Abbas Kiarostami: Ein Augenzwinkern im Abspann

Gegen Ende der Abbas Kiarostami Erinnerungs-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum habe ich mir an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Filme im Kino angesehen, die ich vor mittlerweile zwei Jahren im Zuge einer akademischen Abschlussarbeit auf ihr Mischverhältnis von Realität(en) und Fiktion(en) sezierte. Insofern waren die Kinobesuche aus reinen Vergnügen eine späte Form der Befreiung, selbst wenn sich die angelesenen und -gedachten Theorien auf die Filmerfahrung legten, wie der erste Raureif auf die dezemberlichen Windschutzscheiben. Ohne einer universitären Deadline im Kopf ereignete sich nun beim Kinozusehen der 35mm-Kopien von Va zendegi edameh darad/ Und das Leben geht weiter (1992), Zir-e derakhtan-e zeytun/ Quer durch den Olivenhain (1994) und Bad ma ra khahad/ Der Wind wird uns tragen (1999) eine für mich überraschende Erkenntnis: Kiarostami hat Humor! Zum einen nistet er sich in den Dingen ein. Zum anderen springt er in den Dialogen hervor. Sein Freud und Leid ist die Wiederholung. Kiarostamis Humor hat aber – wie ginge es anders? – mannigfaltige Schichtungen. Eine Spurensuche:

Vater und Sohn in Und das Leben geht weiter stehen im Stau. Um diesem zu entkommen, nimmt der Vater eine Seitenstraße und fragt fortan nicht nur einmal nach dem Weg, sondern andauernd. Doch selbst wenn ihm die Gefragten Auskunft erteilen können, befolgt er diese nicht, sondern folgt stur der Straße, denn, so seine Logik, solange eine Straße da ist, führt sie auch wo hin. Die Inszenierung des Staus (vor allem der Moment, in dem der Junge eine warme Cola durch das Autofenster in ein anderes Auto reicht, wo sie einem Baby zu Trinken gegeben wird) lässt mich an Trafic von Jacques Tati denken. Dort steht Monsieur Hulot, der in einem gelb-blauem Lastwagen auf dem Weg zu einer Automobilmesse in Amsterdam ist, gleich zweimal im Stau – perfekte Gelegenheiten für die Kamera, die anderen Autofahrer beim tastenden Griff zur (und in die) Nase und beim Gähnen zu beobachten. Monsieur Hulot und seine wechselnden fahrbaren Untersätze in diversen Tati-Filmen resonieren auch in der Beziehung zwischen dem Mann und seinem Auto in Und das Leben geht weiter: gegenseitige Abhängigkeit schmieden Mann und Auto aneinander – er nutzt es als Fortbewegungsmittel und Lebensraum, es benötigt Wasser und Benzin für den überhitzen Motor und äußert dieses Verlangen in gut hörbaren Geräuschen. Recht trotzig reagiert der Mann gegen Ende des Films auf den zweifelnden Blick eines Passanten, ob sein Auto die steile, bröckelige Straße schaffe: es sei immerhin das einzige Auto, das er habe, es müsse es schon schaffen. So kriecht das kleine gelbe Auto in einer der finalen Panorama-Einstellungen mutig auch die vertikalste Straße hinauf. Kurz vor der letzten Kurve versagt allerdings sein Motor und es rollt rückwärts den Abhang hinunter. Der Mann steigt aus, blickt auf einen entfernten Hügel, wo die zwei Jungen, die er einholen wollte, unermüdlich voranschreiten. Die Musik (es klingt nach Vivaldi) setzt mit melancholischen Klängen ein. Wiederum im Panorama gefilmt, sieht man wie der Passant, den der Autofahrer vorher am Straßenrand stehen ließ, hilft, das müde wiehernde Auto ins Bild-Off zu schicken, um anschließend mit schweren Säcken auf dem Rücken die Straße emporzusteigen. Aha, Mensch versus Maschine und der Fußgänger siegt, denkt man sich, und die Zahnräder der Modernekritik fletschen schonmal ihre Zähne. Doch als der Fußgänger oben angekommen ist, gibt es eine musikalische Wendung, Vivaldi wird verspielter, fröhlicher und – siehe da! – das kleine gelbe Auto brummt wieder ins Bild und fährt, diesmal mit mehr Schwung, abermals den Hang hinauf. Wieder stockt es kurz vor der letzten Kurve – , schafft den Berg aber schließlich mit Müh und Not und nimmt diesmal den bereits auf den Hügel befindlichen Passanten mit.

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Im Auto, das neben der Kamera die unverzichtbarste Maschine für Kiarostamis Filmschaffen ist, ereignen sich außerdem die absurdesten Dialoge. Die Fahrer sind meist Alter Egos Kiarostamis. Diese sind immer Städter, immer Intellektuelle, immer Außenseiter, die in die ländliche Idylle, bzw. Unglücksorte (Erdbebenregion rund um Koker) eindringen. Doch sie sind immer auch reflektierte, leicht starrköpfige Individuen, die gerne viel reden. Auch die DorfbewohnerInnen (zumeist sind es jedoch Männer oder junge Burschen) sind nicht auf den Mund gefallen und werden auch gehört. Ein Aufeinanderprallen solcher Gegensätze erzeugt unweigerlich komische Momente. Quer durch den Olivenhain beispielsweise dreht sich um die (Nicht-)Beziehung zwischen der fleissigen Schülerin Tahereh, die selten spricht, aber wenn sie es tut, dann widerspricht sie gerne, und ihrem Verehrer, dem Analphabeten Hossein, der große, sozialistische Ideen hat und wortreich von einer emanzipierten Ehe träumt. Er sitzt auch im Auto, als die Filmassistentin vor einer blockierten Straße haltmachen muss. Die Bauarbeiter scheren sich nicht drum die Straße frei zu räumen, im Gegenteil, sie legen eine solche Nonchalance an den Tag, dass der reschen Assistentin fast die Kühlerhaube hochgeht. Auffordernd sieht sie Hossein an (der allzu oft herumkommandiert wird), der aber macht deutlich, dass er nie wieder auf dem Bau arbeiten werde und rührt keinen Finger. Diese Direktheit der ProtagonistInnen, die sich durch Aussagen oder auch durch vehementes Schweigen äußert, wirkt oft wie ein Drahtseilakt zwischen absurder Komik und sturer Rebellion, kann dabei aber auch viel mehr sein. Bezeichnend dafür ist die Schlusssequenz des Films: Hossein folgt Tahereh quer durch den Olivenhain und beschwört sie mit einem schier untragbaren Redeschwall, dass sie ihm doch antworten solle. Die Szene zieht sich endlos, die Kamera nimmt eine immer größere Distanz von dem potentiellen Liebespaar ein, bis sie nur noch Punkte in einem wogenden Blaugrün sind. Plötzlich stockt die Bewegung, man vermeint wahrzunehmen, dass Tahereh sich kurz umdreht und ein unhörbares Wort sagt – der winzige Punkt, der Hossein ist, springt im Takt zu Domenico Cimarosas Oboe Konzert wie ein fröhliches Welpen über das Gras zurück. Kiarostamis Humor, der durch die Distanz der Einstellung und der Choreografie zwischen Musik und Bewegung seinen Ausdruck findet, umweht hier ein Hauch von Romantik und Poesie.

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Am häufigsten musste ich in Der Wind wird uns tragen schmunzeln. Der Film öffnet mit einem Panorama auf eine liniendurchzogene, gold-grüne Landschaft, darin fährt ein Auto. Man hört einen Dialog, der, wie anzunehmen ist, unter den im Auto sitzenden Männern geführt wird. Es ist das Auto, das dreistimmig monologisiert und den Weg sucht, der absurderweise anhand des Baumbestands beschrieben ist. Beim alleinstehenden Baum müsse man abbiegen, nur ist der Hang, wie eine der Stimmen bemerkt, gesäumt von alleinstehenden Bäumen (insofern das kein Widerspruch in sich selbst ist). Körperlose Stimmen ziehen sich als komisches Element durch den ganzen Film. Zwei, der drei Männer existieren nur als Stimmen im Off-Screen, entweder sind sie im Dunkel eines Zimmers verborgen oder die Kamera bleibt auf Behzads Gesicht, der der Organisator der Truppe ist. Dieser ist abhängig von einem kleinen Apparat, dem Handy, der ihn immer wieder durch den Ort zu seinem Auto sprinten und auf den Friedhofshügel rasen lässt, damit er die unhörbaren Anweisungen seiner Auftraggeberin erhören kann. Nach diesen Gesprächen spricht Behzad zu einem Loch, so scheint es, doch in dem Loch, das für den zukünftigen Funkmasten gegraben wird, befindet sich ein (nie sichtbarer) singender Arbeiter. Dessen Freundin wiederum sucht Behzad in einem dunklen Keller auf, um Milch zu holen – zu hören ist seine Rezitation eines Gedichts von Forough Farrokhzad, der Milchstrahl des Melkens, ihre zögerlichen Erwiderungen; zu sehen sind ihre melkenden Hände, der bunte Stoff ihres Kleides, das Gitter des Stalls. Ein erotisches Phantom, das nicht nur den Mann im Erdloch und den Mann mit Handy und Auto umtreibt.

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Wen man wollte, könnte man Der Wind wird uns tragen auch als running gag lesen, denn die Struktur des Films besteht aus der möbiusartigen Wiederholung des Handyläutens, des Rennens zum Auto und der Fahrt auf den Hügel (inklusive unbefriedigendem Telefonat). Nach dem gefühlten fünften Mal stellt sich wohl beim Großteil der ZuseherInnen Ermüdung ein. Wiederholungen des Komischen sind zwar beliebte Stilmittel, haben aber geringe Haltbarkeit. Die Spurensuche in Kiarostamis Filmen nach den Spezifika seines Humors lässt aber erahnen, dass gerade die vehementen Wiederholungen einen wichtigen Aspekt desselben ausmachen. Weiteres kristallisiert sich durch die Analogie mit Jacques Tati heraus: Dessen Objektkomik, das Spiel mit diegetischem und nicht-diegetischem Sound, die Sprache, die Suche nach dem Weg, das Vorhandensein der Kunstfigur Monsieur Hulot verweisen darauf, dass klassische Konzepte Kiarostami nicht fremd sind (es heißt, er wäre ein großer Slapstick-Fan gewesen). Im Gegensatz zu Tati aber platziert Kiarostamis seine humoristischen Handlungen und Bilder nicht in ein strukturiertes, choreografiertes und künstliches Setting, sondern in eine Welt, die unbedingt als real wahrgenommen und von authentisch wirkenden, beständig redenden Charakteren bewohnt wird, was seinem Humor eine (wenn man so will) humanistische Note verleiht. Die Poesie schleicht sich schlussendlich ständig ein, am liebsten durch die kongeniale Anwendung des sich Entziehens: zuerst sind es die Jungen in Und das Leben geht weiter, die am Horizont verschwinden, dann ist es die Erwiderung Taherehs auf Hosseins Heiratsantrag, die uns durch die Distanz der Kamera entgleitet, und schließlich ist es das Dunkel, in das die Melkende in Der Wind wird uns tragen gehüllt wird. Die Kunst der Distanz, des sich Entziehens scheint somit das prägnanteste Merkmal Kiarostamis Humor zu sein, von dem im Abspann nur ein Eindruck zurückbleibt … ein Augenzwinkern.

The placid glow retain: E Agora? Lembra-me von Joaquim Pinto

Die diffuse Vision in Joaquim Pintos hochpersönlichen Essayfilm E Agora? Lembra-me ist die der Wahrnehmung eines Kranken. Folgt man seinem Titel, ist er nicht da, um uns zu erinnern, vielmehr erinnern wir ihn. An was? Daran, dass das Kino heilen kann oder die Kinogeschichte eine Geschichte der erkrankten Blicke ist?

In Form eines Tagebuchs erzählt der portugiesische Filmemacher und ehemalige Wegbegleiter/Tonmann von João César Monteiro, Manoel de Oliveira oder Raúl Ruiz von seinem oder einem Leben, das ihn passiert während er sich einer neuen, unsicheren Behandlung seiner gleichzeitigen Erkrankung an AIDS und Hepatitis C unterzieht. Dieses Leben besteht zum Teil aus der Krankheit, aber es besteht auch aus seinem Lebensgefährten Nuno Leonel, Beobachtungen, Lektüren, alltäglichen Erlebnissen, der Gestaltung eines Lebens und Analogien beziehungsweise Gleichgültigkeiten aus der Tierwelt. Der Film handelt auch davon wie politische Entwicklungen persönliche Hoffnungen begraben können und wie machtlos man im Angesicht dieser Entwicklungen, Bränden, Krankheiten manchmal ist. Die Bekanntschaften von Pinto lesen sich ein wenig wie eine an AIDS verlorene Kinogeschichte.  Zu den prominentesten Freunden des Portugiesen zählen Serge Daney, Derek Jarman, Manfred Salzgeber oder Kurt Raab.

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Der konstante Kampf, am Leben zu bleiben. Er präsentiert sich als Alltäglichkeit. Es besteht aus einer bereits verletzten Offenheit, die sich hier und unbedingt im Kino entfalten muss. Aber warum ist das der Fall? Man kann nicht wirklich von Forschungszwecken sprechen. Francisco Ferreira hat in seiner Besprechung die Frage gestellt, ob (dieser) Film heilt. Womöglich rückt die Krankheit, wenn sie zu einem Film wird, in ein abstrakteres Reich, in dem die Bildwerdung eine Linderung verspricht. Diese Krankheit ist klein genug. Sie passt in einen Film. Vielleicht gibt auch der Prozess des Drehens, die Arbeit mit der Kamera entlang der Krankheit dieser einen Sinn. Eine besondere Abwesenheit, ein unerträglicher Schmerz kann so zu einer großen Kinoszene werden. Es besteht ein riesiger Unterschied, ob jemand diese Kamera auf sich selbst richtet oder auf eine andere Person. Das bedeutet nicht, dass nicht auch die eigene Krankheit hätte ausgeschlachtet werden können von Pinto. Es erklärt nur die Relevanz von Zuneigung und Offenheit, damit dieses Kino im Angesicht der Schmerzen atmen kann. Es ist eine Entblößung, aber keine, die uns über die Figuren stellt. Vielmehr kann man diese Entblößung nur sehen, wenn man sich selbst vor dem Film entblößt. Wenn man mit dem Film die Krankheit akzeptiert, mit ihm krank wird und sich heilen lässt. Darin liegt beinahe ein spiritueller Auftrag, wenn er nicht mit einer notwendigen Form des Understatements präsentiert werden würde. Fast schüchtern scheint Pinto immer wieder zu betonen, dass er nur für sich selbst zeigen und sprechen könne.    

Es ist schon erstaunlich, dass ein skandinavischer Stummfilmstar Angst davor hatte, gefilmt zu werden, weil er dachte, dass die Kamera Strahlen absondern würde, die Krankheiten auslösen würden. Er trug unter seinen Kostümen eine Rüstung. Man könnte sich dieser Angst mit E Agora? Lembra-me auch anders nähern. Womöglich kann nur das Kino die Krankheit sehen. Ein Röntgengerät. Dann hieße Kino sehen auch Krankheiten sehen. Oder andersherum mit Pinto: Krankheiten sehen, heißt Kino sehen. Es ist nicht umsonst von unter anderem Jean Cocteau betont worden, dass Film hieße, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Der Tod im Kino bring Dunkelheit in der Geschwindigkeit des Lichts. Was aber, wenn das Kino den Tod nicht mehr sehen kann? Einmal im Film heißt es, dass die Viren zu klein sind, um Farben zu haben. Was man hier also sieht, ist weniger den Tod bei der Arbeit als die Arbeit des Todes, die Spuren die er hinterlässt und jene, die er nicht hinterlassen kann.

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Die Perspektive eines Kranken, liegend, verformt, panisch oder fiebrig. Verformt wohlgemerkt nicht durch die Krankheit, sondern durch die Heilung. Die Methoden der Heilung. Pier Paolo Pasolini schrieb einmal über Michelangelo Antonioni und seinen Il deserto rosso, dass der Blick der Kamera hier die Neurosen der Protagonistin wiedergeben würden. Es sei ein kranker Blick. Die sprunghafte Unfähigkeit, die Augen offen zu halten, die eingeschränkten, schrägen Blicke auf die nächsten Umgebungen, die fiebrige Intensivierung von Bildern und Tönen, ihr Ineinanderfließen. Die Traumartigkeit des Kinozustandes war auch immer eine Form der Entrücktheit. Die krankhafte Idee, die Leinwand zu berühren, kommt aus der Unwirklichkeit dieser körperlichen Präsenz. Es sind nur Bilder, es sind nur Bilder sagt man kleinen Kindern, als würde das „nur“ die Bilder stoppen. Pinto lässt seine Krankheit/Heilung zu und mischt sie in die Bilder. Er verstärkt den Effekt mit seinem eigenen Voice-Over, der immer wieder abdriftet, fast verschwindet, mit Musik und einem Ton, der manchmal wirkt, als käme er aus einer anderen Welt. Er nutzt das digitale Pendant für Doppelbelichtungen, Wiederholungen, Dekadrierungen und immer wieder den Blick auf sich selbst aus nächster Nähe, irgendwie ganz bei uns, aber nicht bei sich, entrückt eben mit Augen, die die Kamera sehen, aber nicht fixieren können. In den Worten von Pinto: „Die Notizen vergessen, die man sich aufgeschrieben hat, um nicht zu vergessen.“

Es ist ein verlockender Gedanke: Die kranken Bilder des Kinos. Wie die geschwächt geschriebenen Worte von John Keats. Unvollendete Symphonien. Hier zeigt sich recht deutlich, wie wenig die Kamera mit einer Maschine zu tun hat. Sie kann an Fieber erkranken. Es wurden zu wenig Filme gemacht, bei denen die Person, die die Kamera gehalten hat, zu schwach dafür war. E Agora? Lembra-me zeigt das sehr deutlich. Stattdessen wird die Kamera oft als Instrument der Evidenz und Überlegenheit verwendet, der Kontrolle, Überwachung und Kriegsführung. Wie schön der Gedanke, dass eine Kamera nicht schießt, sondern blutet. 

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So oder so ist E Agora? Lembra-me ein Liebesfilm. Nicht unbedingt inhaltlich, obwohl er Augenblicke immenser Zärtlichkeit enthält, sondern hauptsächlich, weil er gemacht wurde; weil er gemacht wurde, um zu lieben. Nuno Leonel rückt in diesen Filmen wie das erlösende Licht eines angehenden Kampfes. Der Film dokumentiert dieses Licht und gibt dem Licht schließlich selbst die Kamera in die Hand. In dieser Emanzipation eines gemeinsamen Lebens mit der Krankheit versteckt sich ein zärtlicher Widerstand. Auch in ihrem Rabo de Peixe geben Pinto und Leonel die Kamera an einige Kinder weiter. In ihrem Filmschaffen stellt sich ganz offensiv die Frage, ob überhaupt jemand die Kamera halten sollte. Die Titelfrage, danach wie es weiter geht, ist keine Frage einer Entscheidung. Vielmehr ist es eine Erinnerung, ein Passieren, ein Nicht-Geschehen, ein Über-sich-ergehen-lassen. Die Melancholie, die man darin finden kann, steckt voller Lebens- und Kinolust.   

Alternative Film/Video Belgrade: Holes Exist in Every Single Tree

Alternative Film/Video Festival Belgrade

In the stretch of a year, a lot may happen. Alliances may form, break or be reconciled. What deserves acknowledgment is the importance of continuity and labour. Taking the time, or reserving the time TO MEET WITH FRIENDS AT THE SAME PLACE AT THE SAME PLACE, year in year out, is something I yet need to undergo, but my return to the Balkans this autumn/winter transposed this truth and I am very lucky to be able to make the time for such gatherings. Where in November I stopped by at Pravo Ljudski in Sarajevo, this month I revisited Alternative Film/Video Belgrade (7-11 December 2016).

Alternative Film/Video Festival Belgrade

Yugoslav anti-film revealed itself to me during last year’s 25 FPS, in Zagreb. An interest initiated. Soon after I was to be taught by Boris Poljak, who at some point took me from Sarajevo to Split, during which he shared several anecdotes concerning his main teacher and friend Ivan Martinac, who was responsible for filling generations of filmers with mountains of cine-enthusiasm. Autumn 2015. Leaves changing colours. Followed by a hot cocoa with Vjekoslav Nakić, someone else who played a major role in this history. With similar vigor, he inspirited me because of his animated and humble personae. These are just a couple of events that inclined me to return to the Balkans. And to keep returning, since this year Petra Belc, a friend and scholar, was there to present an excavated selection of women’s experimental film made in former Yugoslavia.

But let’s most certainly not underestimate the time-related privilege that comes with this endeavor. As Yoana Pavlova contested on Twitter:

‘’Once you pop up at any festival w/ a baby stroller, it gets much more complicated. One shouldn’t omit the fact that festivals require physical availability + certain existential choices from both men & women… And this is where the problems start, as women are supposed to be happy to make the same choices as men, only it’s > complex’’

And therefore the ability to build a relationship with a festival and its visitors is not possible for everyone, let alone with a location-specific art movement. When I meet someone who has uninterruptedly frequented a foreign festival in the course of nine or ten years, nine times out of ten it is a white man. Worth noting is that it often also includes more than just a single event, but several spread out over the globe. There shouldn’t be exceptions to this rule.

Writing p(l)ainly about moments that leave unmistakable imprints on the way one deals with life, is not easy but much needed. As I ponder about Alternative Film/Video, I’m calling to mind… Vlada Petrić, founder of the Harvard Film Archive, approaching and talking to Eve Heller with a childlike blink. Together with Petra (Belc) I’m attending this split-second (in a history) and suddenly cinema changes a bit. How? Why? I honestly don’t know, but it felt as if a cog moved, triggering a change elsewhere as part of a grander scheme of things.

What is the difference of describing this in either a couple of words or a couple of books? A film festival as impressive as this cannot be fully described. You go there, of course never knowing what it will become, and it ends up talking and activating one’s faith.

Sudden thought: ‘’…(moving) images here, (moving) images there… but true preservation happens not everywhere…’’

I arrived relatively late to the party, but arguably at the best possible moment: just in time for Sebestyén Kodolányi’s presentation. A fierce archivist and educator / an educator who works in archiving / an archivist who wholeheartedly educates. Delivering something that cracked open, invigorated, and crushed our notions of how to cut through unnecessary tendencies and cycles of self-validating curatorship. Or: programming. To program one’s flow of thought.

It was the kind of get-together where we happen to make notes of the following sort: ‘’with [this or that person] you are not being put in the mode of giving compliments. But rather: to talk in order to burn the bullshit together. To pursue this as both receiver and sender, or what is left of this dichotomy.’’

Giving films their ‘’much-needed portion of attention’’ is right but also extremely problematic. Since ninety percent of the films we get to see, especially through festival screenings, already passed through more eyes than we can imagine (also because this is never de-mystified or questioned, since festival selections need to appear as novel discoveries, instead of films that made a long and difficult journey before arriving in front of the public). Though, once again, Alternative Film/Video is singular in this stance because it presents to us moving images that are, if not picked by someone after the festival, immediately gone, that is: if not viewed with the attention that is required to fully notice it. And to be able to see in a festival works that will, though just in few occasions, only have a lifespan as long as a single screening, is actually something that needs to be lauded. It takes bravery and guts to show something that is, due to several reasons unknown to us as well as the programmers, bound to slip into forgetfulness.

Now, if I would have to describe one film, which one would it be? Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy is the one that still occupies my mind. Bearing resemblance to Ismaïl Bahri’s Foyer (2016), it poses: “What do we think we see?” And both are films shot in the Middle East with lenses that are intentionally obscured. But that is where the similarities end. Enfin: to take a camera to somewhere foreign is easy for us Westerners. We put it up and we can start recording. But what then? Do we see anything when we see something “in vivid detail?” Or is it more specific to any given situation? So that an extremely blurred image might disclose just as great an insight as the aforementioned? There’s a pinhole camera. There is also a desert. People are curious. The camera doesn’t care but slowly starts to capture images more clearly. Until there is the arrival of a train. You feel fearful but then the camera keeps spinning in 360 degrees as the train doesn’t seem to have a tail. L’arrivée d’un train en gare but none of the bystanders seem to care. And perhaps they have a point.

Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy

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Foyer (2016) by Ismaïl Bahri

The final screening ends. I turn my head to the right and there appears Vlada Petrić. We are the only two who remained seated until the very end of the festival, my twenties just started, he will soon turn ninety. I look down to see what I scribbled down in my notebook during the films, and it is only because of its repetition – pardon my horrific handwriting – that I vaguely manage to discern:

All I demand is Enthusiasm…
All I demand is Enthusia…
All I demand is Enthus…
All I demand is En…
All I demand i…
All I dema…
All I d…
All I…

..
.

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Raw Material (2015) by Jean-François Reverdy

13 Kinomomente des Jahres 2016

Wie in jedem Jahr möchte ich auch in diesem Jahr zum Ende hin über die Augenblicke im Kino nachdenken, die geblieben sind. In der Zwischenzeit bin ich jedoch nicht mehr so sicher, ob es wirklich Momente sind, die bleiben. Viel öfter scheint mir etwas in mir zu verharren, was konkret gar nicht im Film existierte. Nicht unbedingt die subjektive Erinnerung und das, was sie mit Filmen macht, sondern vielmehr ein Wunsch, ein Begehren oder eine Angst, die sich im Sehen ausgelöst hat und sich an mir festkrallte. Ein Freund nennt Filme, die das mit ihm machen, die in ihm weiter leben und töten „Narbenfilme“. Ich mag diesen Ausdruck von ihm, obwohl eine Narbe ja bereits eine Heilung anzeigt. Diese Momente, diese Filme, die sich als Narbenfilme qualifizieren, brennen jedoch noch. Es sind offene Wunden, manchmal in der Form einer Blume, manchmal als klaffendes Loch.

Ich versuche daher in diesem Jahr solche Momente zu beschreiben, Momente, die nicht nur den Filmen gehören, die sie enthalten.

Inimi cicatrizate von Radu Jude

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Ein Top-Shot: Der junge, kranke Mann möchte seine Liebe besuchen, sie überraschen. Mit seinem wortreichen Charme überzeugt er Arbeiter des Sanatoriums, ihn auf einer Trage zu ihrer Wohnung zu tragen. Auf seinem Bauch ein Strauß Blumen. Er trägt schwarz unter seinem weißen Gesicht. Die meisten Top-Shots empfinde ich als schwierig. Sie erzählen lediglich von der Macht der Perspektive. Dieser hier ist anders. Er erzählt etwas über die Präsenz des Todes. Der Liebende wird für unter der Kamera zum Sterbenden. Darum geht es auch in diesem famosen Film. Das liebende Sterben, das sterbende Lieben.

(Meine Besprechung des Films)

Atlantic35 von Manfred Schwaba

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Ein Film wie ein einziger Moment. Ein Blick auf das Meer, der nur wenige Herzschläge anhält. Er kommt aus und verschwindet in der Dunkelheit. Es ist ein Film für einen Moment gemacht, der aus zwei Träumen besteht. Der erste Traum, das ist das Filmen auf und mit 35mm, ein sterbender Formattraum. Sterbend, weil eben nicht alle Menschen sich einfach so leisten können, auf Film zu drehen. Nicht jeder kann jeden Traum auf Film realisieren. Der zweite Traum, das ist das Meer, der Atlantik. Beide Träume also im Titel. Die Realität dieses Traumes, kommt gleich einer unaufgeregten Welle. Kaum spürbar, schon vorbei, wenn sie begonnen hat, aber doch mit all der Grazie des Kinos und des Ozeans ausgestattet, die es gibt.   

(Rainers Avantgarde Rundschau von der Diagonale)

Die Geträumten von Ruth Beckermann

Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wann genau dieser Augenblick eintritt, aber es ist ein einzelner Satz. Ein Satz, der alles vernichtet, was vorher geschrieben wurde. In ihm sammelt sich das Kippen einer Beziehung, die sich nur in Worten nährt. Es gibt mehrerer solcher Momente im Film. In ihnen kippt etwas in der geträumten Beziehung oder auch zwischen den Sprechern/Darstellern und den Worten. Das grausame und schöne an den Momenten in diesem Film ist, dass sie zeitlich verzögert sind. Oder gar vielleicht nie abgeschickt wurden.

(Meine Besprechung des Films)

Sieranevada von Cristi Puiu

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Wie viele meiner favorisierten Filme des Jahres handelt auch Cristi Puius neuestes Werk mehr von einer Präsenz der Auslassung, denn Dingen, die tatsächlich passieren. Ein Jahr der Fiktionen, die ihre eigenen Realitäten konstruieren. Ein Moment, der das bei Puiu bricht, ist die Erkenntnis. Diese gibt Puiu seinem Protagonisten Lary. Einmal in Form von Tränen und mehrere Male in Form eines machtlosen Lachens. Dieses Lachen ist wie der ganze Film zugleich unglaublich komisch und bitter. Es ist ein Lachen, das einem verdeutlicht, dass man keinen Zugriff hat auf die Fiktionen.

(Mein Interview mit Cristi Puiu)

(Andreys Besprechung des Films)

(Mein Bericht vom Festival in Cluj)

Austerlitz von Sergei Loznitsa

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Die Obszönität des Kinos ist hier zweisilbig. Die erste Silbe betont die Obszönität des filmischen Unternehmens selbst, der filmischen Fragestellung, der Art und Weise wie die Kamera in den Konzentrationslagern auf die Touristen blickt. Die zweite Silbe schafft Momente. Sie offenbart beispielsweise ein absurdes, schreckliches Kostümbild, womöglich das obszönste der Filmgeschichte. Ein junger Mann trägt ein Jurassic Park T-Shirt in einem Konzentrationslager. Die Kamera zuckt nicht, sie schaut sich das an, zeigt es uns und fragt sich tausend Fragen. 

(Andreys Besprechung des Films)

Ta‘ang von Wang Bing

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In den ersten Sekunden seines Films injiziert Wang Bing schockartig ein ganzes Drama unserer Zeit in unsere Körper. Eine junge Frau sitzt mit einem Kind unter einem Zeltdach in einem Flüchtlingslager. Ein Soldat kommt, tritt sie, das Dach wird weggezogen, sie wird beschuldigt. Es ist eine unfassbar brutale und kaum nachvollziehbare Szene. Was ihr folgt ist Flucht. 

(Mein Tagebucheintrag vom Underdox mit einigen Gedanken zum Film)

Der traumhafte Weg von Angela Schanelec

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Nehmen wir einen Ton. Den des Zuges, der schneidet. Ein wenig zu laut, als dass man es ignorieren könnte. Ein Ton der bleibt, weil er kaum da war. Er erzählt etwas, was man nicht sieht, etwas Grausames. Es ist die Beständigkeit ausgelassener, angedeuteter und wiederum zeitlich verzögerter Momente, durch die sich eine Erkenntnis winden muss. Das Echo dieses Zuges hallt wieder durch den Bahnhof. Schanelec verstärkt diesen Ton noch mit dem Bild eines verlassenen Schuhs neben den Gleisen. Mit dem Regen. Es sind disparate Momente, die sich der Fragmentierung fügen und dadurch in sich selbst ein neues Leben entdecken.

(Meine Besprechung des Films)

Le parc von Damien Manivel

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Damien Manivel bringt das von David Fincher am Ende seines The Social Network begonnene Drama unserer Generation zu einem grausamen Höhepunkt in den letzten Lichtern eines endenden, unwirklich schönen Tages und der ebenso unwirklichen Realität der folgenden Nacht. Eine junge Frau wird plötzlich von dem Jungen sitzengelassen mit dem sie einen Tag im Park verbracht hat. Sie sitzt auf einem kleinen Hügel in der Wiese im  Park und schreibt ihm eine SMS. Sie blickt in die Ferne, sie fragt sich, ob er zurückkommt. Sie wartet auf eine Antwort. Sie sitzt und wartet. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht. Langsam wird es dunkel. Der Park leert sich. Sie wartet auf eine Antwort. Sie wartet und es wird Nacht.

Certain Women von Kelly Reichardt

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Wie kann man vom unausgesprochenen Begehren erzählen? Kelly Reichardt wählt das unvermeidbare Gewitter eines kleinen Lichts in den Augen. Beinahe wie Von Sternberg, nur ohne den Glamour, erscheint ein funkelndes Augenhighlight in der blickenden Lily Gladstone, es brennt dort und erzählt von etwas, das darunter brennt. Es ist sehr selten, dass jemand mit Licht erzählt und nicht mit Worten.

(Meine Besprechung des Films)

Nocturama von Bertrand Bonello

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Ich bin kein Fan der Musik von Blondie. Aber ich habe das Gefühl, dass Bertrand Bonello mich beinahe zum Fan einer jeden Musik machen könnte. Er benutzt sie immer gleichzeitig als Kommentar und Stimmungsbild. Er treibt mit ihr und bricht sie. Seine Kamera vollzieht begleitend zu den Tönen das Kunststück, sich im Rhythmus zu bewegen und dennoch immer etwas distanziert zu sein. Als würde man jemanden betrachten, der hinter Glas tanzt zu einer Musik, die man sehr laut hört.

(Mein Interview mit Bertrand Bonello)

Două Lozuri von Paul Negoescu

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In dieser sehr unterlegenen Hommage an Cristi Puius Marfa și banii gibt es eine der lustigsten Szenen des Jahres. Dabei geht es um die Farbe eines Autos. Der Polizist geht richtigerweise davon aus, dass das Auto nicht weiß ist. Aber alle Menschen, die er befragt, leugnen die Farbe des Autos. Was er nicht weiß ist, dass sie alle unter einer Decke stecken. Dieses nicht-weiße Auto wird zu einer absurden Fiktion. Wenn alle Menschen sagen, dass etwas weiß ist, bleibt es dann nicht weiß, wenn es nicht weiß ist?

O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues

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Eine Eule schwebt im Gleitflug über die Kamera und ihre Augen treffen die Linse mit einer bedrohlichen Bestimmtheit. Sie landet perfekt, ihr Blick bleibt. In einem Film, der weniger vom titelgebenden Beobachten der Vögel, als von deren Blick zurück besessen ist, bleibt dieser Augenblick, weil er zeigt, dass man oft nur bemerkt, dass man angesehen wird, wenn man hinsieht.

(Meine Besprechung des Films)

La mort du Louis XIV von Albert Serra

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Jean-Pierre Léaud (machen wir uns nichts vor, es ist nicht Louis XIV) verlangt nach einem Hut. Für einige Sekunden könnte man meinen, dass er jetzt das Innenleben seiner Gemächer verlassen will, dass er aufbricht in eine neue Sonne. Aber weit gefehlt, denn Jean-Pierre Léaud verlangt nur nach dem Hut, um einigen Damen damit zu grüßen. Es ist dies der Inbegriff des schelmisch Charmanten, in dem sich Serra, der Sonnenkönig und dieser bildgewordene Schauspieler treffen. Selbst, wenn es ums Sterben geht.

(Meine Besprechung des Films)

Film-Lektüre: The Cinema Hypothesis by Alain Bergala

The Cinema Hypothesis von Alain Bergala

“It is a document of a love for cinema and a sophisticated vision of its potentials for each and every individual. It is, equally, a manifesto”, Alexander Horwath and Alejandro Bachmann write in their preface to the first English translation of Alain Bergala’s The Cinema Hypothesis. Indeed, right at the beginning, I’d like to address the reputation of Bergala’s book as the essential reference on film education. Obviously you cannot teach film without a deep understanding of the medium, therefore the ingenuity of the book doesn’t primarily lie in its value for educational purposes but in the ideas it formulates about the essence, theory and practice of film. Grounded by a thorough understanding of cinema, Bergala articulates a number of propositions how to approach, talk about and share films. These propositions, however, make a great starting point for further investigations in educational matters – therein lies the grandeur of Bergala’s book.

Bergala wrote the book in 2002, two years after he was appointed an advisor to Jack Lang, France’s secretary of education at the time. Lang tried to implement new ways to teach art in schools and Bergala should contribute his experience as a writer, teacher and filmmaker to create innovative models of film education. The book, more or less, originated from Bergala’s work at the ministry of education: on the one hand, sharing his practical experiences on the project, on the other hand, thinking about certain principles in film educational matters that could be deducted from his work there. The book should not be taken as a guideline on how to implement film education in school. It’s not a manual that lists all the necessary initiatives for such an endeavor, nor does it recollect the steps taken by the French ministry of education, but rather tries to outline a system of thoughts that led to these steps.

Where Is the Friend's Home von Abbas Kiarostami

There are two central concepts which somewhat anchor Bergala’s view on film education: “le passeur” and “l’alterité”. The passeur (a term he borrows from Serge Daney) is a special kind of teacher, a mentor who passes down his knowledge and enthusiasm for a subject. His objective is to incite passion in his students, triggering a chain reaction, Horwath and Bachmann call it “learning by contagion”. L’alterité can be translated as otherness. It’s the encounter with otherness that needs to take place in education – for the school is often the only place where children can encounter this otherness (in the form of art). Art is, paraphrasing Godard, the exception to the rule of the everyday. It “cannot be taught, but must be encountered, experienced, transmitted by other means than the discourse of mere knowledge […]. Teaching is concerned with the rule, while art must aspire to the rank of the exception.” Obviously, the encounter with otherness is strongly tied to the idea of the teacher as passeur, who not so much teaches a predetermined set of facts but needs to transmit experiences. Thus, it’s not as important to teach some kind of filmic grammar, than to talk about “something that burns in the shot” (Jean-Marie Straub).

Contrary to the usual way film is taught in schools, it’s not so much about trying to proof that films, videos or TV shows the children watch for entertainment are “bad objects” in themselves, by superficial ideologically-driven analyses of a few selected examples, but rather to give them a chance to encounter films that are somehow different than the ones they know. Bergala states that only little by little, by having seen numerous films or film excerpts and comparing them to one another, the children can acquire taste which will help them appreciating films that are “resistant” at first, but eventually can provide intellectual pleasure which regular media products, that are aiming for quick consumption, could never provide: “The pleasure of understanding is as emotional and gratifying as the supposedly ‘innocent’ pleasure of pure consumption.”

In the later parts of the book, Bergala goes more into detail, outlining his methodology of film analysis, presenting the DVD collection he implemented for use in school and closing with some chapters on filmmaking in school, where he points out, that film education should always include practical exercises where the children could make creative decisions themselves. He also gives a quite prophetic outlook into the digital culture of the near-future (which is, now, the present), especially in his assessment of the relatively new medium of DVD and its technological and pedagogical potential.

The experience of reading The Cinema Hypothesis was rewarding. At the very least, Bergala’s prose succeeds in transposing his enthusiasm for film: the way he describes films that had a lasting impression on him, the way he writes about the gratifying experience of working with children, the way he struggles for words in sharing his passion. I really felt quite the same compassion while reading the book, I found new enthusiasm to converse about film, to share and defend my views, to fight for what I care about. For me personally, this was as valuable as the insights into the field of film education and the astute theoretical observations in the book.

Ein Film und die rückhaltlose Liebe: Le Berceau de Cristal von Philippe Garrel

Nico in Le Berceau de Cristal

In der Mitte denke ich, der Film nervt. Das ist nicht zwingend, die Einstellungsfolgen stimmen nicht. Das ist redundant. Unkonzentriert dazu. Nico nervt mit ihren bedeutungsschwanger aus dem Off gesprochenen Gedichten, den nachdenklichen Posen, dem Blick ins Leere über dem Notizbuch. Nichts zu sehen, außer Künstler im überhebenden Seitenlicht.

Die letzten 20 Minuten werfen alles um. Der Film konzentriert sich hier. Nur noch Nicoim Spotlight. Sie fängt an Drogen zu nehmen. Raucht ein kleine Pfeife, dann eine Wasserpfeife. Wiederholung als Methode. Das ist kein affirmativer Blick, sondern ein liebender. Das Autobiographische gewinnt an Wichtigkeit. Es ist klar, das ist Garrels Blick auf Nico, keiner den ich zu meinem machen kann. Ich darf erst als Zweiter sehen. Ich bin kein Voyeur sondern Beschenkter. Ich bin eingeladen zu sehen, was es heißt zu lieben.

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Zu lieben heißt den anderen ganz sehen. Bis sich die Grenzen aufheben. Eins werden.

Das Gesicht sehen, immer wieder und ausschließlich, das ist hier ganz sehen. Nico ist das einzige im Dunkel, Einstellung für Einstellung. Aber keine Studie eines Gesichts. Keine Distanz. Nur noch der Blick und Nico. Kein außen.

Der Fehler war es zu meinen, der Blick würde affirmieren, die Gedichte, die Posen, die Drogen. Tut er nicht. Er feiert den anderen an sich, was der tut, muss sein. Er sieht alles, weiß alles, er nimmt es auf, macht es zu seinem. Er ist zärtlich und schonungslos zugleich. Absolute Offenheit.

Die anderen Frauen. Die Frau im weißen Kleid unter dem Strauch, die Frau mit den weinroten Lippen, die Frau mit dem Koks und dem Kind. Sie blicken zurück, lächeln, reden, da ist noch Interaktion, sie sind noch beobachtet. Beobachtung die idealisiert, überhöht. Die Frau als Bild das erblickt wird. Der Blick des Malers.

Mit Nico ist der Blick eins geworden. Keine Interaktion mehr nötig, sie sind immer schon kommuniziert. Rückhaltlos, weil nichts dahinter, kein Geheimnis; keine Idealisierung. Nur noch die Verbindung von Zweien. Vollkommene Immanenz. Der Blick des Films.

Unerfüllbare Bedingungen. Der Blick darf nicht abbrechen, er muss sehen. Nico zieht ihn an. Nico darf nicht im Dunkel verschwinden, sie muss gesehen werden. Der Blick zieht sie ins Licht. Die Forderungen der Liebe.

Standhalten geht nicht. Das Gesicht löst sich auf. Die großen, grünen Augen weiten sich im Konsum, werden rot. Tränen rollen die Wangen herab. Der Blick wird hektisch. Schneller die Schnitte. Einstellung für Einstellung in den Tod.

Wenn Nico sich erschießt, stirbt auch Garrel, der Blick und der Film mit ihm. Aber sie verschwindet nicht im Dunkel. Selbst der Tod ist noch voll von Schönheit. Unsterbliche, unerträgliche Liebe. Möglichkeit und Unmöglichkeit des Films.

Seeping Light Along the Edges: Sílvia das Fadas in a Square Dance

In the flicker of silhouettes, light filters in. Rooms charge and change, the trails of people lingering in the back of history and memory. What does is take to put the once swaying world back in motion? Clarity, as that of George Oppen, seeks its own ground, metamorphosing a child’s foot into a butterfly because it is what needs to be done. In Sílvia das Fadas‘ Square Dance, Los Angeles County, California, 2013, the discarded photographs of Russell Lee are called back as well as called forward in a fulgent dance of figures, shadows, and light. Luminousness needs to be restored and reinvented, the sources of opalescence cannot always remain the same: those who have sought will belong to a “we,” an overcoming, ardent “we” wielded by hands in which the power of lives is contained. A chorus of imagined futures joins those of reverberative pasts. Legs and arms shift and travel as leaves and shades, trees and shrouds, traces upon traces. There is a story to be told in possible dances.

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Doubly exposed to time, laid open to possible world sightings from both ends, through echoing with “Which side are you on?,” these windows of chance glimpses at people in rural America during the Great Depression join imagined pasts with graceful futures. Their grace is not without strife, for the filigree waves of their bodies and clothes, the contours of the room and the lines of their faces are reflected in a prism of multifariousness. Where they are going, there is no end, no callous lingering, not even a whisper of delineation or definition. Instead, it is clarity that rings true in revisiting places where people are handheld, whether by camera or song, by cinema or light. Sílvia das Fadas is familiar with these lands, as her intimacy with the recovery of once living relationships reveals in strokes of seeping light. Memory burns bright, with details as its sacred fireflies. Corners of the once inhabited brush against the newly arrived. Remnants of the once seen bloom in the gaze born anew. There is no way to hide, nor is there any reason to: we are all the richer, all the closer, all the more saturated with each other in taking up the threads and vestiges of other golden tales, following their courses whether they be rivers, mountains or sands buried underneath the cities.

Awakening has need of shipwrecks – in brushing the quotidian from the soles of our feet, we teeter on the edge of forgetfulness. Remembering is a choice more than it ever was, but its walls and hedges are no less slippery. Shadows dance in the realms of the forlorn as much as in those of the hopeful, but the thread to follow, glowing in the darkness in-between, is woven from the urge and yearning for the filtering light, the light that made cinema and that breaks and reflects the world.

Around the World in 14 Films: The Woman Who Left von Lav Diaz

The Woman Who Left von Lav Diaz

Seit dem Gewinn des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig mit The Woman Who Left ist Lav Diaz einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Zeiten, in denen er unter einer kleinen, cinephilen Anhängerschaft als Geheimtipp galt, sind somit vorbei. Darf man in solchen Fällen stutzig werden, misstrauisch sein ob der Aufmerksamkeit und des Lobs vonseiten einer Branche, die sich jahrelang herzlich wenig um diese Filme geschert hat? Muss man fürchten, dass ein solcher Preis nur zu gewinnen ist, wenn ein Filmemacher seine Kompromisslosigkeit aufgibt? Ist bei Diaz eine Tendenz festzustellen, wie man sie bei manchen Cannes-Dauerbrennern, wie den Gebrüdern Dardenne in ihren letzten Filmen gesehen und gespürt hat?

Zweifel schienen möglicherweise berechtigt, doch The Woman Who Left weiß sie zu entkräften. Das Filmschaffen von Lav Diaz hat sich in den letzten Jahren etwas verändert, seine Filme lassen sich einfacher in einer konkreten Raumzeit verorten, die Erzählungen wirken oftmals gestraffter und nehmen sich weniger Zeit zu mäandern; sie sind nun einfacher auf einzelne Aussagen oder ihre „politische Relevanz“ reduzierbar. Trotz allem kann man Diaz schwer vorwerfen, dass er sich der Logik einer Marktförmigkeit unterwirft, zu sehr betont er auch in The Woman Who Left die filmische Dauer, in der sich seine Erzählungen entfalten, zu frei und unvorhersehbar bewegen sich seine Figuren, zu fein die Bruchlinien, die sich aus dem Driften des Films ergeben; alles Qualitäten, die sich schon in seinen früheren Filmen finden.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Es ist schwierig über die Filme von Diaz zu schreiben; das Schreiben scheint der Monumentalität nie gerecht zu werden. Das bezieht sich nicht nur auf die Laufzeit, sondern auch auf die politische Dimension seiner filmischen Arbeit und vor allem auf die Haltung zu den Bildern und zur Welt, die durch den Film transponiert wird – der Glaube daran, dass auch im Kino ein Davor und ein Danach existieren, dass das Leben (und das Leben ist auch die kleinste Zelle der Geschichtsschreibung) mit all seinen Konfrontationen und Konsequenzen berücksichtigt werden muss, auch wenn es gerade nicht im Bild zu sehen ist; und der Umkehrschluss – das gerade die Randgestalten der Geschichte, die marginalen Vorkommnisse des Lebens oft mehr über die Ereignisse Bescheid wissen, als das kondensierte Spektakel (die Grundfigur des kommerziellen Kinos). Es bleibt mir nur eine Flucht zu den eben genannten Momenten, eine Flucht ins Beispielhafte, ein lückenhaftes Aufzählen subjektiver Empfindungen und Beobachtungen, ein Versuch Emotionen zu teilen. Fern von dem Punkt alle Filme von Diaz zu kennen, aber mittlerweile mit seinem Werk einigermaßen vertraut, stellt sich bei mir bei jedem seiner Filme ein Gefühl von Vertrautheit ein. Diese Vertrautheit ist eng an wiederkehrende Motive und Bildtypen gekoppelt, die – wie auch zum Beispiel die immer gleichen weißen Lettern auf schwarzem Grund in den Filmen von Woody Allen  – zu einem Proust’schen Rückerinnern führen. Ein Gefühl von Nähe macht sich dann bemerkbar, von Vertrautheit, von Mitwisserschaft. Natürlich ist dieses Gefühl nicht exklusiv den Filmen von Lav Diaz vorbehalten, sondern hat wohl insgesamt mit der Erfahrung von Kunst zu tun, wie sie, für den filmischen Diskurs, vor allem von den großen passeurs beschrieben und vorgelebt wurde.

Ein Gefühl des Miteinanders, der Teilhabe, entsteht. Zunächst ist das ganz pragmatisch gedacht: Für vier, acht oder zehn Stunden verbringt man Zeit im Kinosaal mit einer (meist überschaubaren) Anzahl anderer Kinogänger und mit den Bildern auf der Leinwand. Darüber hinaus tritt man selbst in die Welt ein, beobachtet parallel zur Kamera das Geschehen, entdeckt Gerüche, Geschmäcker, findet Freunde, Seelenverwandte, arbeitet, feiert – man wird selbst zum Film. Es geschieht eine Menge Dinge in dieser Zeit, denen man mal intensiver, mal weniger intensiv folgt; und wie im echten Leben, ist man kaum in der Lage die Übersicht über alle Vorkommnisse zu behalten, um sie im Anschluss in chronologischer Reihenfolge aufzuführen. Einen Film von Lav Diaz zu sehen, oder besser, zu erfahren, ist wie das Treiben, in einem Fluss, der mal aufgestaut wird, mal abebbt, aber immer weiterfließt, bis man irgendwann aus ihm steigt und in eine Welt zurückkehrt, der die Monochromie fehlt.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Dschungeldickicht: Nur schwer findet sich das Auge im schwarzweißen Wirrwarr der Ranken, Sträucher, Bäume und Blätter zurecht. Das Schwarzweiß gepaart mit gestochen-scharfer Digitaloptik lässt das Bild flächig erscheinen. Ohne Anhaltspunkt und ohne Bewegung ist es schwer unterschiedliche Bildebenen wahrzunehmen. Für einige Sekunden steht der Dschungel meist für sich, bis es im Unterholz zu rascheln beginnt, und sich über irgendeinen verborgenen Pfad Menschen ins Bild bewegen. Durch ihre Bewegung gewinnt das Tableau an Tiefe, die Orientierung fällt leichter, das Suchbildrätsel löst sich auf. Dieses Bildmotiv kommt in The Woman Who Left nur ein einziges Mal vor (wenn mich meine Erinnerung nicht trügt), erinnert aber sofort an ähnliche Inszenierungen der philippinischen Landschaft in Filmen wie From What Is Before oder A Lullaby to the Sorrowful Mystery, die in weniger urbanem Terrain spielen.

Eine einsame Straßenlaterne erleuchtet ein Stück Straße. Im harten Licht der Laterne werfen die stehenden, sitzenden, kauernden Gestalten am Straßenrand harte Schatten. Im Dunkel der Nacht unterhalten sich die Gestalten, albern herum, streiten. In den Gesprächspausen breitet sich nächtliche Stille aus, unterbrochen von fernen Motorengeräuschen und zirpenden Insekten. Die Zeit dehnt sich in diesen Momenten, denn in der Nacht fällt die Hektik des Tages ab. Unter Straßenlaternen verhandeln Lav Diaz‘ Protagonisten den weiteren Verlauf ihrer Geschichte, unter Straßenlaternen verbringen sie Zeit miteinander. Die Nacht ist hier keine Zeit düsterer Stimmung, keine Zeit der letzten Entscheidungen, keine Zeit des Grusels, sondern ein unaufgeregter Teil des Lebens, dazu geeignet neue Bekanntschaften zu machen, intime Gesprächssituationen herbeizuführen und sich in der Dunkelheit seiner Isolation zu erfreuen. In The Woman Who Left sind es die Szenen zwischen Horacia und dem buckligen Straßenverkäufer, wie sie am Straßenrand unter Laternenlicht sitzen, die am stärksten das Gefühl der gelassenen Beobachtung evozieren, so wie auch schon die Szenen in den Winternächten New Jerseys in Batang West Side, die irgendwann zu Zugehörigkeit und Vertrautheit wird.

Es ist somit unerheblich, ob The Woman Who Left kürzer und stringenter ist als andere von Diaz‘ Filmen, denn das entscheidende Gefühl der Vertrautheit, des Mit-dem-Film-seins, das ich versucht habe zu skizzieren, stellt sich auch hier ein. Trotz dieses Gefühls, kommt es mir nicht so vor, als würde ich die Regeln dieser Welt vollständig kennen, als könnte ich aus den gezeigten Welteindrücken, die oft eine täuschend getreue Wiedergabe der Realität suggerieren, ein Denksystem ableiten, eine einheitliche Idee von Humanismus dechiffrieren. Der Sog der Vertrautheit ist ein anderer, als jener der Massenmedien, die mich betäuben und mit einer fertigen Botschaft impfen wollen. Es geht hier weniger um eine Deutung (zumindest um keine, die im Vorhinein festgelegt ist), als um die Geste des Zeigens. Darin liegt dann vielleicht auch die (politische wie filmpolitische) Haltung von Diaz, mit der sich erklären lässt, weshalb Szenen an- und auslaufen dürfen, weshalb das Bild selten durch Unschärfen oder Kamerabewegung korrumpiert wird, weshalb die Alltäglichkeit eine vergleichsweise wichtige Rolle spielt – es ist seine Form der Kritik an anderen medialen Darstellungsformen und Bewegtbildinszenierungen. Ist The Woman Who Left etwas zugänglicher, an manchen Stellen vielleicht sogar deutlicher? Ganz bestimmt. Ist Lav Diaz deshalb von seinem Weg abgekommen? Meiner Einschätzung nach ist er das nicht. Vielmehr hat er etwas Anderes entwickelt, das dem Geist seiner früheren Arbeiten entsprungen ist, sie in eine andere Richtung lenkt, aber nicht verrät.

Erster Brief über das Sehen und das Kino bei Annie Dillard

Ich habe gestern Nacht das Kapitel bei Annie Dillard und ihrem Pilgrim at Tinker Creek gelesen, in dem sie von den Blinden berichtet, die das Sehen erlernen, die nicht sehen wollen. Du hast es wahrscheinlich auch schon gelesen. Ich habe selten etwas gelesen, das besser erzählt hat, warum das Kino und die Welt so stark verbunden sind, warum das Sehen in der Welt so schwierig, rar ist. Es gibt eine Sehnsucht nach dem Erblinden. Weil es zu viel Licht gibt? Ich frage mich manchmal, ob wir ins Kino gehen um zu sehen, oder um nicht sehen zu müssen. Eigentlich ist die Antwort klar. Sie hängt mit dem zusammen, was Abbas Kiarostami mal gesagt hat, nämlich dass er Dinge besser sehen könne, wenn ein Rahmen um sie herum sei. Aber manchmal erwische ich mich in einem Zwischenstadium. Ich gehe ins Kino, um das zu sehen, was ich gar nicht sehen kann. Das, was zwischen zwei Bildern passiert und meiner Wahrnehmung entweicht. Zum Beispiel die Geburt eines Gefühls, das Verblassen einer Angst oder Lust. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Sehen nennen kann. Es ist sicher etwas, das durch mein Sehen hindurch muss. Aber es ist kein Einsehen, schon gar kein Fernsehen. Eher ist es ein Versehen, leicht entrücktes Sehen, nicht so gezielt, vielleicht mehr ein Schwamm, denn eine Taschenlampe. Ich mag es nicht so sehr, wenn Dinge in Filmen sehr stark beleuchtet werden (außer die Augen der Frauen bei Von Sternberg), das heißt: Eigentlich mag ich es schon, aber ich mag es nur für den Schatten der dann entsteht. In ihm würde ich dann suchen. Wie in der Szene am Ende von Visita, ou Memórias e confissões von Manoel de Oliveira, wenn die beiden Besucher für den Hauch eines Nichtlichts durch das Sehen huschen, als wären sie gar nie da gewesen. Vielleicht suche ich deshalb auch nach diesen Kameraschatten wie jene von Henri Alekan, Emmanuel Machuel, Agnès Godard oder William Lubtchansky. Es geht mir dabei nicht um die Imagination. Ich glaube, dass das Kino jenseits davon operiert, in seiner eigenen Realität der Phantasmagorien.

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Oft wird das Kino ja auch mit der Erinnerung in Verbindung gemacht. Es gibt diese Idee, dass man Filme macht, um etwas festzuhalten. Ich mag aber immer mehr die Filmemacher, die diesem Festhalten entrinnen, die wie Marguerite Duras oder Pedro Costa Filme machen, um zu vergessen. Die das Flüchtige als eine Arbeit der Bilder verstehen. Die Arbeit mit dem Flüchtigen, das Flüchtige der Arbeit und alles, was dazwischen passiert, vor allem, ja vor allem, was dazwischen passiert. Zum Beispiel ein Blick aufs Meer bei Duras. Was ist das eigentlich? Darin spiegelt sich ja auch etwas, was mit dem Kino zusammenhängt. Eine Sehnsucht, Seensucht, wenn man so will. Ein wenig einfach diese Worthülse, aber sie sagt doch einiges. Der Ozean bei Duras ist immer zugleich Gegenwart und Vergangenheit, er trägt sich, liegt still und tobt, er ist immer da, unheimlich beruhigend und doch voller Unwegsamkeiten, kaum erforscht, unberechenbar, tödlich, wunderschön. Er ist aufregend. Vielleicht ein wenig wie das Kino. Man sieht ja hin, weil man es kennt, man ist vertraut mit bestimmten Regeln, aber in der Regel weiß man nicht, was einen erwartet. Vergisst man also zu sehen, wenn man auf das Meer blickt oder erinnert man sich daran, was Sehen eigentlich ist? Es eröffnet sich sicherlich ein Potenzial ganz ähnlich jener Lichtphantome des Kinos, ein Potenzial zwischen Stillstehen und Bewegung, zwischen Zeit und Raum.    

Dillard schreibt es von der anderen Seite, es geht um räumliches Sehen und diese Wahrnehmung von schwarzen Punkten im Licht, ich würde es Schattentropfen nennen, die wie Tinte auf das Licht klecksen. Es geht darum, dass man auch flächig sehen könnte. Wie das Baby, das nach dem Mond greift, weil es den Abstand, den Raum nicht begreift. Im Kino ist es ja genau andersherum. Man begreift einen Abstand, obwohl er gar nicht da ist. Ich mochte immer Szenen, in denen Figuren die Leinwand berühren. Ich glaube, dass Stan Brakhage Filme darüber gemacht hat. Es ist erstaunlich wie wenige Filme es darüber gibt, also darüber wie wir sehen. Vielleicht das Blinzeln zwischen den Bildern in Mauvais Sang von Leos Carax? Deutlich aufdringlicher dasselbe in Le scaphandre et le papillon von Julian Schnabel? Vielleicht weil Kino eben nicht nur ein Medium des Sehens ist. Aber bei Dillard und auch im Kino scheint es mir um einen breiteren Begriff des Sehens zu gehen, jenen der Wahrnehmung.

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Sie schreibt, dass Van Gogh geschrieben hat: „Still, a great deal of light falls on everything.“ Ich habe nach diesem Zitat gesucht. Es ist ein Brief an seinen Bruder und es ist eine Beschreibung dessen, was der 29jährige Maler sieht oder besser: Das, was er in seiner Erinnerung sieht:

„It looks very different here today, but beautiful in its own way, for instance, the grounds near the Rhine railway station: in the foreground, the cinder path with the poplars, which are beginning to lose their leaves; then the ditch full of duckweed, with a high bank covered with faded grass and rushes; then the grey or brown-gray soil of spaded potato fields, or plots planted with greenish purple-red cabbage, here and there the very fresh green of newly sprouted autumn weeds above which rise bean stalks with faded stems and the reddish or green or black bean pods; behind this stretch of ground, the red-rusted or black rails in yellow sand; here and there stacks of old timber – heaps of coal – discarded railway carriages; higher up to the right, a few roofs and the freight depot – to the left a far-reaching view of the damp green meadows, shut off far away at the horizon by a greyish streak, in which one can still distinguish trees, red roofs and black factory chimneys. Above it, a somewhat yellowish yet grey sky, very chilly and wintry, hanging low; there are occasional bursts of rain, and many hungry crows are flying around. Still, a great deal of light falls on everything; It shows even more when a few little figures in blue or white smocks move over the ground, so that shoulders and heads catch the light.“

Van Gogh, der Filmemacher, das hat sicher nicht nur Maurice Pialat gedacht. Annie Dillard ist auch eine Filmemacherin. Aber diese Philosophie des Sehens, diese Betonung des Sehens. Ist das nicht auch eine Betonung des Zwischen-Sehens, des Versehens? Sie schreibt: „It‘s all a matter of keeping my eyes open.“. Sie schreibt recht oft von Zufällen, von Einmaligkeiten und förmlichen Einsamkeiten, in denen sie wirklich sehen kann. Als ob nur sie in dieser einen Sekunde etwas sehen kann, was niemand sonst sehen konnte. Und andere Dinge, die ihr sehr logisch erscheinen, die sie aber noch nie gesehen hat. Sehen ist dann auch eine Art Schwindelzustand, ein anderer Zustand für sie. Ist das so? Ich würde gerne wissen, ob das Sehen, also das konzentrierte Sehen im Kino oder sonst wo, der Akt des Sehens, ob der ein besonders nüchterner oder ein besonders rauschhafter Moment ist. Oder andersherum: Wenn wir nicht wirklich sehen, ist das dann der Normalzustand? Man sagt ja, dass man mehr Dinge sieht, wenn man verliebt ist. Und man sieht sehr wenig in Panikzuständen. Das bringt mich wieder zurück zu Duras, denn bei ihr ist das Verlieben und die Panik oft identisch. Als würde man wegblicken, in dem Augenblick, in dem man am meisten spüren, sehen kann. Und hinblicken, wenn dort nur mehr ein schwarzes Loch wartet. Dieses Versehen ist also auch ein Verpassen. Man muss vielleicht den Mut haben, etwas zu verpassen, um etwas zu sehen.

Und was ist nun mit den Blinden, die wieder sehen können, aber gar nicht so recht wollen? Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht haben sie die ganze Zeit über gesehen. Konzentrierter gesehen, besser gesehen. Sie erinnern mich an jene, die nach dem Kino bedauern wieder in der echten Welt zu sein. Deshalb ist die Feststellung von Carax bezüglich der Kinoinsel so tröstend für uns im Dunkeln Sehende. Denn sie beherbergt den Gedanken, dass man dieses Sehen, das Kino-Sehen, das Versehen, das anders, genauer, gerahmter Sehen auch in die andere Welt mitbringen kann. Dass die Kinoinsel eine Wahrnehmung ist und eine Liebe und eine Sehnsucht.