Filmfest Hamburg: Die Verweigerung

Winterschlaf

Gestern nach der Deutschlandpremiere von Nuri Bilge Ceylans Winter Sleep bin ich in einer anderen Welt erwacht.

Man weiß immer, wann man auf der letzten Seite eines Buches ist und man ahnt es manchmal bei Filmen, wenn die letzte Szene beginnt oder endet.

Wenn ich hier sitze, im Dunklen, selbstverliebt auf meine Tastatur blute, dann habe ich manchmal einen Sinn, manchmal eine Idee, eine Beobachtung, die mich wahnsinnig macht und die ich loswerden will oder mir bewusstmachen will, indem ich darüber schreibe. Ich zweifle gleichzeitig. Ich war mir bisher bewusst, dass man diesen Zweifel in der Ambivalenz des filmischen Bildes finden kann. Nicht aber war ich mir bewusst, dass man den Zweifel, alleine in der Ausformulierung einer philosophischen Gedankenwelt im Dialog festzuhalten vermag. Ceylan, ein Mann in dessen Filmen normalerweise das Schweigen regiert und das Gesicht alleine diesen Zweifel auslöst, lässt seine Figuren nun sprechen und sprechen und sprechen. Aber er macht damit nicht nur einen Film mit Dialogen sondern auch einen Film über Dialoge. Es geht dabei um die Schönheit und die Widerlichkeit des Wissens und es ist unmöglich, über diesen Film zu schreiben. Es wäre nicht gerecht. Ich frage mich zum Beispiel wie sich Kritiker nach der Lektüre eines Dostojewski-Buchs trauen können, einen Gedanken zu formulieren. Es geht mir bei Ceylan genauso.

Wann hat der Film aufgehört?

Winterschlaf

Timbuktu von Abderrahmane Sissako hat drei wundervolle Szenen, die das Poetische mit dem Politischen verzahnen. Ein Fußballmatch ohne Ball und mit Musik, eine Flucht vor dem Tatort quer durch den Fluss im Sonnenuntergang in einer Supertotale (L’inconnu du lac-esque, aber ohne die POV-Gefahr) und eine Steinigung.

Die Menschen in Hamburg sind ungewöhnlich höflich, wenn sie nach Plätzen im Kino fragen. Ihr Lächeln ist viel offener in diesen Momenten.

Ich habe noch nicht über Kim Ki-duks neuesten Folterspleen, One on One geschrieben. Ich schreibe etwas:

Bei Kim Ki-duk sehen Menschen, die durch Städte laufen immer ganz eigenwillig aus. Oft folgt er ihnen mit einer Handkamera, häufig fokussiert er ihre Füße. Dabei ist es entweder eng oder es geht hoch (selten runter). Beschwerlich ist der Weg durch die Stadt.

Ein Film sollte nach einer Seele suchen und eine Seele haben.

Winter Sleep5

Die Frauen am Ticketschalter, den man hier jeden Morgen aufsucht, sind sehr freundlich. Sie scheinen sogar selbst die Filme zu sehen und beginnen darüber zu diskutieren. Man steht also auf in der Früh und nach dem Frühstück bewegt man sich an den Ticketschalter. Dort stehen meistens schon ein paar Frauen mit Akkreditierungen, sie tratschen über ihre Meinungen und dann auch über die Filme dazu. Dieses saubere Deutsch, das in Hamburg gesprochen wird, macht mir manchmal Angst. Ich komme mir sehr barbarisch vor. Ich spreche nicht. Wenn man mich fragt, dann sage ich: Ceylan und Turist. Ein Techniker sitzt an einem Mischpult. Kommt von ihm diese Musik?

Im Cinemaxx-Kino riecht es nicht gut. Im Abaton-Kino riecht es besser. Es scheint mir fast so als würde ich nur zwischen diesen beiden Kinos pendeln. Heute habe ich gar drei Vorstellungen hintereinander im selben Saal im Cinemaxx. Das ist ein wenig schade, da ich im letzten Jahr das Studio-Kino sehr mochte.

Ich will ruhig werden. Einen Tee trinken und mich in das zärtliche Weiß eines letzten Lichts setzen. Dumpf. Ich möchte nichts mehr hören. Ich will am Abend durch die Landschaft spazieren. Man denkt dann. Ich denke ans Ertrinken, ein Mädchen auf dem Eis wie in Vonarstræti von Baldvin Zophoníasson, es drückt mich unter Wasser.

Bei Kim Ki-duk gibt es eine bemerkenswerte Sexszene. Ein Mann (ein Diktator der Beziehung) vertraut seiner Frau (eine Unterdrückte der Beziehung) nicht, er nimmt ihr Handy und überprüft ihre Textnachrichten. Er beginnt die Frau zu schlagen. Sie droht ihn zu verlassen. Er schlägt sie heftiger. Er schläft mit ihr. Sie lässt es über sich ergehen. Er kommt. Er schlägt sie wieder. Kim Ki-duk filmt diese Szene mit einer schmerzenden Geduld. Das ist vielleicht dieser Sinn: Schmerzende Geduld.

Denn sowohl in Winter Sleep, als auch in Turist, One on One oder Timbuktu kommt das schmerzvolle immer dann, wenn man glaubt, dass die sowieso schon schmerzvollen Szenen jetzt vorbei sind. Die letzte Meinung, die Dominanz, das Erdrücken, die Dauer der Dinge. Ja, Film kann das zeigen. Muss das zeigen.

Winterschlaf

SMS nach dem Film: „White God ist schlimm.“ Steven Spielberg würde mir widersprechen. Andere auch. Ein Pathos-Meer mit allerlei Hunden. Ich erinnere mich an Amores Perros. Nicht wegen der Hunde sondern wegen Vonarstræti. Diesen Film hätte ich vor acht Jahren geliebt. Ein Episodendrama mit emotionalen Charakteren, einer interessanten Zusammenführung der Charaktere und Schicksal, Liebe, Vergangenheitsaufarbeitung und so weiter.

In White God gibt es eine verstörende Szene. Ein Hund (was sage ich? DER HUND: Hagen, der beste Filmhund aller Zeiten) versucht eine befahrene Schnellstraße zu überqueren. Immer wieder macht er einen Schritt vor und einen Schritt zurück. Wie hat Regisseur Kornél Mundruczó diese Szene nur in den Kasten gebracht? Das fragt man sich bei mehreren Szenen. Massen-Actionszenen mit echten Hunden…Aber Hunde, so der Regisseur, seien ein Symbol für alle Unterdrückten. Endlich jemand, der auf diesen Gedanken kommt.

Ich will nicht mehr zynisch sein.

Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Turist Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

Turist2

Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.

Filmfest Hamburg: I Can Dance, I Can Drink, In The Dark It’s All A Trick

August Winds

Nun bin ich also wieder auf dem Filmfest in Hamburg. Ich bemerke die Lächerlichkeit der Filmkritik: Schreibe etwas zu Filmen, die du übermüdet und hintereinander anschaust. Nehme dich wichtig. Nehme dich nicht zu wichtig. Deine Meinung zählt. Deine Meinung ist den Filmen egal. Und: Welche Filme siehst du dir heute noch an? Ah ja, den, ja den fand ich ganz toll. Ich schau mir das an. Man sieht sich sicher noch…

Rot/Gelb sind dieses Jahr die Farben in Hamburg. Also auf den Fahnen und dem Katalog und so. Man kommt an und innerhalb von wenigen Sekunden hat man alles was man so braucht. Eine Akkreditierung. Sie baumelt um den Hals, wenn ich mit meinem Klapprad durch die Stadt rase. Schönes Gefühl. Es gab einen Kritikerpanel mit allerhand Krisen: Eine mediale Krise, eine Krise der Filmkritik, eine Krise des Filmschaffens, eine Krise des Publikums, eine Krise der Filmwelt allgemein, historische Krisen, keine Krisen. Das will man hören, wenn man auf ein Festival kommt, um Filme zu sehen. Aber Filmkritik ist natürlich wichtig. Ist sie das? Ich habe eine Krise. Bin ich eigentlich ein Amateurkritiker? Wer unterscheidet eigentlich zwischen Amateurkritikern und Profis? Wie ist das eigentlich bei Filmemachern? Ist Kritik eine Kunst? Ist Kunst eine Kritik? Dann war da noch ein Publikum. Das Publikum, so Rüdiger Suchsland, liegt auch mal falsch. Der Kritiker auch? Der Filmemacher sowieso? Der Mensch an sich? Mein Hotelzimmer ist größer als meine Wohnung in Wien. Ich bleibe noch.

Filmfest Hamburg 2014

Dann gibt es immer so Momente auf Festivals, da wünscht man sich eigentlich woanders zu sein. Manchmal, weil man sich nicht wohl fühlt oder weil man sich besonders wohl fühlt und sich bestimmte Menschen an seiner Seite wünschen würde, die in diesen Augenblicken mit denselben Augen einen Film sehen, die im gleichen Rhythmus schauen. So erging es mir letztes Jahr in Raya Martins How to disappear completely (den ich nicht oft genug erwähnen kann, weil ich-und jetzt kommt ein Wortspiel-nicht weiß, wohin der verschwunden ist…) und dieses Jahr bereits am ersten Tag in Ventos de Agosto von Gabriel Mascaro. Ein Film, der so sehr mit einer Sinnlichkeit und ethnographischen Geduld arbeitet, dass mancher übersehen mag, welcher Konflikt zwischen Leben und Sterben, zwischen der Sehnsucht nach Veränderung und der Sehnsucht nach dem eigenen Vergehen sich da in Panaroma-Pleasure entfaltet. Es ist dies eine Reflektion über ein Liebesspiel zwischen dem Tod und der Lebenslust. Dabei geht es um Erinnerung, Fleisch und Jugend genauso wie um das alltägliche Leben an einem unbekannten Ort. Die Geschichte entfaltet sich subtil zwischen den Bildern. Man kann sie suchen, aber man kann sich auch einfach auf eine Bilderreise begeben. Hier wird von zwei Polen in einer Beziehung erzählt, die beide aus ihren jeweiligen Umständen hervorgehen. Die weibliche Protagonistin sieht das Leben in allem. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit ihrer Großmutter. Sie lebt im Moment, in der Lust des Moments, im Drang etwas zu spüren. So cremt sie sich mit Cola ein und flirtet ohne Unterlass mit dem Gedanken an Tatoos. Der männliche Protagonist dagegen ist fasziniert vom Tod, er will das Leben gar nicht verändern oder retten, er sucht nach den Mysterien, wie den atmenden Lungen von Felsen oder dem Goldzahn einer Leiche. Eine Verwandtschaft zu Lisandro Alonsos Meditationen auf die Seele einsamer Südamerikaner ist nicht von der Hand zu weisen. Sprache wird nur sehr geringfügig eingesetzt, oft verschwinden die Figuren fast im Dickicht des Urwalds und der Bilder. Dabei vergisst Mascaro hier und da, auch im Banalen etwas Schönes zu suchen. So ist jede Einstellung ein Beauty-Shot und das kann einem irgendwann zu viel werden. Auf der anderen Seite aber entwickelt sich dadurch eine ganz eigene Verfremdung, die vom eigenwilligen Humor und der Fähigkeit des Films „zu hören“ unterstützt wird. Denn wie in einer anderen portugiesisch-sprachigen Großtat mit dem Monat August im Titel, nämlich Miguel Gomes‘ Aquele Querido Mês de Agosto wird auch bei Mascaro der Prozess der Tonaufnahme in Bilder gesetzt und damit hörbar. Das Meer wird dadurch auch zu einem eigenen Charakter. Ein Arbeitgeber, ein Mörder, ein Geheimnis. Voller Geheimnisse steckt auch der Film selbst, denn er funktioniert tatsächlich ein wenig wie ein Wind im Sommer. Man glaubt ihn zu kennen, aber er fühlt sich dann doch immer etwas anders ein, ein Schnitt und plötzlich könnte ein Gewitter kommen, das himmlische Kind. Das Ende erinnerte mich sehr stark an jenes von Primero estaba el mar von Tomás González. Als würde die Vergangenheit von der Gegenwart geküsst werden und Zeit zeugen.

August Winds

Schön früher am Tag habe ich Party Girl von Marie Amachoukeli, Claire Burger und Samuel Theis gesehen. Ich höre Dialoge im Kino: „Komm, lass uns am Rand sitzen, dann können wir im Notfall gehen.“ Anderer Dialog im Kino: „Heute Abend bin ich in Dolan.-Ja?-Ja, ich habe extra bis heute gewartet, weil ich wollte ihn mit Dolan sehen.-Ok-Ja, er hat ja Flugangst und da ist es was ganz besonderes, dass er heute hier ist.-Ja, ich mochte seine Filme ja nicht so. Also die drei (*mmh*) vor dem jetzigen-Ja, nicht?- Ja also den I killed my mother, sein erster Film, der war so schrecklich. Da habe ich ganz gegen die Intention des Regisseurs mit der Mutter gefiebert. Der ist ja immer so selbstverliebt.-Ja.“ (Film beginnt)

Schöne Musik am Ende von Party Girl:

In Kokosnüssen schlafen, davon träumen miteinander zu schlafen, den Wind hören, mit den Felsen atmen, zusehen, Arbeit, Musik, die Toten leben, ein Traum, eine Beerdigung, ein Grab im Meer, das Meer nimmt sich, was es sucht, es ist ein Geist, der Wind auch, ein Kuss, eine Ablehnung, Begehren, Sehnsucht, Sterben und dann leben. Wie in der Krise des Kinos.

Land of the Dead: Change your Face!

Les yeux sans visage Edith Scob

In einem Horrorfilm verlieren die Protagonisten oft ihr Gesicht. Ihr Vater ist Frankenstein und ihre Mutter ist Christiane Génessier, also Edith Scob in Les yeux sans visage. Sie waren kein glückliches Paar, ihre Kinder sind entstellt. Innerhalb der Land of the Dead Schau im Österreichischen Filmmuseum sehen wir sie und auch außerhalb. Nicht wirklich, aber etwas von ihnen.

1.Operation

Les yeux sans visage von Georges Franju

Der Traum von vielen Menschen. Man verändert sein Gesicht. Lasst uns nur an Time von Kim Ki-duk denken, indem die Protagonistin Angst davor hat, dass ihr Partner sie für eine jüngere Frau verlässt und sich deshalb ein neues, jugendliches Gesicht transplantieren lässt. Was sie nicht bedenkt ist, dass sie zum einen dafür sehr lange verschwinden muss und er sie zum anderen nicht mehr erkennen wird. In Frankenstein Must Be Destroyed von Terence Fisher muss der Körper und damit auch das Gesicht gewechselt werden, um das Gehirn am Leben zu halten. Die Moral ist, dass das keine Moral hat. Der Operationstisch selbst als Anstoß des Ekels. Es wird klar, was für eine solche Operation notwendig ist: Blut und schmutzige Hände. Es ist nicht der Laser und die Melodie wie in Mission: Impossible, sondern es ist das Berühren, das Verändern selbst, was uns Angst macht. Das fehlende Vertrauen in das Gesicht eines Menschen kommt erst später. John Woo, der neben Mission: Impossible II auch in Face/Off über die Verwirrungen eines vertauschten Gesichts nachdachte, ignoriert den Schmerz der Operation zugunsten einer ernsthaften Verwechslungskomödie, die natürlich auch unter fast jedem Horrorfilm lauert. Es gibt hier einige Aspekte des Horrors: Das Eingreifen von einer fremden Person in die eigene Oberfläche, das Sicht-Nicht-Wiedererkennen, die Entstellung, der moralische Horror. Charlie Chaplin konnte gar nicht genug bekommen von diesem Horror. So wird er in The Idle Class für einen anderen gehalten während der andere in einer Ritterrüstung gefangen ist, in A King in New York unterzieht sich der High-Society Exil-Politiker einer Schönheitsoperation, die seine Werbekarriere antreiben soll, um in einen Schock zu verfallen, ob dseiner misslungenen Nase. Chaplin lässt immer wieder Menschen erschrecken, wenn sie seine Figur sehen. Und dann war da noch das Ende von City Lights, das diesen Horror benutzt und exakt in sein Gegenteil verkehrt. Die Operation findet hier nicht am Gesicht statt sondern an den Augen der Betrachterin. Und der Moment des Erkennens bleibt einer der traurigsten und schönsten der Filmgeschichte. In Frankenstein Must Be Destroyed versteckt sich der, in einem anderen Körper existierende Ehemann vor seiner Frau. Er spricht mit ihr, aber sie darf ihn nicht sehen. In diesem Moment des Nicht-Sehen-Dürfens liegt ein großes Spannungsmoment, weil der Nicht-Blick voller Begehren ist. Wie der Blick durch das Schlüsselloch, selbst wenn man weiß, dass dahinter der Horror lauert. Sei es in Form eines Spiegels oder in Form des Verstellten, Unerkennbaren.

2. Deformation

Les yeux sans visage Edith Scob

Häufig eine Folge von Operationen, aber auch von Unfällen, Gewalttaten, Krankheiten oder sonstigen unerklärlichen Gründen sind die Deformationen in den Gesichtern des Horrors. Man denke nur an die Hautflecken, Zähne und schiefen Blicke der netten Familie in The Texas Chainsaw Massacre. Oder an die sich nach und nach vollziehende Verwandlung des Wissenschaftlers in David Cronenbergs The Fly. Hier scheinen die Körper stärker zu sein als die Seelen, wenn es diese gibt. Eine solche Deformation löst zugleich Neugier und Ekel in uns aus. Wir wollen nicht hinsehen, aber wir tun es doch. Nicht umsonst heißt Alejandro Amenábars Gesichtsentstellungs-Verwandlungs-Traum-Fantastik Abre los ojos; das unerträgliche Sein des Selbst, wie kommt man mit seinem Gesicht zurecht, wenn man plötzlich aussieht wie eine Fliege? Wenn man die Augen nicht öffnet wie in Nicolas Roegs Don’t Look Now könnte einem die Deformation eines falschen Traums durch alle Glieder fahren. Das rote Mädchen, das vielleicht der Geist der Tochter ist, hat ein anderes Gesicht in den Gassen von Venedig. Eines der Probleme, die ich mit dem Genre habe, ist dass es ganz selten subtil zugeht bei Deformationen. Es scheint dieses ungeschriebene Gesetz zu geben, dass man mit möglichst abartigen Entstellungen aufwarten muss und diese mit Kamera und Schnitt auch möglichst deutlich ins Gesicht der Zuschauer (sollten diese ihres noch besitzen) schleudert. Spannender hat sich da George A. Romero der Thematik in seinem Night of the Living Dead genähert. Denn hier liegt in der Deformation nicht nur ein Ekel, sondern auch zugleich eine Verunsicherung und eine Schönheit. Die Verunsicherung kommt daher, weil sich die Untoten nicht so sehr von den Menschen unterscheiden, auch wenn man sie mit einem Blick zu erkennen glaubt. Neben dem Ende bietet auch die Eröffnungssequenz am Friedhof ein Beispiel dafür. Die Schönheit der Entstellung liegt in ihrer Einsamkeit. Das ist zwar eine alte Oscargewiner-Formel, aber bei Romero ist sie von Vertrauen in die Wahrnehmung des Zusehers beseelt. Keiner sagt uns, dass die Untoten schön sind, wir können es ganz einfach hören. Diese Deformationen hängen natürlich oft am Prinzip des Body-Horrors, aber dass ein solcher Gesichtsverlust auch einer existentialistischen Krise gleich aus einer inneren Veränderung in der Haltung gegenüber Leben und Sterben entstehen kann, zeigt das Vampirgenre, das mit Near Dark von Kathryn Bigelow oder Only Lovers Left Alive von Jim Jarmusch romantisch-melancholisches Bedauern über die eigene Deformation mit sich trägt, auch wenn in letzterem eine abgeklärte Distanz zum Ganzen mitschwingt. Die Verbrennungen, die die Vampire bei Bigelow im Tageslicht erleiden, kommen nicht von der Sonne sondern von einer Veränderung in der Seele der Figuren. Es ist äußerst schade, dass die Regisseurin diese Tatsache in ihrem testosterongesteuerten Actionspektakel im letzten Drittel ignoriert. Jarmusch ist da cooler mit seinen Sonnenbrillen in der Nacht, aber er redet auch sehr gerne über Popkultur. Was bleibt sind die sich verwandelnden Augen von Amy Adams in The Master von Paul Thomas Anderson. Vor allem deshalb, weil der Horror hier ein unkommentierter Albtraum der Realität bleibt.

3. Masken und Verkleidungen

Les yeux sans visage Georges Franju

Eine Möglichkeit des Horrors ist die Verweigerung. Zum einen, weil die Verweigerung selbst schon voller Horror sein kann, zum anderen, weil ein versteckter Horror unserer Imagination freien Lauf lässt und alles, was darstellbar ist, übertrifft. Bezüglich der verlorenen Gesichter des Horrors dienen Masken und Verkleidungen immer wieder als Strategien der Verweigerung. The Devil in Disguise… Sie können besonders angsteinflößend gewählt sein wie jene Masken von Leatherface in The Texas Chainsaw Massacre oder jene von Michael Myers in Halloween. Manchmal ist es auch nur die Überraschung einer Maske, die den Horror auslöst so wie in Cuadecuc, vampir von Pere Portabella. So ist der Anblick der entblößten Illusion in den falschen Augen von Christopher Lee schon selbst wieder eine Illusion, ein Grauen. Es geht dabei um die Verkleidung des Horrors in ein Kleid des Horrors. Natürlich macht es uns auch Angst, wenn sich der Horror unter einer süßen Haut verborgen hält, hinter einer Unschuld wie das vor allem in ¿Quién puede matar a un niño? durchexerziert wird. Der Anblick lächelnder Kinder kann uns hier kein Vertrauen mehr geben. Unsere Wahrnehmung wird gestört. Die Maske des Horrors ist flexibel. Die Verweigerung und Maskierung des Horrors betrifft natürlich auch die Filme selbst. So werden erste Schocks oft sehr lange hinausgezögert und die tatsächliche Begegnung mit dem Horror immer wieder nur angedeutet. Der Off-Screen ist eine Maske für das Gesicht des Genres. Dabei ist es wichtig, dass immer wieder Andeutungen gemacht werden, dass man beispielsweise die Augen unter der Maske und Verkleidung erkennt.

Damit ist das Horrorgenre ein Genre der Identifikationskrise. Wir können den Gesichtern nicht trauen und damit können wir auch dem Kino nicht trauen. Unsere Blicke werden getäuscht, die Logik der Gesichter wird sich auflösen. Emotionen verschwinden oder werden überdeutlich, das Innere kehrt sich nach Außen. Ein Außenseitergenre, weil es von jenen Menschen spricht, die kein Gesicht haben oder es verloren haben. Ein Genre des verlorenen Vertrauens.

Casa de Lava-Caderno: Warum Drehbücher?

Casa de Lava Scrapbook

Jemand hat mir Bilder des Sterbens in die Hände gedrückt. Ich traue mich kaum das Buch zu öffnen. Es sieht aus wie eine zerfallene Schönheit. Es sieht aus wie ein Film.

Es ist das seit einem Jahr veröffentlichte Notizbuch von Pedro Costa zu, nach, für, bei seinem Film Casa de Lava. Pedro Costa hat Angst vor dem dritten Bild. Sein Buch folgt dieser Logik. Wenn zwei Bilder aufeinanderprallen, wie das im Kino ständig und fortlaufend geschieht, dann entsteht ein drittes Bild, jenes das vielleicht nur die Poeten akzeptieren, das aber von keinem Zuseher ignoriert werden kann. In diesem dritten Bild liegt die Tiefe eines Films. In diesem dritten Bild kann alles lauern, man kann es nicht unbedingt kontrollieren. Dieses dritte Bild ist das, was Filme bewegt. Es findet sich aber niemals in Drehbüchern.

Dieses Notizbuch ist für Costa ein besseres Drehbuch.

“It was more or less from that point that I realized that the rhetoric of cinema wasn’t for me. Neither were the social obligations, the technical and artistic diplomacy, the mythology, the fascination, the haste, the money.”

Casa de Lava Caderno

Das Drehbuch als Rhetorik des Kinos, als seine industriell aufgezwängte Vorform. Drehbücher entstehen aus einem Ordnungsdrang, das ist klar. In den besten Fällen ist dies eine Form künstlerischer Struktur, in den schlechtesten kann man an einem Drehbuch ablesen wie viel Gage ein Schauspieler bekommt. Sie scheinen unabdingbar für das Kino, dessen Förderung und dessen finanzielle Entstehung. Man sagt, dass es hilft, um auf ein gemeinsames Verständnis des Films zwischen allen Mitgliedern eines Filmteams zu kommen. Dabei gibt es selbstverständlich unterschiedliche Formen, wobei die klassische, von Hollywood erfundene Form, jene Pseudo-Lehrform dominiert. So, so sagt man, müsse ein Drehbuch aussehen. Man dürfe dieses oder jenes in einem Drehbuch machen, man müsse sich an diese oder jene Regel halten, um ein klares Verständnis, eine einfache Kalkulation und eine Sicherheit zu gewinnen. So funktionieren Drehbücher mit ziemlich großer Sicherheit effektiv für Produzenten und Geldgeber, natürlich auch für manche Schauspieler (sie glauben es zumindest), Kamera und alle Departments, die schön unterstreichen können, was sie betrifft: Ah, hier steht rote Schuhe, wir brauchen rote Schuhe! Wenn man sich nicht daran hält, dann wird man weder ernst genommen noch kann man auf Förderung hoffen. Aber kann man einem Filmemacher diktieren in welcher Form er sich Gedanken machen muss, wenn seine Gedanken und Gefühle in einer anderen Form vielleicht viel stärker, viel tiefer und selbst viel verständlicher zum Ausdruck kommen? Nun könnte man sagen, dass dann eben Film nicht die Ausdrucksform jenes Künstlers ist, aber Film ist nun mal mehr als ein Drehbuch. Ich glaube nicht, dass das was als klassisches Drehbuch bezeichnet wird keine Berechtigung hat, aber ich glaube, dass fast alle Filme, die man aus dieser Form machen kann, gemacht wurden. Nicht umsonst weiß jeder halbwegs ernsthafte Filmemacher, dass er sich von seinem Drehbuch entfernen muss, um einen Film zu machen.

Aber wann kann man sich trauen, so zu arbeiten wie Pedro Costa? Ich fühle mich selbst zu ängstlich. Derzeit schreibe ich an einem Drehbuch, ich arbeite sehr intensiv daran, aber ich merke immer wieder, dass mir die Form fehlt, dass Worte nicht das ausdrücken können, was ich mir mit dem Film vorstelle. Ich will ständig die komplette Form des Buchs überarbeiten, dann denke ich mir wieder, dass es eigentlich in Ordnung ist, so zu schreiben, schließlich müsse man es tun, um an Geld zu kommen, um sich verständlich zu machen. Ich habe aber das Gefühl, dass ich mich missverständlich mache. Es ist ein trauriger Prozess und ich kämpfe um den Mut es anders zu machen. Ich sehe wie meine Kollegen und Freunde an ihren Drehbüchern schreiben, wie sie diese Drehbücher als ihre Arbeit am Film betrachten, wie sie sich damit beschäftigen und beschäftigen und ich sehe auch, dass sie das nicht aus einem industriellen oder zwanghaften Impetus heraus machen sondern aus einer künstlerischen Intention, einem Drang die richtige Erzählform für ihre Geschichten zu finden. Sie schreiben spannende Dialoge, finden im Schreibprozess tolle Situationen und Szenen und schaffen es ihre Ideen in diese Form zu bringen.

Bei mir bezweifelt aber nur jeder Satz die Bilder in meinem Kopf, jedes Wort das Gefühl aus meinem Bauch, jede Struktur meine Idee für einen Film. Ich habe Film gefunden als ich nach etwas gesucht habe, dass mir erlaubt frei zu blicken, zu atmen und zu leben und was ich mehr und mehr finde ist ein Gefängnis aus festgefahrenen Meinungen, die mit objektiven Wahrheiten verwechselt werden, Profilierungsneurotikern und desinteressierten, desillusionierten Zynikern.

Casa de Lava Pedro Costa

Kann mir dieses Notizbuch von Costa vielleicht Mut geben? Ich schlage es auf. Da ich den Film gesehen habe, überwältigt mich sofort eine Erinnerung und eine Neugier. Ich sehe Bilder, die mir etwas sagen und Bilder, die ich nicht kenne. Das Buch besteht aus Fotografien aus Presse und von Künstlern, Zeitungsschnipseln, Abbildungen von Gemälden und Fußballtrikots, kleinen poetischen Passagen, Notizen, Zeichnungen, Screenshots aus Filmen, es ist in gewisser Weiße ein Moodboard. Costa erzählt in einem beiliegenden Interview, dass sein Tonmann den Film habe hören können durch das Buch. Nach dem Dreh habe dieser zu ihm gesagt: Well, it was all in the book.

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Costa nur einen Nebelschleier um seine Arbeit hüllt und nicht eigentlich im gleichen Gefängnis haust. Denn mir ist klar, dass dieses Gefängnis überall ist. Costa liebt das Mysteriöse im dritten Bild, er liebt das dritte Bild als seine Arbeit daran. Manchmal habe ich Angst, dass mich das alles überfährt. Ja, ich mag seine Filme und ich mag die Filme vieler Filmemacher und man muss aufpassen, dass man seine eigene Sprache sucht und nicht jene von anderen inmitten seiner Cinephilie. Man lernt das Sehen durch Filme, aber man muss es auch außerhalb von Filmen anwenden. Das ist ein harter Prozess, weil ich von der falschen Seite komme. Ich muss lernen mich zuerst für die Welt zu interessieren, dann für den Film. Aber ich kann die Welt auch mit Film sehen. Nun mache ich mir nicht nur Gedanken über die Sinnhaftigkeit von Drehbüchern, weil Costa es tut. Zum einen ist er nicht der einzige und zum anderen schreibe ich aus eigener Erfahrung.

Man schmeckt den Film, wenn man sein Buch in der Hand hält. Man muss dazu sagen, dass dieses Buch-wie alles von Costa-eine Fiktion ist. Es wurde nachträglich verändert und konstruiert. Dennoch besteht es aus Elementen, die der Filmemacher im Prozess der Drehvorbereitung gesammelt hat. Im Endeffekt hat er die Reihenfolge verändert. Aber die verändert das dritte Bild, also alles. Ich glaube, dass man eine Versuchung braucht, um einen Film zu machen. Damit meine ich eine Liebe, eine Wut, eine Angst. Ich sehe das alles auf der ersten Seite des Buches. Die Passage eines Todes über Wasser, die Einsamkeit eines Gefühls, Frauen und ihr Sterben in unserem Leben. Wie verändert der Tod unser Gesicht? Ingmar Bergman hat mal gesagt, dass das absolut Beste in der Kunst das menschliche Gesicht in Bewegung sei. Wir werden von traurigen Augen angesehen im Buch, Les Yeux Sans Visage…Costa castete Edith Scob, deren Gesicht für immer verschwand bei Georges Franju und im Kino. Man fühlt sofort welchen Film Costa machen wollte.

Casa de Lava Caderno

Die Augen sterben, es geht um Krankheit und Zerfall. Auf einer Seite ruht ein Vulkan unter einem von Krankheit zerfressenen Gesicht. Daneben der Liebesbrief „Nha Cretcheu“, den Costa in seinem Juventude Em Marcha immer wieder sagen lässt. Eu gostava de te oferecer 100,000 cigarros…eine Sehnsucht für den Film entwickelt sich, es ist eine Liebesgeschichte. Gesichter von Frauen, dabei immer wieder die Maske von Edith Scob, die Augen ohne Gesicht. „Les Egyptiens n’aimaient pas morurir“, ein Zeitungsartikel, der sich mit dem Öffnen von Mündern der Toten und der Wahrnehmung des Todes im alten Ägypten beschäftigt.

Bislang waren alle Münder geschlossen im Buch.

Ganz unten ein weiteres Stück Zeitung: Ou comment éviter la seconde mort. (Oder wie man einen zweiten Tod vermeidet)

Es trifft mich wie einen Schlag, wie ein Schnitt. Das ist ein Schnitt, ein Plot-Point, eine Erkenntnis. Wenn die Kamera, wie André Bazin sagte, wie kein anderes Instrument der Repräsentation Zuneigung ausdrücken kann, wieso sollte man diese filmische Macht dann nicht auch in einem Drehbuch verfolgen? Man mag argumentieren, dass bei dem Vorgehen, das Costa nach Casa de Lava tatsächlich mehr und mehr für seine Drehs und Drehvorbereitungen (das fließt ineinander) anwendete eigentlich niemand weiß, was passieren wird. Aber weiß man das bei einem Drehbuch oder sperrt man sich eigentlich nur ein? Und vor allem: Warum sollte man es wissen?

Wie muss man sterben, damit man erlöst wird? Diese Frage stellen die Collagen. Tote Augen, sie bewegen sich nicht mehr. Aus der Dunkelheit sehen wir die Pupillen. Immer wieder Krankheiten. I walked with a Zombie von Jacques Tourneur. Diese Augen. Auch die Collagen erzeugen ein drittes Bild. Costas Scrapbook sucht nach dem dritten Bild in seinem Film. Es vermag dem Betrachter klarzumachen, was er an Essenz im Film sehen wird. Dann abstrakte Malerei. Farben, Stimmungen, alles ist da. Man muss die Bilder nicht verstehen, man muss sich nicht kennen, sie müssen nicht funktionieren oder irgendwelchen rationalen Gedanken folgen. Die Rationalität eines Films ist eine andere als jene eines klassischen Drehbuchs. Das ist ein Widerspruch, den eigentlich jeder Filmemacher aufheben muss. Es gibt verschiedene Methoden. Man kann natürlich eher Stimmungen beschreiben, vielleicht in lyrischer oder in Prosaform. Auch kann man die visuellen Informationen und/oder Metaebenen in seinen Drehbüchern mitnehmen, sie eingliedern. Man kann stichpunktartig Bilder beschreiben. Man kann nur Dialoge schreiben. Aber man muss einer anderen Logik folgen als jener der Realität, als jener des Theaters und als jener des Kopfes.

Casa de Lava Scrapbook
Vor kurzem habe ich mich mit einem Drehbuchautoren darüber unterhalten, dass sich Filmvermittler wie Henri Langlois und Peter Kubelka bekanntermaßen dafür einsetzen/eingesetzt haben, dass auch fremdsprachige Filme ohne Untertitel gezeigt werden. Der Autor regte sich sehr darüber auf. Er sagte, dass man die Worte nicht einfach aus einem Film eliminieren könnte. Das würde seine ganze Arbeit zerstören. Hier liegt ein Sprung, denn auf der einen Seite verstehe ich ihn vollkommen, weil die Bedeutung mancher Worte tatsächlich essentiell für die Wirkung eines Films sein kann, aber dann weiß ich auch, dass das dritte Bild eines Films immer ohne diese Worte funktioniert, ohne ein sprachliches Verständnis. Es gibt ein filmisches Verständnis. Wir hatten diese Diskussion auch im Rahmen von Jugend ohne Film vor einigen Wochen nach dem Screening von Flowers of Shanghai von Hou Hsaio-Hsien. Rainer meinte nach dem Film, dass er irgendwann aufgehört habe, den Untertiteln zu folgen, weil die Wahrheit des Films (so würde er es nicht formulieren) im Rhythmus, den Bildern, den Figuren, dem Licht gelegen habe. Andrey dagegen meinte, dass man nicht einfach ignorieren darf, dass da was gesagt wird und dass sich in jedem Fall die Frage nach dem: Was reden die da?, stellen würde. Seiner Zeit habe ich zunächst Andrey beigepflichtet, obwohl mir Rainers Aussage in ihrer Romantik sympathischer schien. Heute würde ich sagen, dass es zwei Wahrheiten gibt im Film. Zwei Herzen, ein zweiter Tod. Rainers Aussage folgt dem Film selbst und dessen Fähigkeit das dritte Bild zu bewegen, Andreys Aussage folgt dem Betrachtungsmodus und sagt, dass es da ein erstes und ein zweites Bild gibt und man nicht einfach ignorieren kann wie diese funktionieren. Die Frage ist also weniger eine nach wahr oder falsch sondern vielmehr nach der eigenen Wahrnehmung. Film ist sowieso größer als man selbst.

Wenn ich also mit mir kämpfe, dann ist das kein theoretischer Kampf auf der Suche nach einer überlegenen Form sondern einfach die Suche nach einer Form, die meiner Wahrheit entspricht. Es ist weitaus einfacher, darüber zu reflektieren als es letztlich umzusetzen. Denn, wenn die Wahrheit nicht in den vorgefertigten Mustern funktioniert, dann wird man damit leben müssen, dass man nicht verstanden wird, dass man nicht gefördert wird, dass man nicht gesehen wird.

Und wenn Film in der Lage ist ganz bei sich zu sein (es gibt auch tolle nicht-filmische Filme), dann brauchen sie sicher keine Untertitel. Man wird die Worte trotzdem hören.

A Midsummer Night’s Dream: Costa markiert Dinge, andere streicht er durch. Da ist wieder seine Verweigerung, die uns fasziniert. Weil es eben nicht darum geht, alles zu verstehen, sondern gerade darum, Dinge auszulassen, Dinge zu verweigern. I scent human blood, and smile, ein rotes Kunstwerk, schwarz-weiße Szenenbilder und ein Hund mit abgeschnittenem Schwanz auf etwas, das aussieht wie ein jüdisches Denkmal. Wir sehen Tania, ein 14jähriges Mädchen mit kurzen Haaren. Sie wurde von einem Mann attackiert, der ihre neuen Schuhe gestohlen hat. Nachdenkliche Gesichter. Costa interessiert sich für die Haut, die Regungen, den Tod, der durch alles sieht.

Casa de Lava Scrapbook

Plötzlich Bilder vom Krieg. Ein landendes Flugzeug, ein farbiges Bild von einem Hilfskonvoi. Dazu Drehbuchschnipsel, kleine Dialogfetzen. Natürlich entsteht eine Faszination auch daraus, dass ich oft nicht weiß, was dieses oder jenes Bild darstellt, woraus dieser oder jener Auszug aus literarischen Texten oder dieser oder jener Screenshot stammt. Das macht aber nichts, denn es geht nicht um die einzelnen Bilder, sondern nur wie sie zusammen klingen. Zu oft wird in Besprechungen des Drehbuchs und auch am Set mit Kameramännern das einzelne Bild ohne den Gedanken an das andere Bild, das vorhergehende oder das nachfolgende betrachtet. Als würde ein einzelnes Bild, ein einzelner Satz, eine einzelne Geste schon ein Film sein. Es ist, wie Adrian Martin einmal formuliert hat, der Übergang von Tag und Nacht, der Übergang von Lächeln und Ernsthaftigkeit, das Transzendieren und Dynamisieren von Räumen, die zwischen den Bildern entstehen, was einen Film ausmacht. Wenn jemand im ersten Bild blickt, dann wird das zweite Bild dadurch verändert.

Abstrakte Form. Ein Junge, vermutlich von den Kap Verden steht in einem expressionistisch anmutenden Bild im Schatten. Jemand hat seine Hand zärtlich auf seinen Kopf gelegt. Daneben ein Gemälde. Es scheint ähnlichen Formgesetzen zu folgen. Aber an der Stelle des Jungen erscheint ein Skelett. Wieder so ein Plot-Point. Verlorene Jugend, Sterben. Es gibt eine politische Konnotation. Menschen rennen, wieder ein Flugzeug. Die Geschichte der ehemaligen portugiesischen Kolonie wird greifbar. Nicht die Fakten dahinter sondern die damit verbundenen Gefühle. Kein Text könnte das derart präzise widergeben. Soldaten und Rock’n Roll…Post Punk Bliss: Twist and Shout.

Dann kommt plötzlich wieder jene unschuldige Liebe ohne die man kaum schreiben kann. Das spannende ist ja, dass erst durch unsere Wahrnehmung des dritten Bildes die anderen Bilder an Schönheit und Bedeutung gewinnen. Sie treffen dann auf uns wie ein Blitz. Jacques Tourneur, Charlie Chaplin oder Bruno Dumont sind Meister dieser Bilder, die vor einem geboren werden, weil sie wie eine Offenbarung aus dem vorherigen Bild erleuchtet werden. Wenn sie da sind, ist das eine Erkenntnis. Es sind Geister, die schon immer da waren. Man kann sie nur fühlen und wenn man sie dann sieht, ist es wie mit einem Spiegel. Man sieht alles und nichts. In der Mitte findet sich die Postkarte, die laut Costa ursprünglich ganz am Anfang seines Buches war. Showing GHOSTS! Everywhere and of any colour…

Ein Bild von Issach de Bankolé irgendwo zwischen einsamen Rollstuhlfahrern. Das Casting wird mit integriert in diese Filmwelt des Buches. Tortura! Die Bewegungslosigkeit, Machtlosigkeit, der Film bekommt eine Bewegung vor unseren Augen. Kranke Menschen liegen auf Betten. Bilder aus Zeitungen von spielenden Mädchen an der iranischen Grenze werden mit Beauty-Shots aus Modemagazinen kombiniert. Vergänglichkeit, Hoffnung, zwei Welten, zwei Leben, Distanz, alles steht da. Costa klebt eine Mauer über ein Gesicht.

Casa de Lava Pedro Costa

Natürlich folgt eine Collage wieder einer eigenen Logik, die eigentlich nicht jene des Films ist. Eine offensichtliche Verwandtschaft mit der Montage, die Tatsache, dass man Bilder, Texte und Leerstellen lassen kann, rechtfertigen aber zumindest die Vorgehensweise. Dennoch ist wie beim klassischen Drehbuch die Melodie, die Präzision, die Stimme des Autors entscheidend. Diese zu finden, ist ein Prozess der Einsamkeit. Sobald man glaubt, dass man fertig ist, hat man verloren. Deshalb habe ich auch Schwierigkeiten mit der klassischen Drehbuchform. Sie wirkt so abgeschlossen, sie untergliedert sich. Warum untergliedert sie sich? Aus praktikablen, industriellen Gründen, nicht im Ansatz aus Gründen, die mit dem Film zu tun haben. Eigentlich laufen Filme vor unseren Augen. Wie kann man das in einem Drehbuch vermitteln? Dadurch, dass man fesselnd schreibt. Aber was hat ein fesselnder Schreibstil mit dem Film zu tun? Niemand kann mir erzählen, dass die filmische Sprache auch nur im Ansatz etwas mit der schriftlichen Sprache zu tun hat. Das erfährt jeder Drehbuchautor spätestens, wenn seine in Papierform gut klingenden Dialoge plötzlich falsch erklingen. Das bedeutet nicht, dass es nicht filmische Pendants für Sprache gäbe. So haben die Coen-Brüder in ihrem No Country for Old Men zum Beispiel Bilder, Schnitte, Töne und Stimmungen gefunden, die jener der Worte von Cormac McCarthy entspricht. Selbiges ist John Hillcoat in seinem soliden The Road nicht gelungen. Die Collage ermöglicht also auch, die Bewegung eines Films zu empfinden. Wenn man dieses Buch von Costa einmal in den Händen gehalten hat, erscheint es absurd Filme ohne Bilder zu schreiben.

Es geht um die medizinische Versorgung in Afrika. Hier trifft Spiritualismus auf Industrialisierung. The Horse and the Money. Es ist ein Glaubensverlust. Der Blick geht zum Himmel, das klinische Weiß eines Krankenhausflurs, ein Friedhof im Lava-Staub vor malerischer Kulisse, eine einsame Frau mit einem weißen Kleid. Die Medizin schreitet voran. Wir sehen Labormenschen, Anzugmenschen, sie machen Versuche mit Afrikanern oder sind Afrikaner, die Versuche machen. Es geht um Epidemien, die fehlende Versorgung. Ängste. Immer wieder gibt es Bilder von Baustellen. Figuren, die sich in luftiger Höhe bewegen. Vertigo, ist da ein Unfall, ist da nur eine Angst, ein Traum, das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren? Costa klebt kleine Bilder der Trikots englischer Fußballmannschaften neben die Baustellen und dazwischen steht ein kleiner Text über die ägyptische Kunst und ihre Verbindung mit dem Tod.

Über was spricht man, wenn man stirbt? Jemand berührt diese harte Arbeit, diese Unerbittlichkeit mit seinen Fingerspitzen. Alle haben Gänsehaut. Man spürt die Gänsehaut im Kino. Vielleicht ist es sowieso zu viel verlangt. Vielleicht nehme ich das Drehbuch zu ernst. Denn ziemlich sicher ist, dass diese Gefühle auch und sehr oft aus Filmen erwachsen, die in klassischer Form geschrieben wurden. Ich kenne viele Filmemacher, die sagen würden, dass dieser oder jener ein Film ist, bei dem alles schon im Drehbuch war, die sagen würden, dass man von den guten Drehbüchern alles lernen kann. Aber für mich haben all diese guten Drehbücher immer nur dann funktioniert, wenn ich vorher den Film gesehen hatte. Bei Drehbüchern, die ich vor dem Film gelesen habe, haben sie mich im besten Fall für den Film interessiert. Aber darum geht es wohl. Nur warum muss es dann in eine solche Form gegossen sein? Ich wiederhole mich, aber ich verstehe die Gründe dafür, sie sind nur belanglos für die Filme. Vielleicht kann ich auch einfach keine Drehbücher lesen und schreiben oder ich habe es noch nicht lange genug versucht.

Casa de Lava Caderno

Jetzt zieht es Costa in die Wüste. Nomaden und hoher schwarz/weiß Kontrast, der Staub wandernder Gestalten. Weltreisende der Filmgeschichte zwischen Hiroshima, den Kap Verden und dem Unbekannten; die Melancholie der Reise. Die Wanderung endet in der Massenvernichtung. Wo sind meine Verwandten? Auf einem anderen Kontinent, du kannst ihnen schreiben. Das Buch wird auch zu einem ethnographischen Dokument. Das Setting des Films ist hier. Man muss verstehen, dass dieses Buch nicht-wie das mit Drehbüchern oft ist-ein Zulieferer ist sondern ein autonomes Stück Ausdruck und Kunst. Bestenfalls sind das Drehbücher auch, aber wie viel Seele kann etwas haben bei dem man schreibt: Innen.Tag—Wohnzimmer? Das kommt mir falsch vor. So ist es nicht, wenn man an einem Tag in seinem Wohnzimmer sitzt und so ist es auch nicht für die Figuren. Die Schönheit der Insel, die Landschaft, Casa de Lava ist ein ethnographischer Landschaftsfilm, eine Geisterstudie, ein Film über Sterben und Einsamkeit, ein Gedicht über die Schönheit der Frauen. Menschen halten sich. Es geht um Fürsorge, um Zärtlichkeit, Liebe in Zeiten des Sterbens. Wir finden Iñes Medeiros, eine jener Costa Frauen, sie sind Mütter, sie sind immer Mütter und tragen das Geheimnis all ihrer Kinder in sich. Tintenkleckse zwischen den Fotos, die Zeichnung einer nackten Frau, immer anmutig, nie gierig.

Die Beschreibung eines Lebens auf der Straße mit Krankheit aus einem Buch: It’s never dark. The street light shines through the thin blue plastic. Es geht um die Außenseiter, um die Bettler und Ausgestoßenen. Kranke, arme Menschen. Aber Costa blickt nicht primär auf soziale Umstände sondern auf die Seele, die Erinnerung, die Trauer dahinter. Eine Frau sitzt mit einem Kleinkind im Arm in einem Lichtstrahl. Würde behalten, Weiblichkeit behalten.

Man hat das Gefühl, dass ein Wind durch dieses Buch weht. Er verbindet Landschaften, Menschen und die Herstellung eines Films. Ein Interview mit Edith Scob, Schauspielen sei ein komischer Beruf. Wieder ein Sterben, harte Arbeit, Sehnsucht. Davon können Filme sprechen. Am Ende gibt es einige leere Seiten. Es endet nicht. Es kommt mir jetzt vor wie ein Aufruf an mich. Man kann es anders machen. Man kann suchen und arbeiten. Man muss es tun. Ich bin normal nicht dafür einen solchen Prozess öffentlich zu teilen, aber in diesem Fall ist es für mich als würde ich mir selbst sagen, dass es geht. Und das ist es wert. Indem ich es aufgeschrieben habe und nochmal erfühlt habe, indem ich es Stück für Stück durchgeblättert habe, hat mit Pedro Costa mit diesem Buch wieder gezeigt, dass ich noch viel stärker sein muss, dass ich noch viel konsequenter sein muss und dass es für meine theoretischen Gedanken und Gefühle bezüglich Film, die ich hier seit längerer Zeit äußere, ein praktisches Äquivalent gibt. Und an diesem Lavahaus aus Film werde ich weiter bauen.

Mädchen und Häuser: Eine Krankheitsgeschichte

Ana in El espíritu de la colmena

Die vier Filme, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde stellen keine definitive Auswahl dar. Sujets wie alte Häuser und hilflose Mädchen sind dem Horrorgenre alles andere als fremd (wie man an den Beiträgen zur Horror-Retrospektive hier am Blog leicht erkennen kann). Dieser Text ist ein Vorschlag, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Filmen man ziehen kann und ganz bewusst handelt es sich bei zumindest drei der vier Filme um keine Vertreter des Horrorgenres (wenngleich sie alle Aspekte des Genres beinhalten). Wenn man so will ist der Text eine Anamnese eines jungen Mädchens, das in verschiedenen Altersstufen (und die vier Rollen lassen sich rein altersmäßig in etwa chronologisch ordnen) verschiedene Ausprägungen mentaler Probleme erlebt.

Angelos umgebauter "Prunksaal" in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Spanien, 1940. In honigfarbenem Licht erstrahlen die Hallen des Herrenhauses in dem die sechsjährige Ana lebt. Im kastilischen Hinterland lebt sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Isabel, noch zu jung um vollends zu verstehen was in ihrem Land gerade vor sich geht. In El espíritu de la colmena, noch zu Lebzeiten des Diktators Francisco Franco entstanden, widmet sich Regisseur Víctor Erice der Psyche dieses kleinen Mädchens und erzählt gleichsam parabelhaft vom Horror des Lebens unter einem faschistischen Regime. El espíritu de la colmena ist nicht nur einer der schönsten Filme der Kinogeschichte, sondern lässt sich auch nahtlos in eine ganze Reihe anderer Filme einordnen, die Beziehungen zwischen kleinen Mädchen und ominösen Vaterfiguren in mysteriösen alten Gemäuern verhandeln. Anhand von vier Beispielen will ich eine Genealogie von Filmen dieser Art ziehen, die sich wohl ohne weiteres noch durch dutzende andere Filme erweitern ließe. Erices modernes Gruselmärchen dient mir dabei als Ausgangspunkt. Der Spanier, dessen Gesamtwerk leider nur drei abendfüllende Spielfilme umfasst, hat eine besondere Beziehung zu Gebäuden als Orten. In allen seiner Filme spielt das Haus als mystischer Ort und die Beziehung zu seinen Bewohnern eine wichtige Rolle. Im Nachfolgefilm und Gegenstück zu El espíritu de la colmena, dem formidablen El Sur zieht eine spanische Familie in den Süden, in die Heimat des Vaters, wo im Verlauf des Films die Dynamiken zwischen Vater, Haus und Tochter ergründet werden. In El Sol del Membrillo zeigt Erice den Maler Antonio López Garcia dabei wie er versucht den Quittenbaum in seinem Garten zu zeichnen während Bauarbeiter sein Haus renovieren. In Erice Segment des Omnibusfilms Centro Histórico lässt er ehemalige Fabrikarbeiter in einer stillgelegten Textilfabrik über die Vergangenheit dieses Orts sinnieren, in La Morte Rouge sinniert er selbst über seine eigenen Anfänge als Kinogänger. Selbst in Alumbramiento, Erices Beitrag zu Ten Minutes Older: The Trumpet spielt eine Familie und ihr Haus eine wichtige Rolle. In keinem dieser Filme aber, wird das Haus so lebendig wie in El espíritu de la colmena.

Ana im honigfarbenen Licht von El espíritu de la colmena

El espíritu de la colmena

Anders als in den anderen Beispielen, die ich noch anführen werde ist das Haus hier noch ein Ort von Geborgenheit, von Wärme, eine sichere Zuflucht vor den eisigen Winden der kastilischen Hochebene. Wie der Name des Films schon andeutet, und was visuell durch Licht und Szenenbild noch verdeutlicht wird, bedient der Film die Metapher des Bienenstocks. Im Haus ist Ana sicher, dort kann ihr nichts passieren, nur wenn sie das Haus verlässt, um ins Kino, in die Schule – oder später – zu einem verlassenen Bauernhof zu gehen, gibt sie sich der Gefahr preis. Wobei von Gefahr im engeren Sinne eigentlich kaum die Rede sein kann; echtem Horror, echtem Schrecken und echter Gefahr wird die Tochter aus gutem Haus nie tatsächlich ausgesetzt. In ihrer Fantasie jedoch, inspiriert durch James Whales Frankenstein, sieht sich Ana einem Monster Frankenstein’scher Prägung ausgesetzt. Der Horror, wenn man überhaupt davon sprechen will, denn El espíritu de la colmena ist kein Horrorfilm im engeren Sinne, spielt sich auf einer rein subjektiven, psychologischen Ebene ab. Erice präsentiert die Welt zwar aus der Perspektive des Mädchens, abgesehen von einer ikonischen Szene, blicken wir allerdings nie tatsächlich durch ihre Augen. Wie sehr sie sich fürchtet – oder auch nicht – können wir also stets nur an ihren Reaktionen zu ihrer Umwelt erkennen, da uns der Blick in „ihre Welt“ verwehrt bleibt.

Ivana Baquero als Ofelia in El laberinto del fauno

El laberinto del fauno

Anders verfährt der Mexikaner Guillermo del Toro in El laberinto del fauno. Del Toro, der El espíritu de la colmena als Inspiration für seinen Film angegeben hat, hat ein beträchtlich höheres Budget zur Verfügung als Erice und zaubert in bester del Toro-Manier eine grandiose Fantasiewelt auf die Leinwand. Unabhängig einer möglichen Wertung, ob es besser sei eine Fantasiewelt bloß anzudeuten und die Imagination des Publikums zu testen oder sie voll ausgearbeitet zu präsentieren, stellt El laberinto del fauno eine Weiterentwicklung zu El espíritu de la colmena dar. Die Protagonistin Ofelia, ein paar Jahre älter als Ana aus El espíritu de la colmena zieht zu ihrem neuen Stiefvater, dem franquistischen Hauptmann Vidal, in ein altes Herrenhaus, das ihm als Hauptquartier auf einer Expedition gegen anti-faschistische Partisanen dient. Der Film entstand dreißig Jahre nach dem Untergang des franquistischen Regimes und demgemäß muss del Toro sich keiner Parabeln bedienen um den Schrecken des faschistischen Apparats zu bebildern. Blutig und grausam wird gemordet und gefoltert – all das vor den Augen von Ofelia, die sich schon bald in eine Fantasiewelt flüchtet. In einem verfallenen Labyrinth neben dem Haus findet sie eine Welt voller fantastischer Kreaturen vor. Diese Fantasiewelt und ihre Bewohner sind dank Computeranimation, Make-Up und Animatronic in voller Pracht auf der Leinwand zu sehen. In El laberinto del fauno wird der Blick auf die Leinwand ein Blick durch Ofelias Augen. Mit dieser Entscheidung zeigt del Toro einerseits mehr, andererseits verschließt er sich dem viel realeren Horror außerhalb von Ofelias Fantasiewelt. Die Bebilderung der Grausamkeiten der franquistischen Truppen wird durch die Einblicke in Ofelias Welt verdrängt. Der Horror wird hier also gleichsam realer (weil visuell fassbar), wie irrealer (weil dem Blick der Horror der realen Welt vorenthalten wird).

Das Haus in Tideland

Tideland

Terry Gilliams Tideland, das einzige nicht-spanischsprachige Beispiel in meiner Aufzählung, mag da wie ein Rückschritt anmuten. Tideland ist der bis dato wohl makaberste Film des exzentrischen Filmemachers (und das will was heißen) und das obwohl er weitaus weniger Spezialeffekte einsetzt als in den meisten anderen seiner Filme und Tideland dementsprechend billiger produziert werden konnte. Tatsächlich entstand der Film während des Streits mit den Weinstein Brüdern über die Post-Production von Gilliams früherem Projekt The Brothers Grimm, der schlussendlich erst nach Tideland ins Kino kam und wurde insgesamt wenig beachtet. Wenn der Film mehr Beachtung gefunden hätte, wäre womöglich die Rezeption von El laberinto del fauno anders verlaufen, denn die vielgepriesene düstere und makabre Atmosphäre der Märchenvariation del Toros wird durch Tideland noch übertroffen. Um diesen Effekt zu erzielen geht Gilliam wiederum auf Distanz. In einem heruntergekommenen Haus stirbt die Mutter von Jeliza-Rose. Sie war genauso wie der Vater Noah drogenabhängig. Um nicht wegen Drogenbesitzes verhaftet zu werden flieht Noah mit Jeliza-Rose in sein verfallenes Elternhaus nach Texas. Dort angekommen setzt er sich ungewollt den „Goldenen Schuss“ und lässt seine Tochter auf sich allein gestellt zurück. Sitzend auf seinem Lehnstuhl wird Noah im weiteren Verlauf des Films zur Requisite, denn Jeliza-Rose, an längere mentale Abwesenheit der Eltern gewöhnt, lebt einfach an der Seite ihres langsam verwesenden Vaters vor sich hin. Es zeigt sich eine tiefe pathologische Störung in der Psyche des Mädchens, der man als Zuseher erst nach einiger Zeit gewahr wird. Dann nämlich wenn sie beginnt mit ihren Puppen, ihrem toten Vater und den Tieren im Garten zu interagieren. Gilliam verwehrt seinem Publikum jedoch den Blick in diese Fantasiewelt und nimmt die Position des Beobachters ein, verzichtet also wie Erice auf den Blick durch die Augen der Protagonistin. Das Resultat ist trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, umso bedrückender und umso makabrer. Nicht immer kann man klar unterscheiden ob sie in ihren Spielen in der realen Welt oder in der Fantasiewelt weilt, ebenso verhält es sich mit den Gesprächen mit dem halb-verrückten Geschwisterpaar der Nachbarsranch. Hier entstammt der makabre Schauer dem Umstand, dass man die realen Vorgänge zu sehen bekommt, aber nicht die eskapistische Fantasiewelt, also genau umgekehrt wie in El laberinto del fauno.

Angelo und der Doktor in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Abschließend, und dieser Film war eigentlich der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, will ich mich Agustí Villarongas Tras el Cristal zuwenden. Von allen vier Filmen ist Tras el Cristal der einzige, der sich relativ problemlos im Horrorgenre einordnen lässt. Der Katalane Villaronga erzählt darin von einem sadistischen Nazi-Doktor, der im Krieg Experimente an Kindern durchführte und nun nach einem Unfall an eine Eiserne Lunge gefesselt ist und als Pfleger eines seiner ehemaligen Opfer anstellt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber weder der Doktor, noch seine Tochter, sondern der Pfleger Angelo, der langsam wahnsinnig wird. Zunächst scheint es so als hätte der junge Mann das Trauma seiner Kindheit überwunden und will bloß Rache an seinem früheren Peiniger üben. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, dass der Doktor in Wahrheit eine anziehende Wirkung auf Angelo ausübt. Diese Anziehungskraft geht so weit, dass Angelo den Platz des Doktors einnehmen will. Er kleidet sich in dessen alte Uniformen, rezitiert aus seinem Tagebuch und stellt schließlich sogar die Gräueltaten des Doktors mit Kindern aus dem Dorf nach. Visuell schreckt Villaronga nicht davor zurück diese Kindermorde (und die dazugehörigen pädophilen Spiele) sehr grafisch zu bebildern. Gleichzeitig baut Angelo, nachdem er die Mutter getötet hat, das Haus der Familie zu einer pervertierten Festung um. Irgendwann erkennt der Doktor, dass dieses Spiel nur mit seinem Tod enden kann und endlich rät er seiner Tochter Rena zur Flucht. Doch die Flucht misslingt – Rena ist bereits Teil des Spiels – sie unterliegt der Anziehungskraft des charismatischen Angelos und wird schließlich sein Nachfolger. Bei Tras el Cristal handelt es nicht um eine trashige Nazi-Klamotte, sondern um eine Studie psychischen Verfalls. Dieser Verfall betrifft in diesem Fall in erster Linie nicht das Mädchen selbst, wie in den anderen Filmen, sondern den Pfleger Angelo. Renas Probleme treten erst nach einiger Zeit zu Tage – trotz eindeutiger Hinweise, dass Angelo die Mutter getötet hat, mehrere junge Buben verschleppt und den Vater dahinvegetieren lässt, bleibt sie im Haus, das zunehmend zu einem Ort des Schreckens wird (nicht bloß metaphorisch, sondern durch Angelos Umbauten auch visuell). Sie verzichtet, womöglich aus Bewunderung für Angelo oder weil sie sich von ihm sexuell angezogen fühlt, darauf zu fliehen oder Alarm zu schlagen und verbleibt an seiner Seite. In Tras el Cristal sind die beiden Ebenen der Fantasiewelt und realen Welt nun nicht mehr zu trennen. Angelo baut sich seine Fantasiewelt in realiter nach, stellt die Szenen seiner Erinnerung und seiner Vorstellung im echten Leben nach. Der Wahnsinn nimmt überhand und wird zum konstitutiven Prinzip des Films – visuell wie psychologisch.

Land of the Dead: The Fly von David Cronenberg

The Fly:Seth Brundle, ein Wissenschaftler, ein bisschen nerdig, lustig, besessen (Jeff Goldblum at his prime) entwickelt ein Verfahren zur Teleportation. Er lernt die Journalistin Veronica kennen, die er eigentlich für sich faszninieren will, aber gleichsam für sein Projekt begeistert. Er treibt es immer weiter mit seinen Versuchen und nach ersten Erfolgen setzt er sich selbst, betrunken ob Liebeskummer in seine eiförmigen Maschinen und bemerkt nicht, dass mit ihm eine Fliege in die Kammer geraten ist. Es kommt zu einer Fusion von Mensch und Fliege. Zunächst merkt Seth das kaum, aber mehr und mehr entwickelt er erstaunliche Fähigkeiten und Kräfte (im Peter Parker Modus) und schließlich kommt die Fliege aus ihm heraus, er wird immer mehr zum Insekt. In einem spannenden Perspektivwechsel, der gleichsam dem Zuseher und Veronika gilt, muss diese sich nun fragen, ob sie in der Fliege den Menschen sieht oder ob sie im Menschen eine Fliege sieht. Cronenberg erzählt diese Geschichte, die von Charles Edward Pogues Drehbuch sehr konventionell aufgebaut wird, mit einem besonderen Blick auf sexuelle Ängste, die natürlich in den 1980er Jahren auf ein besonders lautes gesellschaftliches Echo stießen, den Horror, der in einem selbst erwacht und Fragen nach Menschlichkeit, Schicksal und allem was man so an großen Themen abhandeln kann in SciFi-Horror-Filmen.

La méthode Cronenberg sucht immer das Merkwürdige und Andere im Bild. Seien es Objekte, die man im ersten Moment unerklärlich findet, Einstellungen, welche die kinematographische Realität deformieren oder unerwartete Bewegungen, die aus den Körpern und Körperlichkeiten der Protagonisten entstehen und oft in Schocks enden. In diesem Sinn ist Cronenberg sicherlich einer der definitiven Horrorregisseure. Dabei bedient er sich in The Fly sämtlicher Konventionen der kommerziellen Filmsprache. Seine Figuren existieren nicht über die zwei Relationen, die ihnen im Film gegeben werden, das Setting besteht rein aus Handlung, jede Bewegung, jeder Schnitt soll etwas erzählen. Besonders stark merkt man das beim unsensiblen Einsatz von Bombast Musik von Howard Shore. Diese versucht, aus jeder kleinen Szene noch irgendeine große Emotion zu kitzeln. Cronenberg lässt seine Figuren die gesamte psychologische Welt im Dialog klären, er löst das mit einfachen Schuss-Gegenschuss Konstellationen auf, die er manchmal mit seiner Vorliebe für Dutch-Angle Perspektiven bricht. Ähnlich wie Veronika kann sich der Zuschauer fragen, ob er lieber im Kommerz die Kunst sucht oder in der Kunst den Kommerz. Es ist dies jedenfalls ein Film, in dem ein Regisseur um seine Individualität kämpft und trotzdem alles dafür tut den Massenmarkt anzusprechen.

Jeff Goldblum in The Fly

Das Individuelle an Cronenbergs Handschrift sind sicher seine Vorliebe für den extremem Body-Horror, die er bis zur Grenze übersteigert und sein trockener Humor, der vor allem in Dialogen mit einem schon total deformierten Seth zum Tragen kommt. Dabei ergibt sich ein Bild, indem Subtilität wenig Platz hat. Denn sowohl Cronenbergs Handschrift als auch die Gesetze des Massenmarkts fordern eine Klarheit und Forciertheit von Themen und Bildern, die oft ein wenig anstrengt. Weitaus frappierender erscheint mir allerdings die Liebesgeschichte im Film. Als ich nach dem Screening gelesen hatte, dass Darstellerin Geena Davis tatsächlich mit Jeff Goldblum verheiratet war, bin ich erschrocken. Denn zwischen den beiden existiert fast keinerlei Zuneigung im Film, man könnte sagen: Die Chemie stimmt nicht. Dabei spreche ich nicht erst von den späten Szenen, die nach dem Muster „Die Nichtssagende und das Biest“ ablaufen könnten sondern sogar von den Szenen, in denen sich die beiden verlieben. Alles wirkt unglaublich steif und aufgesetzt und Cronenbergs Körperlichkeit übt keine Faszination auf die Blicke der Liebenden aus. Es scheint mir oft so als würde sich die Kühle von Cronenberg nicht mit seinen romantischen Beziehungen vertragen. Einzig das von Viggo Mortensen und Maria Bello verkörperte Paar in A History of Violence hat mich bei ihm bislang völlig überzeugt.

“It’s about mortality and the way that we deal with it and try to understand it and philosophies and emotional attitudes that we develop towards it.” Große Ideen, die Herr Cronenberg da hat. Sie finden auch ihren Weg in den Film, denn Cronenberg vermag Bilder zu produzieren, die philosophisch mitdenken während sie vor einem über die Leinwand laufen. Dann gibt es noch eine gelb-blaue Beleuchtung und Special Effects, die auch nach fast 30 Jahren nicht veraltet wirken. Trotz dieser Stärken komme ich nicht umher, dass ich den Kommerz in der Kunst sehe. Als Veronica am Ende mit einem Gewehr vor der Fliege steht und die mitleidserregenden Augen (Peter Jackson was watching) der Kreatur noch einen letzten Hauch Menschlichkeit ausstrahlen, fühle ich nur diesen Mann, der mit aller Macht versucht, dass ich jetzt Mitleid empfinde. Und das schafft er nicht. Denn es ist zu laut für Mitleid.

Die Liebe in The Fly

Land of the Dead: The Ethereal Spirit of Beauty

A Chinese Ghost Story

Immer wieder dreht sich Joey Wong um ihre eigene Achse, ihr Spiel gleicht mehr einem zerschnittenen Tanz, ihre langen Kleider wehen um sie herum, sie zerfließt, denn sie ist ein Geist in A Chinese Ghost Story. Sie versteckt einen Menschen in ihrem Badetrog. Dieser Mensch wird gespielt von einem weiteren Geist des Kinos, Leslie Cheung, der auftauchen muss, um nach Luft zu schnappen. Um ihn wieder unter Wasser zu drücken, lässt sich Joey Wong sanft auf die Lippen des jungen Mannes fallen und drückt ihn mit einem Kuss wieder unter Wasser. Dort hält die Zeit kurz an während rosa Blüten im Wasser nach oben treiben. Es ist dies einer der schönsten Kussszenen, die ich kenne. Die Land of the Dead Reihe wurde in den ersten beiden Filmen, die am Sonntag über die Leinwand flimmerten zu einem Land of Beauty und Land of Innocence. Die beiden Filme A Chinese Ghost Story von Ching Siu-Tun und Venenos para las hadas von Carlos Enrique Taboada verwiesen auf die Wichtigkeit von unberührter Unschuld, Kindlichkeit und Fetisch im Horrogenre.

Veneno para las hadas

Der Kuss in A Chinese Ghost Story taucht im wahrsten Sinne des Wortes an einer Stelle auf, an der man den Kitsch schon gar nicht mehr bemerkt, denn der Film ist voller melodramatischer Überhöhung, mit einem Licht, das unsere Augen mit rosa-weißem Überlicht-Saum umgarnt. Martial-Arts und Comedy Elemente sorgen für völlig überfülltes, kunterbuntes Spektakel des Gruselns, in dem sich außergewöhnliche Bilder mit dem Rhythmus des Kampfsportfilms verbinden. Im Zentrum der Geschichte steht der junge Ling Choi San, ein Tollpatsch vor dem Herrn, der durch sein eigenes Unvermögen und Unglück plötzlich ohne Geld dasteht und in einem verlassenen Tempel übernachten muss. Wer Leslie Cheung kennt, mit Zigaretten vor Spiegeln, kaum merklich zergehend, der wird hier irritiert sein von diesem Comic-Schauspiel, von dieser nerventötenden Ungeschicklichkeit, die vom Film bis zum letzten Klischee ausgefeiert wird. Im Tempel, so sagt man ihm, spukt es. Ihm bleibt nichts anderes übrig und er kämpft sich durch den von Wölfen bevölkerten Wald zum Tempel. Was er nicht weiß ist, dass der Geist in Form einer bildhübschen, sich drehenden Frau erscheint, die Männer verführt, damit sie von ihrer Herrin, einem Baumgeist getötet werden kann. Geist und Mensch werden sich verlieben, ein Taoist bekämpft alle Geister, eine Hochzeit mit dem dunklen Fürsten steht an und auch sonst krabbeln allerhand merkwürdige Gestalten durch den Tempel. Sobald sich Schönheit und Horror verbinden in den Filmen der Land of the Dead-Reihe im Österreichischen Filmmuseum denke ich an zwei Filme: Zum einen La Belle et la Bête von Jean Cocteau und zum anderen Història de la meva mort von Albert Serra. Mit ersterem teilt A Chinese Ghost Story seine Liebe zur Ästhetisierung, Zeitlupen, Nebel und Hände, die aus Wänden greifen. Mit Serra die Schönheit des Gruselns, die vor allem in den Einstellungen der mumienhaften Aschekörper im Dachboden unterstützt wird, genauso einsam und atmend wie jene verlorenen Untoten in Romeros Night of the Living Dead und eben jene Verbindung von Romantik und Tod.

A Chinese Ghost Story2

Eine solche Verbindung ist nicht zuletzt auch in der lateinamerikanischen Literatur häufig anzutreffen. Sex am Friedhof, magischer Realismus. Denkt man auch an die sexuellen Konnotationen des Vampir-Genres, die beispielsweise in der ersten Hälfte von Kathryn Bigelows Near Dark in Syntesizer-Blau magnetisiert werden, dann kann man die Nähe von Versuchung und Bedrohung nicht mehr leugnen. Das Sterben durch das einmalige Leben. So könnte die lange Zunge des Baumgeistes, die durch Häuser läuft, um in die Opfer einzudringen nichts anderes sein als die Zähne eines Vampirs. Die blaue Nacht und die Kleiderfetzen, Schleier, die sehnsüchtigen Augen, ja, an seinen besten Stellen ist A Chinese Ghost Story ein primitiver, fast perverser Blick des Begehrens. Denn dort wo ein Fetisch auf eine Schönheit trifft, kann Horror entstehen.

Wie sehr dieser Horror aus dem Spiel mit der Unschuld seiner Protagonisten hervorgeht, zeigt der mexikanische Veneno para las hadas, der ähnlich wie Guillermo del Toros schwebender El laberinto del fauno den Horror aus Sicht von Kindern zeigt. Die Märchenhaftigkeit des Genres wird hier ausgereizt, denn nicht nur erzählt der Film ein grausames Märchen sondern er erzählt vor allem auch von der Angst vor Märchen. Etwas zu konsequent werden Erwachsene nie von vorne oder mit ihren Gesichtern gezeigt. Einzig in Albträumen oder Angstmomenten der Kinder, sind Gesichter und Fratzen von Erwachsenen deutlich zu sehen. Zu Beginn funktioniert das noch ganz außergewöhnlich, als wir beispielsweise einer faltigen Hand über ein Geländer gleitend folgen oder nur die Schatten einer erwachsenen Welt spüren, aber irgendwann wirkt es schlicht wie eine formelle Idee, die erstens nicht wirklich originell ist und in die sich Taboada viel zu sehr verliebt, um sie noch ernst zu nehmen. Es geht um Flavia, eine Tochter aus reichem Haus, die sich in der Schule mit der eigenwilligen Verónica befreundet. Diese behauptet von sich, eine Hexe zu sein und als sie durch einen Zauberspruch tatsächlich dafür zu sorgen scheint, dass die Klavierlehrerin von Flavia stirbt, gewinnt sie eine Kontrolle der Angst über Flavia. Immer wieder droht sie mit ihrer Hexenkraft und heckt neue Ideen aus, um dunkle Mächte zu beschwören. Ein Schelm wer darin politische Parabeln entdeckt. Dabei ist nie wirklich klar, ob es sich um kindliche Naivität und ein Spiel handelt oder um grausamen Ernst. Man ist eben in dieser Kinderwelt gefangen, die keinen anderen Blick zulässt. Einige Male glaubt man sich in Szenen mit Erwachsenen zu finden. Diese offenbaren sich aber jeweils durch Schwenks als Point-of-View eines Kindes.

Veneno para las hadas2

Ein wenig erinnert dieses Spiel mit den Perspektiven an The Return von Andrey Zvyagintsev, der in seinen ersten Minuten mit einem wahren Schock aus der Kollision von Erwachsenwelt und Kinderwelt aufwartet, die sich im weiteren Film als großes, mystisches Fragezeichen entfaltet. Venenos para las hadas ist ein Film, der einen an kindliche Angst erinnert und diese im besten Fall heraufbeschwört. Gleichzeitig aber-und der Film leidet darunter-stellt sich der Film jederzeit über oder gar unter seine Mädchen, er beobachtet sie als würde Humbert Humbert Kamera führen und so gibt es eben doch noch einen anderen Blick im Film. Ein wiederholter Blick auf die Beine der Mädchen beim Rudern, die Kamera blickt untersichtig auf eine Leiter, die die beiden Mädchen heruntersteigen. Vielleicht geht der wahre Horror von dieser perversen Neigung der Bildsprache aus. Die Unschuld der Mädchen ist nicht die Unschuld des Zusehers. Die brutale Rahmung des Films mit einem Mord am Anfang und am Ende unterstützt diese Tendenz. Wie Agnès Varda in Le bonheur wird aus einer Idylle, der schönen Farben und des ländlichen Spiels ein Horror, der keine Zukunft kennt. Das Spannende an Venenos para las hadas ist, dass man jederzeit merkt worauf das ganze hinausläuft. Statt sich der Idylle hinzugeben, fragt man sich immer, warum es so schön ist und statt voller Spannung vor der Leinwand zu sitzen, verliert man sich immer wieder in der Unschuld und Schuld der Bilder. Die wunderschönen Einstellungen von Kerzenlicht, das spannend-deformierte Kostüm, das immer ein wenig an die Zwillinge aus Stanley Kubricks The Shining erinnert und das Verharren auf der Schönheit von Goldkettchen an alten Armen, lässt einen Hauch von Kinderschänderei in der Luft entstehen. Ein irgendwie widerlicher Film, der schön ist.

Das Vulgäre und das Surrealistische zerfließt in beiden Filmen und es hängt immer an unserem Glauben. Was glauben wir? Wie weit sind wir bereit den Märchen, Geisterstunden, religiösen Parabeln zu folgen? A Chinese Ghost Story und Venenos para las hadas thematisieren diese Fragen, die einen entführen in jene Momente, wenn man als Kind vor einem finsteren Wald stand und ein anderes Kind einem erzählte, dass dort ein alter Mann lebt, der Kinder erschreckt. Im Horrorkino werden wir ein wenig selbst zu Kindern und wir haben keine Sicherheit, denn die Mythen könnten wahr sein.

A Chinese Ghost Story

Nachtrag: Auf einem Geister-Fest habe ich ein Bild von einer Frau gekauft. Sie kämmt sich ihre schwarzen Haare. Ich habe es in meinem Zimmer aufgehängt. Es spricht mich an. Sie sitzt an einem Fluss, Um sie herum sind einige Schriftzeichen, die ich nicht lesen kann. Ihre Haut hat die blasse Farbe des Papiers. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihre Augen gestern noch eine andere Farbe hatten. Ich kann meinen Blick nicht von ihr nehmen. Ich glaube, dass sie sich bewegt. Sie sieht gut aus, ich komme näher.

Adieu, verlorene Zeit – ‚Abschied‘ von Ludwig Wüst

Abschied von Ludwig Wüst

Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: Jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespaltet, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesen Mikrokosmen entgegentritt.

Walter Benjamin, Berliner Chronik

Ludwig Wüst macht Filme über Zeit. Verlorene Zeit, wiedergefundene Zeit, Zeit die kommt, Zeit die geht, Zeit die gibt, Zeit die nimmt, Zeit, die uns in Abgründe stürzt und wieder aus der Taufe hebt, Zeit die wirkt und waltet und immer währt: Das Allseiende, das Allbestimmende. Sein stetig wachsender Werkkorpus ist durchzogen von Vanitas-Motiven und Menschen, die mit Verlust konfrontiert sind – diesem ultimativen Index von Zeit- und Sterblichkeit – aber ebenso vom Glauben an die restaurative Kraft von Erinnerung und Eingedenken. Immer ist es eine Abwesenheit – oft ein traumatisches Ereignis – die den Kern der Erzählungen bildet und die Figuren in Gemütsbewegung versetzt. Vergebung (Zwei Frauen, 2006), Versöhnung (Koma, 2009), Verderben (TAPEEND, 2011), Vergessen (Pasolinicode, 2011), Versäumnis (Das Haus meines Vaters, 2012): Vergangenheit und Zukunft sind die Gegenwart dieser Filme, Dauer ihr Formprinzip.

Wüst kam von der Malerei zum Theater zum Kino, und man merkt es seiner Kunst an. Das Theatralische droht manchmal, ihre Wirkung zu unterlaufen – der einen Deut zu präzise Naturalismus in Schauspiel und Dialog, die Grad-halt-kein-Guckkasten-Kadrage, die Neigung zum Melodramatischen – doch das scharfe Bewusstsein für die Eigenarten der filmischen Form und die bedingungslose Bekenntnis zum Material transzendieren solche Schwächen (er sagt, er sei vom Theater zum Kino gewechselt, weil im Theater von der Aufführung nichts bleibt als eine schöne Erinnerung und ein schlechtes Video). Seine jüngste Arbeit mit dem programmatischen Titel Abschied hatte vor kurzem ihre Wien-Premiere im Österreichischen Filmmuseum und ist das vielleicht schönste, intensivste und formal gewagteste Zeit-Bild des konsequent unabhängigen Regisseurs.

Abschied von Ludwig Wüst

Für den Plot reicht ein Satz: Eine Frau erhält Besuch von ihrer Freundin, und die beiden kommen ins Gespräch. Gefilmt ist dieses Treffen in einer ungebrochenen Einstellung, die sich im Verlauf des Films schleichend per Zoom von der Totale zur Nahen verengt und schließlich wieder öffnet, während der emotionale Tonus der Unterhaltung fließende Phasenverschiebungen durchläuft und gleichsam mit den Sprechenden durch die Zeit reist. Abschied vereint so das Echtzeit-Experiment von TAPEEND mit den Gedächtniserkundungen in Das Haus meines Vaters, übertrifft aber beide in der Ökonomie seiner Mittel und dem erzielten Effekt. Der ungefähr dreiviertelstündige, digitale Zoom stellt die konzeptuelle Methodik von Michael Snows Avantgarde-Klassiker Wavelength in den Dienst eines präzisen psychologischen Realismus: Er definiert den filmischen Raum, konzentriert das Bild, bestimmt über Off und On, macht Zeit sichtbar und schraubt an der Spannung, wenn er sich wie eine Schlinge zuzieht, aber alles im Einvernehmen mit dem affektiven Auf und Ab der Erzählung. Unser Gefühl ist eine Funktion seiner Bewegung, und die Schauspielführung ist vorbildlich auf ihn abgestimmt.

Mittel- und Schwerpunkt des Kaders ist ein unauffälliger Stuhl, der von den beiden Frauen abwechselnd besetzt wird und dem aufgrund seiner Positionierung eine Aura zuteilwird, die man besonders dann spürt, wenn niemand im Bild ist. Er scheint auf seine Besetzung zu warten und verfügt als eine Art hot seat über das Recht auf Aufmerksamkeit: Nur wer dieses in Anspruch nimmt, darf wirklich sprechen. So ist wie bei Wavelength zu Beginn keineswegs klar, wer oder was im Zentrum des Films stehen und ob dieser überhaupt ein Zentrum haben wird. Vorerst bekommen wir einen Eindruck von der Gastgeberin Helene (Martina Spitzer), die sich und ihre Wohnung überhastet auf den anstehenden Besuch vorbereitet, und die subtile Skizzierung ihres missmutig-nervösen Charakters, der etwas zu verbergen scheint – zusammen mit dem schlichten Umstand, dass sie als Erste die Szene betritt – unterbreitet sie als Hauptfigur. Das erste Viertel hindurch sitzt sie am Schicksalsstuhl, und man wähnt sich bestätigt, doch kurz darauf befördert eine Rauchpause eine beiläufige Rochade, und schon findet sie sich hors-champ, indes ihre Freundin Johanna (Claudia Martini) ins Fadenkreuz der Kamera gerät. Die scheinbar zufällige Neuverteilung der Plätze führt unmerklich zu einer totalen Verlagerung des narrativen und emotionalen Fokus sowie zur Ahnung einer anderen Geschichte, die uns entgangen ist, die wir an die filmische Zeit verloren haben (wobei ein Rest von Unentschiedenheit bleibt: Helene reklamiert die Diegese mit vielsagenden Randbemerkungen und der eigentümlich kühlen Distanz, die sie ihrem Gast bis zum Schluss entgegenbringt, stellenweise wieder für sich).

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Das eigentliche Spektakel spinnt sich unscheinbar an: Eine im Vorbeigehen entdeckte DVD des Claude-Sautet-Films Les choses de la vie ruft bei Johanna die mémoire involontaire auf den Plan, und wir sehen ihr dabei zu, wie sie sukzessive den Untiefen der Erinnerung anheimfällt, sich unwillkürlich von einem Trigger-Moment zum nächsten hangelnd, bis man gewahr wird, dass man soeben einer rückhaltlosen seelischen Entblößung beigewohnt hat, die ebenso sachte und unerbittlich von statten ging wie der sie begleitende Zoom. Ein altes Lied führt zur verschämten Bekenntnis einer Jugendliebe, die sich dann doch als mehr herausstellt als nur das. Stück für Stück werden Tiefenschichten aufgebrochen, die Minuten zuvor noch im Dunkeln waren. Das anfängliche Geplänkel wird zu einer veritablen Beichte, und die vom Off verschluckte Helene nimmt die Rolle des Pastors/Therapeuten ein, der nahezu anteillos als akusmatische Stimme Beistand leistet. Als sich der Würgegriff des Bildausschnitts schließlich lockert, uns den Raum wiedergibt und neuerlich trügerische Ruhe einkehren lässt, muss man aufatmen.

Doch in einer überraschenden Volte überspannt Abschied nun seinen eigenen Bogen und sprengt dessen Rahmen. Nach einem kurzen Schwarzbild, das Credits verheißt, löst der Film Hauptfigur und Kamera aus ihren Fixierungen und lässt sie ins Freie fleuchen, wo Johanna einen nachträglichen Polterabend begeht: Sie kauft sich ein rotes Kleid, streift durch die Straßen, taucht in ein Kino (hier hat Wüst einen persönlichen Abschied eingearbeitet – es ist die letzte Aufnahme des Zuschauersaals seines geliebten Wiener Stadtkinos kurz vor dessen Räumung), geht auf Zechtour, flirtet umher und legt sich schlussendlich in einer peripheren Zone zum Schlafen in ein Betonrohr, für eine einzige Nacht ihrem Leben und der Welt entstiegen. Wüst und sein Stammkameramann Klemens Koscher filmen diese Fluchtbewegung zunächst aus großer Distanz und unmöglichen Perspektiven, in seltsam verwaschenen Weitwinkeltotalen, wie von Überwachungskameras oder Geisteraugen beobachtet. Es ist das Gegenteil der Hermetik des ersten Teils.

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Am Ende kehrt Johanna in ihr Heim zurück, sie scheint ihren Abschied genommen und ihren Frieden gemacht zu haben mit dem, was war. Doch hier erfasst den Zuschauer selbst ein retroaktiver Impuls: Der Anblick ihres eindrucksvollen Bungalows wirft uns zurück an den Anfang, man besinnt sich der sozialen Kluft und unterschwelligen Spannung, die sich in flüchtigen Gesten und allfälligen Dialogzeilen zwischen ihr und Helene aufgetan haben, und wieder wittert man eine Gedächtnisspur, der nachzugehen keine Zeit bleibt. Der Film hat inzwischen einen weiteren Sprung gemacht, erneut begibt er sich an Johannas verwahrloste Schlafstätte des vergangenen Abends, um dort ihre Abwesenheit aufzuzeichnen. Es gibt nichts zu sehen, und doch sieht man deutlich jenen Teil von ihr, den sie hier abgelegt hat wie eine Traumhaut. Und unversehens strahlt der ganze verstreute Plunder ringsum mit der Kraft unzähliger Zeiten und Erzählungen, die sich immer noch kreuzen an diesem abgeschiedenen Ort. Mit einem Schlag hört man das Lied in allen Dingen und spitzt gebannt die Ohren.