Il Cinema Ritrovato Tag 5: Feuer, Wasser und die schwarze Stadt

Das Cinema Ritrovato ist ein cinephler Vergnügungspark, in dem man von Vorführung zu Vorführung taumelt wie ein kleines Kind, stets begierig nach der nächsten Attraktion, ganz egal, ob einem die letzte gefallen hat oder nicht, ob der Verstand schon in den Seilen hängt und um Erbarmen bettelt, ob man überhaupt noch sieht, was sich auf der Leinwand abspielt – die Augen wollen immer mehr, verzaubert von der Überfülle des Programms stürzen sie uns in einen hemmungslosen Sichtungsrausch, der mitreißt und verdattert wie die Karussell-Szene in Jean Epsteins Coeur fidele, eine dekadente Kinoverkostung, bei der jeder von allem probieren will, aus Wollust und Neugierde, aber auch aus Angst, dass es irgendwann keinen Nachschlag mehr gibt. Denn der Zirkus ist nicht ewig in der Stadt, die Zeit ist beschränkt, und die zahllosen Titel im Katalog buhlen allesamt lautstark um die Gunst potentieller Zuschauer: Nimm mich! Hereinspaziert! Das hast du so noch nicht gesehen! Nahezu jedes Screening verspricht, etwas Besonderes bereitzuhalten. Ein eben erst geborgener Schatz aus den hintersten Ecken eines Nationalarchivs! Der Technicolor-Vintage-Print eines unumstrittenen Klassikers! Die frisch restaurierte Fassung eines verkannten Meisterwerks, mit Live-Orchesterbegleitung und Expertenvorrede! Viele Sektionen locken mit dem Reiz des Unbekannten: Alternative Filmgeschichten, verstaubte Perlen, vergessene Talente. Und auch wenn sich der Budenzauber zuweilen in Schall und Rauch auflöst und man den Saal mit der Frage verlässt, ob das eben Gesehene wirklich Gedenken verdient hat, auch wenn man das wachsende Übergewicht digitaler Projektionen beanstanden kann, so träumt man doch jede Nacht von der Utopie, das Programm in seiner Gesamtheit verschlingen zu können – das Kino ist hier nach wie vor ein fremder Kontinent, der danach schreit, entdeckt zu werden.

Hier wüten auch Stürme: Etwa am Ende von William Wylers A House Divided , als der ganze aufgestaute Weltenhass der titanischen Vaterfigur sich imposant zu tosenden Wassermassen auftürmt. Ein sonderbares, aber ausgesprochen eindringliches Psychodrama. Ungewöhnlich das Setting: Ein Lachsfischerdorf im Nordwesten Amerikas. Das Leben ist hart. Die naturalistischen Arbeitsalltagsaufnahmen sorgen dafür, dass man das wirklich glaubt, vielleicht sogar spürt, selten wähnt man sich in Studiokulissen. Über allem thront in einem Haus auf einem Hügel Seth Law (Walter Huston, der Vater von John, damals vor allem als Theaterschauspieler bekannt). Ein großer Mann, dessen Wort Gesetz ist für seine Fischergesellen und vor allem für seinen sensiblen Sohn (Kent Douglass), der sich nichts sehnlicher wünscht, als diese öde Gegend zu verlassen. Doch der Vater lässt ihn nicht ziehen. Der Tod der Mutter, mit deren Begräbnis der Film beginnt, als wäre es der Auftakt zu einem Requiem, hat ihn nur noch härter gemacht. Da hat sich jemand seiner Autorität entzogen, ohne ihn zu fragen. Da ist nun ein Verlust, der ihm zu schaffen macht, aber er darf sich keine Blöße geben. Alle müssen wissen, dass seine Souveränität und Männlichkeit intakt ist. Houston spielt Law als jemanden, für den die Virilität zur Neurose geworden ist. Es gibt eine Reihe von starken Szenen, in denen seine Selbstbestätigungslust sich auf brutale Weise Bahn bricht. Ein rabiates Wrestling-Match in eine Bar, später einen ausgelassenen irischen Hochzeitstanz. Law bestellt sich eine Frau aus dem Katalog, zunächst nur, weil er jemanden zum Kochen braucht, aber weil die Dame jung und hübsch ist, hofft er auf einen zweiten Frühling. Als er herausfindet, dass sie seinem Sohn zugetan ist, bricht ihm dass die Beine – buchstäblich. Jetzt kriecht er in stolzer Erbärmlichkeit über den Boden und droht weiterhin, als wäre nichts passiert. So dringlich ist Hustons Performance, dass er selbst im Rollstuhl seine Mitschauspieler in den Schatten stellt, und nie als Bösewicht erscheint, sondern stets nur als durch und durch Verzweifelter. Und dann kommt das unglaubliche Finale, purer Expressionismus, eine letzte Konfrontation in strömendem Regen, Flucht der jungen Liebenden aufs Meer, dessen finster-furiose Wogen selten so bedrohlich wirkten wie hier, und als die Wolken sich verziehen, hat sich der Ödipus-Komplex von selbst aufgelöst.

a-house-divided-1931

Was liebt das Kino mehr, Wasser oder Feuer? Die Flammensymphonie, die Ebrahim Golestan in seinem Kurzdokumentarpoem Yek atash (A Fire) inszeniert, ist jedenfalls nicht weniger überwältigend als Wylers wilde Wellengänge. Die fragmentarische Aufzeichnung der Löschung einer entzündeten Ölquelle im Iran, 1958. Der Hitzegeysir schießt in die Luft, und die Leinwand lodert lichterloh, man weiß sofort wieder, warum DCPs nie ein Ersatz sein können für Filmkopien. Man beginnt zu schwitzen, und nicht nur wie in Bologna üblich, aufgrund der schlechten Belüftung und mörderischen Temperaturen im Saal. Golestan hat Respekt vor der mühsamen, langwierigen Prozedur und ihren ausführenden Organen, filmt jeden Arbeitsschritt mit der gleichen empathischen Aufmerksamkeit. Aber ebenso scheint er sich der Faszination des Feuers nicht entziehen zu können, dem flirrenden Farbspektakel, dessen glühende Turbulenzen die wüste Umgebung verfremden, so dass man sich hin und wieder in einer rostroten Mad-Max-Marslandschaft wiederfindet.

Golestan ist ein Autor, Produzent und Filmemacher, der das prärevolutionäre Kino Irans entscheidend mitgeprägt hat, das Festival widmete ihm eine kleine Schau. Unter anderem zeichnet er mitverantwortlich für Forough Farrokhzads legendären Khaneh siah ast (The House is Black), der hier in einer hervorragenden Kopie zu sehen war, wenngleich ohne Untertitel. Farrokhzad und Golestan verband eine private und professionelle Beziehung. In seinem filmischen Hauptwerk Khesht o ayeneh (Brick and Mirror), dessen restaurierte Fassung heuer (digital) in Bologna gezeigt wurde, spielt sie eine kleine Rolle, legt als verschleierte Frau einem Taxifahrer ihren Säugling auf die Rückbank, fordert in so heraus, Verantwortung zu übernehmen. Das Haus ist in Brick and Mirror nicht schwarz, dafür aber die Stadt. Am Anfang fährt der Taxifahrer Hashem (Zackaria Hashemi) durch ein dunkles Teheran, im Radio läuft ein Hörspiel, dessen (von Golestan selbst eingesprochene) mythologische Menetekel sich über die urbanen Nachtbilder legen wie Travis Bickles Voice-Over über New York in Taxi Driver. Auf der Suche nach der Mutter des Babys irrt Hashem durch freudlose, schwarz-weiße Cinemascope-Gassen, trifft Verlorenen und Verrückte in einem Labyrinth der Hoffnungslosigkeit. Dann landet er in einem verrauchten Café, wo süffisante Intellektuelle Schaum schlagen und Dampf plaudern, ohne Perspektive oder wahre Leidenschaft. Schließlich nimmt er das Kind mit zu sich nach Hause, wo seine Geliebte wartet. Sie will es adoptieren, doch er sträubt sich, er kann nicht, er hat Angst vor den Nachbarn, deren böse Blicke hinter den Vorhängen lauern. Es ist eine Atmosphäre vager Angst, lähmender Unentschlossenheit und verhinderter Nähe, die sehr stark an Antonioni erinnert, auch wenn die politische Allegorie hier viel deutlicher zum Vorschein kommt. So wie das Private ins Soziale gebettet ist, ummantelt Golestan eine ausgedehnte, klaustrophobische Sequenz in Hashems Apartment, in dem das Paar vergeblich versucht, sich zu verstehen (der Abwechslungsreichtum der Auflösung dieser Passage ist beeindruckend), mit kafkaesken Vignetten aus dem Leben der Marionetten, Gesellschaftsporträtminiaturen, die allesamt Orientierungslosigkeit signalisieren. Kulminationspunkt dieser befremdlichen Bestandsaufnahmen ist eine Szene gegen Ende des Films, in der Hashems Geliebte (die im Übrigen als Einzige an die Möglichkeit einer Befreiung glaubt), ein Waisenhaus besucht. Golestan stürzt sich in eine Montage der vergessenen Kinder in ihren Krippen, ihrer ungelenken Bewegungen und formlosen Laute, wippenden Köpfe und schnappenden Hände, eine kaputtes Bildgedicht zwischen Groteske und Entsetzen, Symbolismus und Sinnlichkeit, das schließlich in einer wuchtigen Kamera-Rückfahrt mündet, in deren Trägheit sich die tiefste Trauer offenbart.

Il Cinema Ritrovato Tag 4: Pferde schwimmen in Farbe

Am Vorabend stolpern wir in eine Restauranteröffnung und schnappen uns formidable Pizzastücke umsonst, das Licht in den schmalen Gassen ist gemalt, jemand brüllt laut vor dem Kino, als Italien gegen Spanien gewinnt. Ab und an winkt sogar Regen, der dann doch nicht wirklich kommt. Außerdem verschlägt es uns in die Bibliothek, in der so viele Buch- und DVD-Schätze liegen, dass man einfach zuschlagen muss. In den Pausen sitzen wir auf den Millimetern Schatten, die bleiben, die schrumpfen, die schmelzen. Jemand holt ein glühendes Eis. Die Klimaanlagen fühlen sich an wie Fieber.

Ioana und Rainer sind begeistert von einigen Chaplin-DVDs. Im Hintergrund kauft Patrick ein. (Foto: Lorenzo Burlando)

Patrick beschließt, dass sein nicht vorhandenes portugiesisch genug ist, um dieses Buch über João César Monteiro zu kaufen. Rainer schaut. (Foto: Lorenzo Burlando)

Zeit und Raum, die für das Kino so entscheidend sind, verlieren auf einem Festival oft an Bedeutung. Die Zeit ist das Kino, der Raum ist das Kino. Man wird förmlich initiiert und mitgerissen von dieser Bedeutung des Kinos, die erschreckend und doch erwartbar größtenteils (jenseits der Screenings am Piazza Maggiore) am breiten Publikum vorbeifliegt. Die Kinos sind übervoll, ja, es gibt große Begeisterung, ja, aber es ist eine cinephile Insel, man gehört gewissermaßen zu den Auserwählten, die verstehen wie wichtig das ist, was man da sehen kann. Zum Beispiel ein Besuch des deutschen Kaisers in Istanbul 1917, der im Rahmen einer kleinen Schau für das türkische Filmarchiv gezeigt wird. Oder aber mein persönlicher Liebling auf dem bisherigen Festival, ein Fundstück von purer Simplizität und Anmut. Die Kinemacolor-Restauration einer Soldatenübung aus dem Jahr 1912 mit dem Namen Plotoni nuatatori della III divisione cavalleria comandata da S.A.R. il Conte de Torino. Darin sieht man Soldaten, die mit Pferden einen Fluss überqueren. Die Kamera schwimmt mit ihnen, die Pferde streiken oder planschen, man verliert sich ähnlich wie im Kino von Jean Vigo in der reinen Freude dieser Bewegung. Luca Comerio heißt der Filmemacher, der die ersten farbigen Dokumentarfilme Italiens realisierte. Die Welt der Vergangenheit bewegt sich in Farbe. Dieses Wunder wirkt auf mich hier in Bologna noch viel stärker, als wenn man bewegte Bilder an sich sieht. Denn diese Farben war schon verloren. Es ist nicht einfach nur das Abbilden der Welt, sondern das Wiederherstellen einer bereits verlorenen Abbildung. Ich würde diese eigentlich logische und bekannte Arbeit gelassener hinnehmen, würde ich nicht derart von ihr begeistert sein. Es ist gewissermaßen eine Wiedergeburt dieser Bilder der vergangenen Welt. Die Einfachheit des Ganzen ist gleichzeitig die Komplexität. Man könnte sagen, dass die Gebrüder Lumière, denen auf dem Festival sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hier nach wie vor als Erinnerung dienen und eigentlich vor allem als Manifestation für das, was das Kino zu Leisten im Stande ist. Das große Drama, die Gefühle, sehr gerne, aber dieses Zeugnis über die Welt (das dann im Fall des türkischen Filmarchivs nur per Zufall mit dem Verweis “useless“ auf der Filmrolle überlebt) ist ein Hauptbestandteil einer Kinogeschichte, ohne die wir die Weltgeschichte deutlich weniger verstehen können. Wenn man sich die zeitgenössische Bilderflut ansieht, dann kann das Kino gar nicht mehr diese Rolle spielen. Heute sind badende Pferde, die eben auch in Baignade de chevaux, gedreht von Lumière-Kameramann Gabriel Veyre, vorkommen eine Sache der Sozialen Medien. Der Unterschied liegt leider in der flüchtigen Bedeutungslosigkeit dieser Bilder heute und der schweren Bedeutsamkeit dieser Bilder damals. Was wir brauchen würden, wäre ein sondierendes Archiv für die Bilderflut unserer Zeit. Damit nicht alles verloren geht. Aber die Bedeutung liegt auch in der Art und Weise, in der diese Bilder hergestellt werden.

João César Monteiro filmt.

Rainer dazu mit passenden Gedanken zur Lumière-Ausstellung:

Bevor der Lagerkoller in unserem viel zu kleinen Appartement zuschlägt, und wir uns alle gegenseitig nachts mit Klappspaten erschlagen, müssen wir noch einige Worte über die Lumière-Ausstellung verlieren, die parallel zum Festival in einer angenehm kühlen Kellerpassage in der Nähe des Piazza Maggiore zu sehen ist. Zum einen ist bemerkenswert, wie hier auf begrenztem Raum für eine temporäre Ausstellung sehr viel besser mit Ausstellungsstücken des Pre-Cinema umgegangen wird, zum anderen welche Poesie an Stellen entwickelt wird, wo man sie nicht erwarten würde. So werden auf Filme der Lumières aus unterschiedlichsten Orten der Welt Seite an Seite mit aktuellen Webcambildern der gleichen Orte. In diesem Kontrast wird deutlich wie wertvoll diese Aufnahmen der Brüder und ihrer Kameramänner als Dokumente aus einer Zeit sind, als die Welt noch nicht mit Bildern gesättigt war. Auffällig auch das heutige Städtebilder meist aus erhöhter Perspektive aufgenommen werden. Die Kameraposition hat sich der größeren Geschwindigkeit des Alltagslebens angepasst, nur mit diesem Abstand wird noch das wenige Leben fassbar, dass bei den Filmen der Lumières immer zum Greifen nahe erscheint und frivol auf der Leinwand tanzt (Autoabgase und Stahl tanzen nicht).

Ein auf die Wand gedrucktes Zitat von Maurice Pialat fasst die Qualitäten der Lumières sehr treffend zusammen: diese Filme haben bereits alles, was wir vom Kino erwarten und präsentieren es mit einer Einfachheit, die heute oft verloren gegangen ist. Freilich kann man diese Einfachheit leicht mit Primitivität verwechseln, aber es wäre ein Fehler die Brüchigkeit dieser Filme, ihre fehlende Geschlossenheit als Mängel zu bekritteln. Es sind gerade Filme wie Repas d’Indiens, die scheinbar scheitern, in denen das Kino der Lumières ihre größte Macht ausstrahlt. Da sitzt eine Gruppe von Indios im Halbkreis vor der Kamera, die Sombreros tief ins Gesicht gezogen und dahinter beginnt ein weißer Mann in schwarzem Anzug zunächst verhalten, schließlich wild, zu gestikulieren. Er möchte die Männer dazu bringen aufzublicken – in die Kamera –, ihnen die Hutkrempen aus dem Gesicht schieben. Ich stelle mir die Frage, warum diese Szene nicht einfach wiederholt wurde, oder warum sie überhaupt entwickelt und gezeigt wurde. Die Antwort damals wird nicht so anders gewesen sein als heute: erst das Eingreifen des Manns macht diesen Film interessant, erzählt in seinem Scheitern eine Geschichte, die von weit größerem Interesse ist, als die sozialanthropologische Dokumentation eines Abendessen einer Indio-Familie.

Il Cinema Ritrovato Tag 3: Heiß wie ein Vulkan

Andreas tanzt beinahe fehlerfrei den Tony Holiday Tanze Samba Mit Mir-Tanz aus Gouttes d’eau sur pierres brûlantes von François Ozon und schenkt uns damit die offizielle Hymne für Bologna. Das Apartment ist in Aufruhr nach einem langen Tag mit Mauritz Stiller, Abel Gance und vor allem der Potenz von Marlon Brando.

Wobei ich zugeben muss, dass mir die Musik, die unter den sowieso sehr gelungenen Trailer gelegt wurde sehr zusagt. Ein weiterer Filmemacher, der im Namen der Heiligen Maria und Gott sei Dank nichts auf diesem Festival verloren hat, ist Paolo Sorrentino, der den Remix dieses Liedes ja zu Beginn seines La grande bellezza über die Bilder gespritzt hat, damit man kurzzeitig vergisst wie wenig der Mann zu zeigen hat. Dennoch finde ich ihn auf dem Festival und zwar auf der durchaus gelungenen Lumière-Ausstellung, in die ich irritierenderweise als einziger der Gruppe kostenlos komme. Am Ende der Ausstellung haben Filmemacher wie Michael Cimino, Jerry Schatzberg oder Quentin Tarantino die aus der Fabrik kommenden Arbeiter nachgedreht und siehe da, den besten Clip liefert Herr Sorrentino, der die Arbeiter wieder zurück in die Fabrik gehen lässt. Hoffen wir, dass er sich der politischen Aussage seines Clips bewusst ist.

Stillers Vingarne ist wie Michael von Carl Theodor Dreyer eine Verfilmung von Herman Bangs Mikaël und tatsächlich wirkt der Film, der leider nicht vollständig erhalten ist, ein wenig wie eine verknappte Version von Dreyers Film. Gleich zu Beginn, als der ältere Maler einen Vogel beobachtet, dringt kurzzeitig ein wenig von der beachtlichen Beobachtungsgabe und wankenden Assoziationskraft Stillers hindurch, ansonsten ist es ein solider Film auf dem gewohnt hohen Niveau des skandinavischen Kinos, der 1910er Jahre. Man treibt beständig zwischen Offenbarung und Entdeckung, Kuriosum und Klassiker in Bologna. Man kann davon nur schwer genug bekommen. Hinzu kommt die enorme Zerbrechlichkeit dieser Filme. Die Wichtigkeit des Zeigens, die Wichtigkeit des Überlebens. Ioana nennt die Filmrestaurateure „Ärzte der Kunst“ und dem kann ich mich nur anschließen. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier die viel wichtigere Arbeit gemacht wird, als bei den Filmemachern. Denn heute scheint mir das Problem weniger zu sein, dass keine Filme gemacht werden, sondern mehr, dass die richtigen nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben. Hier wird sortiert, was sonst verschwindet. Vor kurzem durfte ich an einem Gespräch mit Christoph Huber teilnehmen, der äußerte, dass er Film zu sehr liebe, um selbst Filme zu machen. Heute verstehe ich weshalb.

Poster - One-Eyed Jacks_07

Am Abend sitzen wir dann in Brandos One-Eyed Jacks, der uns bereits von Festivaldirektor Gian Luca Farinelli als ein Film mit der Potenz von Marlon Brando beschrieben wird. Es ist die einzige Regiearbeit des Schauspielers und Martin Scorsese trifft es ganz gut, wenn er vor dem film per Videobotschaft ankündigt, dass der Film auf halber Strecke zwischen dem klassischen Hollywood (in Bezug auf die Produktion) und New Hollywood (in Bezug auf die Emotionalität) liegt. Ansonsten ist der Film ein Spiegel für seinen Hauptdarsteller, der sich hier so gut aussehen lässt, dass man manchmal lachen muss.

Rainer sieht bereits unter Tags The Wild One mit Brando:

Marlon hat mich angelächelt. Ich habe zurückgelächelt. Es war einer dieser Momente, für die man ins Kino geht. Das Ende von The Wild One: Marlons Johnny verlässt das Café, will endlich aufbrechen und diese amerikanische Kleinstadt, wie sich vielleicht nur in Filmen existiert, hinter sich lassen. Ein letztes Mal dreht er sich in Richtung seines Sweethearts um – und lächelt. Aber er lächelt nicht sie an, sondern mich. Es ist ein schüchternes Lächeln, als wäre er sich bewusst, dass ihm Tausende entgegenblicken. Marlon ist wie Johnny ein Draufgänger, ein Alphamännchen, doch in diesem Moment öffnet er sich. Er sieht mich an und blickt mir direkt ins Herz und ich blicke zurück und verliere mich in seinen strahlenden Augen. Er sieht mich an, wie mich sonst nur wenige ansehen, es ist fast so wie mit Setsuko. Nach dem Film erzähle ich meiner Sitznachbarin davon, sie teilt meine Erfahrung nicht, hat Marlon unter den Tausenden und Abertausenden womöglich nur mich so angeblickt?