmend in die Kritik: Wegen Formalismus auf der einen und antirevolutionärem Unterhaltungsanspruch auf der anderen Seite. Gezeigt wurde hauptsächlich Agit-Prop über die Erfolge der Kollektivierung. Die Folge waren leere Kinosäle und -kassen (Quelle: Einführung und Katalogtext, beide von Peter Bagrov).

Čhapaev muss dieses Vakuum zur Implosion gebracht haben wie die Stecknadel einen Ballon. Der Film strotzt nur so vor Kinokraft, beherrscht alle Spielarten von Leinwandpathos aus dem Effeff, und ist zugleich mit allen Wassern der Montagetheorie gewaschen (eine von Bagrovs Einführungs-Anekdoten besagt, Eisenstein solle auf Kritik an seiner Theorieversessenheit gemeint haben, er sitze nur so viel am Schreibtisch, damit Filme wie Čhapaev das Licht der Welt erblicken können).

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Eine besondere Stärke des Films sind Abschiedsszenen, von denen er gleich zwei Prachtexemplare bereithält. In einer trennt sich Pet’ka von seiner Angebeteten Ko-Soldatin Anka, bevor er zu den Weißgardisten spähen geht. Noch sind die beiden keine Geliebten. Stolz und zugleich verschämt druckst Pet’ka rum, gibt Anka die Hand, während sein Blick schon zur Tür wandert, und verlässt dann ruckartig die Heimstatt Richtung Front. Sie besinnt sich, läuft ihm nach, doch er ist schon am Horizont, umflort vom Glanz der Abenddämmerung. Ankas zwischen Wohlwollen und Besorgnis oszillierender Gesichtsausdruck, die schummrig strahlende, überraschend natürliche Lichtstimmung, all das schafft den perfekten Spagat zwischen Kitsch und Poesie. Später spiegelt sich das Motiv in einer Trennung zweier Männer: Čhapaevs Abschied vom liebgewonnenen Kommissar, der nach Moskau zurückbeordert wurde, gerät nicht minder intensiv.

Diese Momente gehen fast wortlos vonstatten, die Stummfilmzeit liegt noch in greifbarer Nähe. Auch die womöglich stärkste Bilderfolge des ganzen Films bedarf keiner verbalen Erläuterungen – bloß der musikalischen Untermalung. Sie spielt in den Gemächern des weißen Erzgegners Oberst Borozdin (verkörpert von Illarion Pevtsov, dem einstigen Schauspiellehrer des Hauptdarstellers Babočhkin), einem für diese Art Film ungewöhnlich undämonsichen, besonnenen Bösewicht. Er sitzt am Klavier, die Melancholie von Beethovens Mondscheinsonate erfüllt den Raum. Im Hintergrund schunkelt sein alternder Diener und Offiziersbursche Potapov, eine treudoofe, traurige, in ihrer dumpfen Stämmigkeit fast schon Frankenstein-hafte Erscheinung, tranceartig hin und her, wie hypnotisiert von Musik, Kultur und der hochwohlgeborenen Aura seines Herrn und Meisters (sowie dessen gleißender Glatze). Ein paar Schnitte später erkennt man, dass Potapovs Tanz kein Tanz ist, sondern die rhythmischen Wischbewegungen einer Putzkraft. Da fällt sein Blick auf die Verurteilung zum Spießrutenlauf, die seinem geliebten Bruder das Leben kostete und dessen Ausführung Borozdin hätte verhindern können. Der Bann scheint für einen kurzen Moment gebrochen – und der Besenstiel stürzt mit lautem Knall zu Boden. Viel markiger kann man Kritik an der Klassengesellschaft filmisch nicht auf den Punkt bringen.

Musik spielt in Čhapaev eine bedeutende Rolle. Gesang blüht periodisch auf. Natürlich ging es hier nicht zuletzt um die Zurschau-(eher::Zurhör-)stellung der Vorzüge des Tonfilms, der sich in Russland etwas später durchsetzte als anderswo. Doch erst in den Liedern, die die Hauptfiguren an entscheidenden Stellen anstimmen, wird Čhapaev vollends zum Volkshelden, verschmilzt im Duett mit Pet’ka und im Chor der einfachen Soldaten mit der sprichwörtlichen „russischen Seele“. Meist handeln diese Lieder vom möglichen, wenn nicht schon drohenden Tod, sind eher wehmütig als heroisch.

Eine Wehmut, die sich im Übrigen problemlos mit gnadenloser Härte gegen jede Schwäche in den eigenen Reihen vereinbaren lässt. Natürlich ist Čhapaev ein Film, dessen Kultstatus auch bedenklich stimmt – auch und gerade weil er so gut ist in dem, was es tut. In einer der befremdlichsten Szenen, die nicht nur aus historisierender Außenperspektive selbstentlarvend wirkt, erschießt Čhapaev kaltblütig einen Soldaten, der zur Fahnenflucht aufruft. Kurz darauf melden sich zwei weitere. Was denn wäre, fragt der Kommandeur. Sie wollten nur bekanntgeben, antworten die beiden, dass da noch so ein Deserteur war, doch sie haben sich schon um ihn gekümmert. Schnitt auf die Leiche. Čhapaev nickt bloß zur Bestätigung. Fast meint man, Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen ob der Schnelligkeit, mit der sich seine grausame Doktrin verselbständigt hat.

Später geht er dann mit gutem Beispiel voran in den Heldentod. Im Schutze der Nacht blasen die Weißen zum Angriff und überrumpeln die Roten im seligen Schlaf der Gerechten. „Say hello to my little friend“, brüllt Čhapaev und rammt das MG durchs Dachbodenfenster. Vergebens! Die Rache des Märtyrers folgt auf dem Fuße. Nicht zu knapp, sondern ganz alttestamentarisch, siebzigmal siebenmal. Borozdin wird von einem Säbelhieb aus dem Heu-Hinterhalt niedergestreckt, dann werden große Geschütze aufgefahren. Der Feind hat sich auf einer Klippe konzentriert, will gerade zurü-BUMM! Ende Gelände. Fun Fact: Stalin war ein großer Fan des Films, angeblich hat er ihn im Laufe eines einzigen Jahres 38 Mal gesehen. Und auch Putin brauchte, in einem Interview nach seinem Lieblingsfilm gefragt, nicht lange für seine Replik: „Čhapaev, natürlich“.

Cannes-Notiz: Ayka von Sergey Dvortsevoy

Ayka von Sergei Dvortsevoy ist ein Film über eine Frau, die versucht, ihrer Welt davonzulaufen, aber nicht begreift, dass diese Welt eine ist, die man zu Fuß oder mit dem Bus nicht verlassen kann, sondern nur mit Geld. Ein Film, der in Cannes erst sehr spät gezeigt wurde, zu einem Zeitpunkt, an dem man meist selbst erschöpft ist vom ständigen Schauen und durch die Gegend laufen und eigentlich nicht mehr auf große Entdeckungen eingestellt ist. Ein Film über Dringlichkeit, der selbst enorm dringlich ist. Ein Versuch, den Überlebenswillen marginalisierter Menschen in den toten Winkeln einer Großstadt im Verbund mit seinen mannigfaltigen Gegenkräften filmisch zu vermitteln.

Ayka gestaltet sich als unablässige Vorwärtsbewegung mit nur wenigen Verschnaufpausen. Es beginnt mit der Flucht vor einer moralischen Verantwortung. Die Titelheldin hat soeben ein Kind in die Welt gebracht. Jetzt muss sie stillen, sagt die Schwester. Ayka will nicht. Sie stiehlt sich aufs WC, verriegelt die Tür, reißt, tritt, schlägt, bricht das Fenster auf (mit der Gewalt einer Verzweifelten oder bodenlos Ehrgeizigen), stürzt ins Freie, wo der Schnee alles umklammert hält, und beginnt zu rennen. Irgendwann klingelt ihr Telefon, wieder und wieder, sie hebt zunächst nicht ab, es ist Zeit, aber sie hat keine, muss sich erst welche besorgen, bloß wo?

Aykas atemloses Voranpreschen durch ein winterliches Moskau, wie ich es im Kino so noch nicht gesehen habe, hält den Kamerablick gebannt. Gedreht wurde auf 16mm und zum Teil mit einer kleinen Digitalkamera, das Bildformat ist 16:9, fühlt sich aber an wie 4:3. Manchmal wackeln die Bilder unschön, man spürt jeden Schritt. Die Textur ist rau, „dokumentarisch“, aber nicht ohne ästhetischen Anspruch, das städtische Umfeld unwirtlich und wüst. Wie ein unfreies Radikal stromert Ayka in ihrem dunkelblauen Anorak durch diese schwarzgrau stöhnende Chaosdimension. Sie hat einen Tunnelblick, weil ihr das, was sie sieht, sonst den (Aus-)Weg versperren könnte. Und weil es ihrer Welt an Raum mangelt. Wenn Moskau ein Haus ist, kriecht Ayka durch die Lüftungsschächte.

Die Protagonistin ist jung, kommt aus Kirgisistan und lebt illegal in der russischen Hauptstadt, ebenso wie tausend andere Aykas. Mit manchen von ihnen teilt sie sich eine notdürftig parzellierte Mini-Wohnung. Solidarität gibt es hier nicht, im Gegenteil. Kinderfotos stehen auf einem Sims. Ayka fegt sie weg: „Das ist mein Platz!“. Immer wenn man glaubt, der Film könnte nicht mehr beengender werden, wird er es doch. Aykas „Zimmer“ ist ein Abteil aus Vorhängen. Weil die Kamera immer auf ihr pickt, auf ihrem Hinterkopf oder ihrem Gesicht, überträgt sich die klaustrophobische Grundstimmung sukzessive auf den Zuschauer. In ihrem dunklen Schlafnest nimmt Ayka gierige Schlucke aus einem Milchkanister, tankt sich auf für den nächsten Marathon. Sie muss, sie muss, sie muss.

Brave Cinephile fragen sich wahrscheinlich schon: Moment mal, das kenn ich doch! Das ist doch wie Rosetta von den Dardenne-Brüdern, sogar der Name klingt ein bisschen ähnlich! Sehr gut, setzen. Und klar, das ist kein Zufall, das ist Absicht. Mir kamen in Cannes viele negative Spontanreaktionen auf Ayka unter. Manche davon monierten den überdeutlichen Bezug zum Dardenne-Klassiker, weil sie sich von Dvortsevoy nach seinen kraftvollen Dokumentarfilmen, nach seinem vielversprechenden Spielfilmdebüt Tulpan, etwas Eigenständigeres erwartet hätten. Andere taten den Film schlicht als billiges „Ost“-Imitat Rosettas ab. Ich kann das nur bedingt nachvollziehen. Für mich verhält sich Ayka zu Rosetta nicht wie eine Kopie, auch nicht wie ein Remake, sondern am ehesten wie eine Cover-Version. Und ebenso wie in der klassischen Musik unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Partitur Unterschiedliches hervorbringen, können auch Cover ein und desselben Songs einen originären, vom Original weitgehend unabhängigen Charakter annehmen. Ein etwas aparter Vergleich: Wenn Rosetta „Electricity“ von Captain Beefheart ist, wäre Ayka dessen Neuvertonung durch Racebannon.

Alles an Ayka ist extremer – allem voran die Feindseligkeit und (buchstäbliche) Kälte der Welt. Ayka hat keine Bezugspersonen und wird von ihren peripheren Bekanntschaften kaum wahrgenommen. Nicht aus Herzlosigkeit, sondern weil sie selbst allesamt Gehetzte sind, als würde ihnen permanent der Boden unter den Füßen weggezogen: Das Leben als wackliges Laufband. Immer, wenn Ayka (die den Vorteil hat, gut Russisch zu sprechen) versucht, eine Verbindung zu jemandem herzustellen, der sozial über ihr steht und ihr vielleicht helfen könnte, sind diese Menschen bereits in andere Geschäfte verwickelt, müssen Aufträge erfüllen und Kunden bedienen, die ihrerseits höher gestellt sind in der Klassenhierarchie. Dvortsevoy schafft die Ahnung einer geschichteten Welt, in der es nur Bühnen und Hinterzimmer gibt. Meist befinden wir uns hinter den Kulissen, nur selten erhascht man einen Blick auf das schillernde, glücksverheißende Geschehen auf dem Proszenium. Und durch Zufall können sich Wurmlöcher auftun, die wie beim Leiterspiel Abkürzungen nach oben bieten, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Ein Automechaniker kann nichts für die arbeitsuchende Ayka tun, aber eine unzufriedene Geldadlige, die auf ihren Wagen wartet, bietet ihr spontan einen Job an.

Ayka von Sergey Dvortsevoy - ©Kodak

Auch Ayka befindet sich im fortgeschrittenen Abgestumpftheits-Stadium. Sie kann sich nichts anderes leisten, mit dem Abgrund lässt sich nicht verhandeln. Konkurrentinnen werden attackiert, Leiden anderer ignoriert. Das Baby, ist es schon vergessen? Aykas Verschalung erscheint als Direktresultat ihrer Umwelt. Wenn der Schnee nicht stürmt, wiegt er schwer auf den Schultern der Verlorenen. Er verwandelt die Gnadenlosigkeit der Metropole in einen Naturzustand. Ein Wahnsinnsbild: Orangefarbene Schneepflüge donnern mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen, wie eine Panzerkolonne oder eine Herde wildgewordener Bisons, das matschige Weiß machtvoll spaltend, niederwalzend und zur Seite schleudernd, apokalyptische Eisbrecher auf Autopilot. Wie fast alle guten Kinobilder ist es Symbol und Wirklichkeit in einem. Ayka, die auch Schnee schaufeln muss, aber leider nur ein Mensch ist, stützt sich ab, versucht, etwas Luft zu holen – Luft, die ihr auszugehen droht. Eine Vorarbeiterin ruft ihr zu, sie sei hier nicht zum Däumchendrehen.

Ein weiterer Vorwurf gegen Ayka, der mir in Cannes begegnete, war jener, es handle sich bei Dvortsevoys Film um „misery porn“. Ein Label, das ich selbst schon Filmen aufgestempelt habe, womöglich zu Unrecht. Hier scheint es mir jedenfalls vollkommen unangebracht. Es greift nur, wenn man an der Oberfläche bleibt. Ja, Ayka handelt von Armut, von Menschen, denen überwiegend Schlechtes widerfährt und die von anderen schlecht behandelt werden. Aber keine Sekunde lang ist der Film exploitativ oder melodramatisch. Für Melodramatik hat er schlicht keine Zeit. Schicksalsschläge werden hingenommen und abgeschüttelt, dann geht es weiter im Takt. Nie hat man das Gefühl (bedingt durch sorgfältiges Casting und den generellen Vorwärtsdrall des Films, der einem kaum die Gelegenheit gibt, emotional in Einzelszenen reinzukippen), die bösen Taten und Worte einzelner Personen würden von einer inhärenten Bösartigkeit ausgehen, sondern stets von einem größeren, systemischen Zusammenhang – den sprichwörtlichen Gegebenheiten, deren Ahnung jede Pore der Diegese durchdringt.

Zudem ist kein Detail (und Ayka steckt voller Details) reiner Selbstzweck. Jedes Element dient der Gesamtkonstruktion und zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Realitäten, die dem Film zugrunde liegen. Dvortsevoys Dokumentarfilmer-Background ist deutlich spürbar – in der Genauigkeit der Ausstattung, in den Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks unterschiedlicher Figuren, im Verlauf bestimmter Szenen und nicht zuletzt im Gespür für profilmische Eindrücke mit starker Präsenz. Besonders Tiere haben es Dvortsevoy angetan. Eine ganz und gar nicht süße Einstellung dreier an den Zitzen ihrer Mutter hängender Hundebabys, die mit dem Anblick weinender Säuglinge aus dem Eröffnungsbild des Films korreliert, schreit besonders laut von der Leinwand herunter. Aykas Metaphorik mag oft plump sein, aber an Kraft büßt sie darob nicht ein. Vielleicht braucht sie sogar eine gewisse Derbheit und Urgewalt, um dem reißenden Fluss der Erzählung zu entkommen.

Sergey Dvortsevoy - ©Festival de Cannes

Ayka hat mir auch geholfen, besser zu verstehen, warum ich mit Saul fia von László Nemes Probleme hatte. Unabhängig davon, ob Dvortsevoy von Nemes inspiriert wurde oder nicht: Zwischen dessen Holocaust-Höllenritt und Ayka gibt es Parallelen. Die hypersubjektive Perspektive, der beengende Klammergriff der Kamera, die dumpfe Zielstrebigkeit der Hauptfigur, ihr rastloser Parcours durch eine Umwelt, die freilich nicht mit Ausschwitz verglichen werden kann, aber doch infernalische, alptraumhafte Züge trägt. Nemes versucht sich in Saul fia an der Vorstellung eines Orts, den sich das Kino in dieser Form vielleicht gar nicht vorstellen sollte, nähert sich seiner Annäherung über andere Annäherungen, und sichert sich permanent ab, indem er den Meta-Diskurs über filmische Holocaust-Figurationen in sein Narrativ einwebt. Sein Film, der viszeral und immersiv sein will (ohnehin schon streitbar in diesem Kontext), bekommt dadurch ironischerweise etwas Akademisches, Künstliches, auch seltsam Angeberisches. Vieles wirkt gesetzt, alle Gesten, die etwas bedeuten wollen, sind als solche erkennbar, besonders das Schlussbild. Ob Nemes mit den Zielen, die er sich gesteckt hat, einen besseren Film hätte machen können, sei dahingestellt.

Ayka hingegen erzählt von einer Welt, die Dvortsevoy zwar nicht selbst erfahren, aber fraglos selbst gesehen hat. Er bedient sich ähnlicher Mittel wie Nemes, doch es gibt keinen doppelten Boden: Der Film zeigt uns das, was er uns zeigen will, über weite Strecken mit unverblümter Direktheit – selbst das, was im Off bleibt. Trotzdem verweist er über die Spezifizität seiner Geschichte und seiner Bilder hinaus, ohne sich damit aufzudrängen. Ayka, eindringlich verkörpert von Samal Esljamova, ist singulär, konkret, nur sie und niemand sonst – aber auch ein pars pro toto. Und ihr Spießrutenlauf ist zweifelsohne der einer in Moskau ums Überleben kämpfenden Kirgisin – aber er handelt auch von allgemeinen Zuspitzungstendenzen der Gegenwart. Wenn man will (man muss natürlich nicht wollen), dann ist Ayka auch ein Film über Cannes. So oder so: Wenn die Titelheldin am Ende zusammenbricht, tut sie das nicht, weil der Filmemacher es so haben will, sondern weil es ganz einfach nicht anders geht.

Ayka von Sergey Dvortsevoy - ©Festival de Cannes

Il Cinema Ritrovato 2017: The Power and the Glory von William K. Howard

Manchmal bedarf es des zeitigen Anstoßes durch einen Mitbetrachter, um zu erkennen, dass man bei der Beurteilung eines Films einem Kurzschlussurteil unterlegen ist. Der Wert des Schweigens nach dem Kino – insbesondere des Schweigens über den gesehenen Film – sollte nicht unterschätzt werden; denn es gibt dem eben Aufgenommenen die Möglichkeit, weiterzuwirken, sich zu entfalten, Wurzeln zu schlagen. Aufzugehen in den Tiefenschichten des persönlichen Bildreservoirs, auf dass es irgendwann in neuem, ungeahntem Gewand wiederauferstehen kann. Doch genauso leicht vermag die unventilierte Filmerfahrung eines Cinephilen und Vielsehers zu verkrusten und ins Unbewusste abzusinken, in einer Form, die dem zugehörigen Kunstwerk in keiner Weise gerecht wird. Womöglich hat man schon beim Schauen gespürt, dass in den Bildern mehr steckt, als der erste Blick verrät. Doch irgendein Denkreflex hat sich quergestellt und die Intuition abgebügelt. Das kenne ich schon, ich weiß, wie das funktioniert. Ein klarer Fall nach Schema F, etc. pp. Man kommt aus dem Kino und tut seine fundierte Geringschätzung kund, mit wohliger Abgeklärtheit in den Augen. Und man beginnt bereits damit, zu vergessen. Womöglich zu Recht – doch vielleicht auch nicht. Und lauscht man dem, was andere über den Film zu sagen haben, jene, die anderer Meinung sind und diese auch zu begründen wissen, so gibt es hier, in dieser kurzen, empfindlichen Phase zwischen Ersteindruck und Bilanz, die Hoffnung einer Rettung.

The Power and the Glory von William K. Howard

Eine solche erfuhr für mich William K. Howards The Power and the Glory (1933) beim heurigen „Il Cinema Ritrovato“. Ein Film, der mich beim Sehen relativ kalt ließ – abgesehen von der Irritation durch ein paar stilistische Eigenheiten, die ich allerdings sehr schnell unter der Kategorie „gescheiterte Experimente“ verbuchte. Er handelt vom Leben und Tod des (fiktiven) Railroad-Tycoons Tom Garner, der in jeder Altersstufe von Spencer Tracy gespielt wird. Erzählt wird Garners Geschichte von seinem Sandkastenfreund und langjährigen Wegbegleiter Henry (Ralph Morgan). Der Film beginnt mit einer Totenmesse für den verschiedenen Magnaten, die ein sichtlich niedergeschlagener Henry gesenkten Hauptes verlässt. Zuhause spricht er mit seiner Frau über den Toten. Diese hat kaum gute Worte für ihn übrig. Henry sieht sich veranlasst, Garner (oder Tom, wie er ihn nennt) in Schutz zu nehmen, und seine Imagekorrektur-Bestrebung setzt seine Reihe von Rückblenden in Gang (die markante Flashback-Struktur des Film legt einen Einfluss auf Orson Welles‘ Citizen Kane nahe, wie Pauline Kael und Dave Kehr – der Kurator der Howard-Schau in Bologna – vermerkt haben).

Die Rückblenden zeichnen Garners Werdegang in groben Zügen nach. Einerseits ist die knapp 80-minütige Erzählung sehr elliptisch. Man sieht die Hauptfigur als Kind, und kurz darauf heißt es im Voice-Over: „Ehe man sich’s versah, war er einer der erfolgreichsten Eisenbahnunternehmer des Landes“. Andererseits gibt es eine komplexe narrative Schichtung mit vier Zeitebenen, zwischen denen zickzack-artig hin- und hergesprungen wird: Garners Kindheit, seine Prä-Tycoon-Phase als einfacher „track walker“ (eine Art ambulanter Schieneninspektor), der spätere Zenit seines Erfolgs und die Rahmenhandlung nach seinem Tod. Auf den ersten Blick entsteht dabei (im Unterschied zu Citizen Kane) der Eindruck der Apologie eines missverstandenen Self-Made-Mannes, der vielleicht etwas überambitioniert, aber (fast) immer rechtschaffen und ehrlich war. Dessen Unglück in erster Linie auf die Schwäche und Ignoranz seiner Nächsten zurückzuführen ist. Ich nahm diese Präsentation, die wie ein Schlüsselreiz auf meinen ideologiekritischen Reflex wirkte, für bare Münze – obwohl es durchaus Momente gab, in denen gewisse Widersprüchlichkeiten der Form leise Zweifel in mir weckten, ob der Film sich wirklich derart vorbehaltlos hinter Garners Figur stellte, wie ich meinte, glauben zu müssen. Weiters erschien mir Henrys aufdringlicher Voice-Over als unnötige Doppelung der Bildebene – ein weiters Reflexurteil, diesmal formalistischer Natur. Wenn’s bei Blade Runner nicht passt, warum sollte es hier Sinn machen?

Nach dem Film war ich bereit, ihn sofort ad acta zu legen, als müde Aufsteiger-Story und holprige Spielerei mit fragwürdiger Botschaft. Doch das kurze Gespräch mit einem Freund unmittelbar nach dem Screening belehrte mich eines Besseren – vor allem, weil seine Argumente andocken konnten an Aspekte meiner Wahrnehmung, die ich zwar verdrängt, aber noch nicht verbaut hatte. Der bloße Hinweis auf eine Handvoll offenkundiger Doppelbödigkeiten rückte den Film umgehend in ein anderes Licht und zwang mich, ihn nochmal unter anderen Vorzeichen Revue passieren zu lassen.

The Power and the Glory von William K. Howard

Zentral für dieses Umdenken war die Bewusstwerdung der eigentümlichen Perspektive von The Power and the Glory. Nahezu alles, was wir über Tom erfahren, wird durch Henrys rosarote Brille gefiltert. Und Henry ist eine ziemlich jämmerliche Figur. Ein pedantischer Angsthase und geborener Lakai, der sein Leben lang zu Tom aufgeblickt hat, stets in dessen Schatten stand und vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt war, ohne es sich selbst einzugestehen – eine Art Smithers ohne Pragmatismus. Der Film macht dies in jeder dritten Szene deutlich. Zeigt, wie er sich als Kind nicht traut, ins Wasser zu springen, als Tom sich beim Tauchen zwischen zwei Steinen verheddert. Wie er als Studierender genüsslich eine schnörkelige Schönschrift kultiviert – in einem Brief an den verehrten Kameraden. Wie er als Toms Sekretär Arbeit findet und aus Knausrigkeit beinahe dessen Anlagetipps ausschlägt, die ihm schließlich zu seinem gemütlichen Heim verhelfen.

Zugleich spricht aus jedem Wort Henrys die rückhaltlose Anbetung, die er Tom entgegenbringt, diesem ur-amerikanischen Machertypen, der all das verkörpert, was er nie sein konnte. Auf den er dermaßen viel projiziert, dass jede noch so zaghafte Kritik an diesem Idol um jeden Preis auf Abstand gehalten werden muss. Sein Versuch, das eherne Erinnerungsbild seines Freundes intakt zu halten, äußert sich gerade in der schon erwähnten Aufdringlichkeit seines Voice-Overs, der sich manchmal über die Stimmen der Figuren legt und diese in Handpuppen verwandelt – etwa in einer parabelhaften Szene über die Annäherung zwischen Tom und seiner Frau Sally (Colleen Moore), bei der Henry, wie auch bei vielen anderen von ihm geschilderten Ereignissen, gar nicht zugegen war. Diese „Geschichtsklitterung“ macht ihn auf subtile Weise zum unzuverlässigen Erzähler und verleiht den Rückblenden eine faszinierende Ambivalenz. Das Karikatureske mancher Passagen, die Garner als „simple country boy“ verklären oder ihn zum klarsichtigen „maverick“ krönen (der zwar nichts von Rechnungswesen versteht, aber weiß, wie man ein Bahnunternehmen zu führen hat, verdammt nochmal!) tritt unter diesem Blickwinkel deutlich hervor. Der Umstand, dass der damals 33-jährige Spencer Tracy seine Figur auch als unbedarften, analphabetischen Jungspund spielen darf, erscheint plötzlich nicht mehr wie eine befremdliche Hollywood-Eigenheit, sondern als Kommentar auf den unhintergehbaren Idealcharakter dieses verbrämten Gedächtnis-Garners. Und eine besonders ärgerliche Sequenz hat nun etwas von einer Verblendungs-Apotheose: Der Großindustrielle besucht eine Fabrik, die von einem Streik stillgestellt wurde. Ein garstiger Gewerkschafter mit russischem Akzent peitscht die dumpfen Arbeitermassen auf. „Wenn ich diesen Garner in die Hände bekomme, dann…“ – „Was dann?“, ertönt es aus der Menge. Der Chef, im Herzen nach wie vor ein Mann des Volkes, besteigt die Bühne, verweist den Hetzer auf seinen Platz und hält eine Brandrede, die jeden noch so renitenten Kommunisten zur Räson bringen würde. Aber leider gab es damals ein paar Sturköpfe, wie man erfährt, der Streik musste blutig niedergeschlagen werden, Hunderte kamen ums Leben. Sind das die Taten eines guten Mannes, mahnt Henrys Frau? Papperlapapp, eine bedauernswerte Notlösung, sagt ihr Mann. Und überhaupt – hast du schon mal über seine Gefühle nachgedacht? Zuweilen manifestiert sich Henrys Opfermythos sogar in der Ästhetik. Für die Kameraarbeit zeichnet der eminente Schattenmaler und Tiefenschärfenspezialist James Wong Howe verantwortlich, viele Einstellungen neigen zum Sakral-Monumentalen. Doch keine so sehr wie die, in der Garner nach seinem Selbstmord im Schlafzimmer aufgefunden wird. Henry und der Sohn des Toten fügen sich in eine Komposition, die stark an Pietàs und klassizistische Todesdarstellungen erinnert, gerinnen förmlich zu Elementen eines symbolischen Gemäldes. Von links fällt durchs Fenster ein göttliches Licht. Es ist derselbe Schimmer, der in der Eröffnungsszene die Totenmesse beehrte. Die Heiligsprechung ist vollendet. Und man begreift, dass es in „The Power and the Glory“ eigentlich gar nicht um Tom Garner geht, sondern um Henry. Nicht um die Macht und die Herrlichkeit, sondern um die unstillbare Sehnsucht danach, die den amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Um die Weigerung, dessen Kehrseiten ins Gesicht zu blicken und die Trauer eines Stellvertreterdaseins.

Natürlich ist diese Lesart nicht die „Richtige“. Ohne die Anregung von außen hätte sich meine anfängliche Interpretation mit ziemlicher Sicherheit durchgesetzt, und es ist sehr gut möglich, dass andere Zuseher ihr den Vorzug geben würden. Aber die beschriebenen Ambiguitäten sind fraglos im Film enthalten – und wenn man bedenkt, dass das Drehbuch von Preston Sturges stammt, liegt die Spekulation, dass es sich dabei um Absicht handelt, nicht fern. Hätte ich nach der Sichtung geschwiegen, wäre mir diese Facette entgangen – passend bei einem Film, der nicht zuletzt von hermetischen Weltbildern erzählt.

Das Ende der Geschichte: Austerlitz von Sergei Loznitsa

Sergei Loznitsas Austerlitz ist ein trauriger Film über das Versagen der Erinnerungskultur in einer geschichtslosen Gegenwart. Oder zumindest will er das sein. Er wurde in Gedenkstätten gedreht – Sachsenhausen, Dachau und anderen ehemaligen Konzentrationslagern – handelt aber vom Scheitern des Gedenkens. Wie schon in The Event (2015) nutzt Loznitsa die Evidenzen dokumentarischen Materials und die Zuspitzungen einer minutiös durchkonzipierten Tonspur zur Formulierung eines Gedankens, einer Idee, vielleicht sogar einer Botschaft, deren Konturen hier noch wesentlich stärker hervortreten als in all seinen vorhergehenden Arbeiten. Am Ende ist sein Zugang immer noch zu offen und die Konstruktion zu feingliedrig, um auf eine avancierte Form von Pamphletismus reduziert zu werden. Aber als „stinklangweiliger Experimentalfilm in hässlichen Bildern, der alles und nichts bedeuten kann, weil hier alles im Auge des Betrachters liegt“ – so Rüdiger Suchslands Brachialurteil – kann „Austerlitz“ eigentlich nur erscheinen, wenn man es mit dem Betrachten nicht so genau nimmt.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Das zentrale Spannungsmoment von Austerlitz – ironisch benannt nach einem Roman W. G. Sebalds über einen Mann, der von seiner verdrängten jüdischen Herkunft erfährt und versucht, die Geschichte seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg zu entbergen – liegt in einer Diskrepanz zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen der Realität der Massenvernichtung und der Surrealität des Holocaust-Tourismus. Dieser Konflikt zieht sich durch alle Bilder des Films, schon die ersten Aufnahmen sind damit aufgeladen: Touristenströme, die zwanglos vergitterte Tore mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ passieren, in den Gesichtern eine Mischung aus Neugier, Befangenheit und Indifferenz – Tore, durch die 70 Jahre zuvor Menschen unter völlig anderen Bedingungen in den Tod gehetzt wurden. Ähnlich seiner Revolutionsstudie Maidan (2014) wählt Loznitsa einen distanzierten, fast schon soziologischen Blick auf das Geschehen: Ausgedehnte Teleobjektiv-Totalen, wuselnde Wimmelbilder, diesmal in historisierendem Schwarz-Weiß.

Der erste Eindruck ist der einer Obszönität, die sich allein schon aus dem Kleidungsstil der Leute speist. Sommerliche Hemden, Shirts und kurze Hosen dominieren. Viele tragen Sonnenbrillen, zuweilen erkennt man ein Hitzeflimmern. Jemand fährt sein Schoßhündchen in einem Wagen umher. Manche können sich ein Gähnen nicht verkneifen. Die gemächlichen Massenbewegungen sind nicht zielgerichtet, wie Flaneure in einem Park scheinen einige der Nase nachzulaufen. Es herrscht eine entspannte, zerstreute und komfortable Atmosphäre. Ein Außerirdischer würde mit diesen Aufnahmen konfrontiert niemals auf die Idee kommen, es handle sich dabei um die Begehung eines Tatorts des schlimmsten aller Menschheitsverbrechen. Der zweite Eindruck verstärkt den ersten: So gut wie jeder hat hier eine Kamera, und das unablässige Knipsen der Hobbyfotografen – etliche ausgestattet mit Selfie-Sticks, den plakativsten Insignien zeitgenössischer Narzissmus-Kultur – verwandelt das Lager in eine bloße Sehenswürdigkeit, die statt kollektivem Gedenken nichts als personalisierte Andenken generiert.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Aber vielleicht ist dies ein Fehlurteil: Woher weiß man schließlich, was wirklich in diesen Menschen vorgeht? Die Deutung der demokratischen Kader Loznitsas ist hier zunächst noch ein heurisitscher Prozess ohne eindeutige Stoßrichtung, wie in Maidan. Aber die Haltung des Regisseurs macht sich bald deutlich, um nicht zu sagen überdeutlich bemerkbar. Seine Agenda mutete in The Event noch verhältnismäßig kryptisch an, konterkariert durch die Eigenheiten des Found-Footage-Materials. Die Anspielungen und formalen Marker schienen oft nur für Kenner des titelgebenden „Ereignisses“ einsichtig – die Vektoren von Loznitsas subtiler Argumentation offenbarten sich mir erst nach dreimaliger Sichtung und moderater Recherchearbeit. Austerlitz spricht überwiegend Klartext. Emblematisch steht hierfür der Einsatz eines fröhlichen, unüberhörbaren Pfeifens, das mehrfach durch Vladimir Golovnitskiys präzises Tondesign geistert. Mag sein, dass Loznitsa dieses Pfeifen tatsächlich gehört hat – aber seine Betonung ist kein Realismuseffekt, sondern eine künstlerische Prioritätensetzung.

Die „Beweislage“ eines Geschichtsbewusstseinsverlusts wächst sukzessive an. Von einer schrittweisen Enthüllung wie bei Loznitsas ästhetisch und thematisch verwandtem Kurzfilm The Old Jewish Cemetery (2014) kann aber nicht die Rede sein. Es steht schon früh geschrieben auf den T-Shirts der Besucher: „Cool Story, Bro“ – eine sarkastische Internetreplik auf öde Postings – hier, „Jurassic Park“ da. Der Kontext macht die harmlose Non-Kommunikation dieser Schriftzüge zur Selbstbloßstellung (wobei man anmerken muss, dass der Film nie einzelne Menschen vorführt – dafür sind schlicht zu viele im Bild, jeder ist ein Pars pro Toto – sondern stets nur die Bedingungen ihres Verhaltens). An manchen Stellen führt die Überlagerung von Bild- und Tonebenen zu intellektuellen Kontrastmontagen ohne Schnitt. Eine Gruppe lauscht den erläuternden Ausführungen ihres Guides, als sich eine andere vor sie schiebt. Im Vordergrund versucht eine lächelnde junge Frau, eine Wasserflasche auf dem Kopf zu balancieren, was den zweiten Gruppenleiter zu einer Anekdote aus seinem Indienurlaub animiert. Oft schraubt Loznitsa bestimmte Geräusche hoch, bis ins Lächerliche – das Quietschen von Türen, das Klicken von Auslösern – und lässt die periodisch aufbrandenden Vermittlungsbemühungen der (Audio-)Guides in der Banalität des Lärms ertrinken. Später greift er zu drastischeren Stilmitteln, präsentiert Bilder, deren Pointenhaftigkeit ihre dokumentarische Kontingenz auslöscht: Ein Mann, der wie ein Stummfilmkomiker mit ungelenkem Gefuchtel gegen eine Mücke ankämpft. Leute, die im Sitzen ihre Stullen verdrücken („Keine Sorge, es ist nicht die letzte Gelegenheit zum Essen“, tönt es im Off). Irgendwann erklingt ein Beethoven-Klingelton, einmal erläutert jemand den Touristen, sie kämen jetzt zum „düstersten Teil der Tour“. Besonders schneidend – aber paradoxerweise auch am Wenigsten gesetzt – wirken jene Momente, in denen sich die Frage zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mehr stellt, weil alles offen vor einem liegt: Grinsende Schnappschüsse vor dem Krematorium, Posen vor dem Marterpfahl, und zum Schluss eine Reihe von erleichterten Selfies am Ausgangstor. Hier manifestiert sich mit einer schockierenden Beiläufigkeit, was ein Kritikerkollege treffend notiert hat: Wie wenig sich der Besuch der Konzentrationslager inzwischen vom Besuch einer mittelalterlichen Folterkammer unterscheidet, wie weit weg das alles für viele historisch zu sein scheint und wie nahe an trivialer Schauerkatharsis.

Austerlitz von Sergei Loznitsa

Ist das also das Fazit des Films? Wenn ja, hat man es schon nach kurzer Zeit „begriffen“, und das Enttäuschende an Austerlitz wäre gerade seine eindeutige Lesbarkeit als Menetekel und (An-)klage. Loznitsa hält in Interviews nicht hinterm Berg mit seinen Intentionen und Meinungen und bestätigt diese Sichtweise. Im Vergleich zu Maidan fehlt es seinem neuen Werk fraglos an Ambivalenzen, was auch dem Thema geschuldet sein mag – die Fatalität historischer Ignoranz, die Unfähigkeit, die Zeichen vergessener Zeiten zu deuten, verleiht auch seinen Spielfilmen (My Joy) einen wutentbrannten Drall. Aber so einfach ist es letztlich trotzdem nicht. Zum einen gibt es da eine Passage, die heraussticht, in der sich der Kader verengt, einzelne Figuren vor dem Hintergrund eines Denkmals beim Innehalten, bei der – so scheint es – versuchten Reflexion fokussiert werden, das weiße Rauschen abflaut und die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer Vergegenwärtigung spürbar wird. Und zum anderen ist Loznitsas dokumentarisches Kino von seiner formalen Anlage her immer noch partizipativ: Es fordert Arbeit und Aufmerksamkeit, um seine volle Wirkung zu entfalten, und es sind eher Fragen als Statements, die man darin vorfindet: Macht diese Erinnerungskultur in ihrer derzeitigen Form noch Sinn? Lässt sich die Shoah überhaupt „vermitteln“? Die Schlüsse zieht man immer noch selbst. Es gibt also – zum Glück – immer noch Raum für das „Auge des Betrachters“ in Loznitsas Kino. Aber am Schluss winkt er uns noch einmal zu, in Form einer freudig davonhüpfenden Besucherin, und es ist unmissverständlich ein sardonisches Winken: Ein Abschied nach dem Ende der Geschichte, die Zukunft ungewiss.

Il Cinema Ritrovato Tag 5: Feuer, Wasser und die schwarze Stadt

Das Cinema Ritrovato ist ein cinephler Vergnügungspark, in dem man von Vorführung zu Vorführung taumelt wie ein kleines Kind, stets begierig nach der nächsten Attraktion, ganz egal, ob einem die letzte gefallen hat oder nicht, ob der Verstand schon in den Seilen hängt und um Erbarmen bettelt, ob man überhaupt noch sieht, was sich auf der Leinwand abspielt – die Augen wollen immer mehr, verzaubert von der Überfülle des Programms stürzen sie uns in einen hemmungslosen Sichtungsrausch, der mitreißt und verdattert wie die Karussell-Szene in Jean Epsteins Coeur fidele, eine dekadente Kinoverkostung, bei der jeder von allem probieren will, aus Wollust und Neugierde, aber auch aus Angst, dass es irgendwann keinen Nachschlag mehr gibt. Denn der Zirkus ist nicht ewig in der Stadt, die Zeit ist beschränkt, und die zahllosen Titel im Katalog buhlen allesamt lautstark um die Gunst potentieller Zuschauer: Nimm mich! Hereinspaziert! Das hast du so noch nicht gesehen! Nahezu jedes Screening verspricht, etwas Besonderes bereitzuhalten. Ein eben erst geborgener Schatz aus den hintersten Ecken eines Nationalarchivs! Der Technicolor-Vintage-Print eines unumstrittenen Klassikers! Die frisch restaurierte Fassung eines verkannten Meisterwerks, mit Live-Orchesterbegleitung und Expertenvorrede! Viele Sektionen locken mit dem Reiz des Unbekannten: Alternative Filmgeschichten, verstaubte Perlen, vergessene Talente. Und auch wenn sich der Budenzauber zuweilen in Schall und Rauch auflöst und man den Saal mit der Frage verlässt, ob das eben Gesehene wirklich Gedenken verdient hat, auch wenn man das wachsende Übergewicht digitaler Projektionen beanstanden kann, so träumt man doch jede Nacht von der Utopie, das Programm in seiner Gesamtheit verschlingen zu können – das Kino ist hier nach wie vor ein fremder Kontinent, der danach schreit, entdeckt zu werden.

Hier wüten auch Stürme: Etwa am Ende von William Wylers A House Divided , als der ganze aufgestaute Weltenhass der titanischen Vaterfigur sich imposant zu tosenden Wassermassen auftürmt. Ein sonderbares, aber ausgesprochen eindringliches Psychodrama. Ungewöhnlich das Setting: Ein Lachsfischerdorf im Nordwesten Amerikas. Das Leben ist hart. Die naturalistischen Arbeitsalltagsaufnahmen sorgen dafür, dass man das wirklich glaubt, vielleicht sogar spürt, selten wähnt man sich in Studiokulissen. Über allem thront in einem Haus auf einem Hügel Seth Law (Walter Huston, der Vater von John, damals vor allem als Theaterschauspieler bekannt). Ein großer Mann, dessen Wort Gesetz ist für seine Fischergesellen und vor allem für seinen sensiblen Sohn (Kent Douglass), der sich nichts sehnlicher wünscht, als diese öde Gegend zu verlassen. Doch der Vater lässt ihn nicht ziehen. Der Tod der Mutter, mit deren Begräbnis der Film beginnt, als wäre es der Auftakt zu einem Requiem, hat ihn nur noch härter gemacht. Da hat sich jemand seiner Autorität entzogen, ohne ihn zu fragen. Da ist nun ein Verlust, der ihm zu schaffen macht, aber er darf sich keine Blöße geben. Alle müssen wissen, dass seine Souveränität und Männlichkeit intakt ist. Houston spielt Law als jemanden, für den die Virilität zur Neurose geworden ist. Es gibt eine Reihe von starken Szenen, in denen seine Selbstbestätigungslust sich auf brutale Weise Bahn bricht. Ein rabiates Wrestling-Match in eine Bar, später einen ausgelassenen irischen Hochzeitstanz. Law bestellt sich eine Frau aus dem Katalog, zunächst nur, weil er jemanden zum Kochen braucht, aber weil die Dame jung und hübsch ist, hofft er auf einen zweiten Frühling. Als er herausfindet, dass sie seinem Sohn zugetan ist, bricht ihm dass die Beine – buchstäblich. Jetzt kriecht er in stolzer Erbärmlichkeit über den Boden und droht weiterhin, als wäre nichts passiert. So dringlich ist Hustons Performance, dass er selbst im Rollstuhl seine Mitschauspieler in den Schatten stellt, und nie als Bösewicht erscheint, sondern stets nur als durch und durch Verzweifelter. Und dann kommt das unglaubliche Finale, purer Expressionismus, eine letzte Konfrontation in strömendem Regen, Flucht der jungen Liebenden aufs Meer, dessen finster-furiose Wogen selten so bedrohlich wirkten wie hier, und als die Wolken sich verziehen, hat sich der Ödipus-Komplex von selbst aufgelöst.

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Was liebt das Kino mehr, Wasser oder Feuer? Die Flammensymphonie, die Ebrahim Golestan in seinem Kurzdokumentarpoem Yek atash (A Fire) inszeniert, ist jedenfalls nicht weniger überwältigend als Wylers wilde Wellengänge. Die fragmentarische Aufzeichnung der Löschung einer entzündeten Ölquelle im Iran, 1958. Der Hitzegeysir schießt in die Luft, und die Leinwand lodert lichterloh, man weiß sofort wieder, warum DCPs nie ein Ersatz sein können für Filmkopien. Man beginnt zu schwitzen, und nicht nur wie in Bologna üblich, aufgrund der schlechten Belüftung und mörderischen Temperaturen im Saal. Golestan hat Respekt vor der mühsamen, langwierigen Prozedur und ihren ausführenden Organen, filmt jeden Arbeitsschritt mit der gleichen empathischen Aufmerksamkeit. Aber ebenso scheint er sich der Faszination des Feuers nicht entziehen zu können, dem flirrenden Farbspektakel, dessen glühende Turbulenzen die wüste Umgebung verfremden, so dass man sich hin und wieder in einer rostroten Mad-Max-Marslandschaft wiederfindet.

Golestan ist ein Autor, Produzent und Filmemacher, der das prärevolutionäre Kino Irans entscheidend mitgeprägt hat, das Festival widmete ihm eine kleine Schau. Unter anderem zeichnet er mitverantwortlich für Forough Farrokhzads legendären Khaneh siah ast (The House is Black), der hier in einer hervorragenden Kopie zu sehen war, wenngleich ohne Untertitel. Farrokhzad und Golestan verband eine private und professionelle Beziehung. In seinem filmischen Hauptwerk Khesht o ayeneh (Brick and Mirror), dessen restaurierte Fassung heuer (digital) in Bologna gezeigt wurde, spielt sie eine kleine Rolle, legt als verschleierte Frau einem Taxifahrer ihren Säugling auf die Rückbank, fordert in so heraus, Verantwortung zu übernehmen. Das Haus ist in Brick and Mirror nicht schwarz, dafür aber die Stadt. Am Anfang fährt der Taxifahrer Hashem (Zackaria Hashemi) durch ein dunkles Teheran, im Radio läuft ein Hörspiel, dessen (von Golestan selbst eingesprochene) mythologische Menetekel sich über die urbanen Nachtbilder legen wie Travis Bickles Voice-Over über New York in Taxi Driver. Auf der Suche nach der Mutter des Babys irrt Hashem durch freudlose, schwarz-weiße Cinemascope-Gassen, trifft Verlorenen und Verrückte in einem Labyrinth der Hoffnungslosigkeit. Dann landet er in einem verrauchten Café, wo süffisante Intellektuelle Schaum schlagen und Dampf plaudern, ohne Perspektive oder wahre Leidenschaft. Schließlich nimmt er das Kind mit zu sich nach Hause, wo seine Geliebte wartet. Sie will es adoptieren, doch er sträubt sich, er kann nicht, er hat Angst vor den Nachbarn, deren böse Blicke hinter den Vorhängen lauern. Es ist eine Atmosphäre vager Angst, lähmender Unentschlossenheit und verhinderter Nähe, die sehr stark an Antonioni erinnert, auch wenn die politische Allegorie hier viel deutlicher zum Vorschein kommt. So wie das Private ins Soziale gebettet ist, ummantelt Golestan eine ausgedehnte, klaustrophobische Sequenz in Hashems Apartment, in dem das Paar vergeblich versucht, sich zu verstehen (der Abwechslungsreichtum der Auflösung dieser Passage ist beeindruckend), mit kafkaesken Vignetten aus dem Leben der Marionetten, Gesellschaftsporträtminiaturen, die allesamt Orientierungslosigkeit signalisieren. Kulminationspunkt dieser befremdlichen Bestandsaufnahmen ist eine Szene gegen Ende des Films, in der Hashems Geliebte (die im Übrigen als Einzige an die Möglichkeit einer Befreiung glaubt), ein Waisenhaus besucht. Golestan stürzt sich in eine Montage der vergessenen Kinder in ihren Krippen, ihrer ungelenken Bewegungen und formlosen Laute, wippenden Köpfe und schnappenden Hände, eine kaputtes Bildgedicht zwischen Groteske und Entsetzen, Symbolismus und Sinnlichkeit, das schließlich in einer wuchtigen Kamera-Rückfahrt mündet, in deren Trägheit sich die tiefste Trauer offenbart.