Der erzählte Film „Die Wand“ von Julian Pölsler


Wie stagnierend das Kino und seine Rezeption sein können, zeigt sich momentan wieder am Beispiel der Literaturverfilmung „Die Wand“ von Julian Pölsler. Als die ersten Regisseure des Kinos am Beginn des 20.Jahrhunderts damit begannen Geschichten zu erzählen (hauptsächlich D.W. Griffith) stellten einige Kritiker und Theoretiker schnell fest, dass sich das „neue“ Medium Film zu sehr an den „alten“ Medien Buch und Theater orientierte. Man müsse die eigentliche Essenz des Mediums besser heraus kitzeln; Film könne mehr, als nur Literatur zu verfilmen: Film ist eine eigene Wahrnehmung, ähnlich eines Traumes. Später kam der Tonfilm. Berauscht von den neuen Möglichkeiten des Kinos hat man sich insbesondere in den großen Filmnationen (USA, Frankreich ) zunächst wieder auf die alten Erzählmedien zurückbezogen. Man sah durch die Möglichkeit Dialoge zu hören und Erzähler einzubeziehen plötzlich wieder eine Nähe zur Literatur. Und man erntete die erneuerte Kritik der Theoretiker und Kritiker.  Film sei nach wie vor mehr, als gefilmte Literatur und der Schritt zum Tonfilm sei keine Veränderung des Mediums an sich, sondern nur eine hinzugefügte Möglichkeit die Realität (des Filmes) einzufangen und zu akzentuieren.
F.W. Murnau „Faust“
J.Pölsler „Die Wand“
Seither sind mehr als 70 Jahre vergangen. Im Kino läuft „Die Wand“. Er wird eigentlich durchweg positiv besprochen. Der Roman von Marlen Haushofer gehört zu den bekannteren und beliebteren der deutschsprachigen Literatur. Es ist eine Reflexion über das Menschsein, das Zusammenleben und die Einsamkeit. Wie (gefühlt) jeder Roman galt auch „Die Wand“ als unverfilmbar. Ein Text, der von einem inneren Monolog getragen wird, kann eigentlich kaum in Bildern erfasst werden. Aber Pölsler scheint das ganz gut zu gelingen. Mit Martina Gedeck hat er eine Idealbesetzung gefunden, die nicht nur mit ihrer Körperlichkeit, sondern auch mit ihrer eigentümlichen Stimmfarbe zu fesseln weiß. Mehr noch zaubern die verschiedenen Kameramänner eindringliche und traumhaft schöne Bilder der Einsamkeit auf die Leinwand. Der Film zieht den Zuschauer mit seinen geschickten Wechsel aus Nahen und Totalen in einen atmosphärischen Bilderbann. Aber all diese zugegebenermaßen hervorragenden und auch filmischen Aspekte des Films gehen völlig unter. Und zwar hinter einem völlig überzogenen Umfang an Voice-Over Narration. Die Erzählstimme drückt dem Film in einer Art und Weise den Stempel auf, dass man sich fragen muss, ob man gerade einer mit Bildern untermalten Lesung beiwohnt oder ob man so etwas wie einen eigenständigen Film betrachtet. Erschreckend die Begeisterung, die ein derart unfilmisches Werk in Filmkreisen einheimsen kann. „Die Wand“ ist mehr ein überlanger Werbespot für das Buch, denn eine Geschichte, die für ein anderes Medium adaptiert wurde.
Die Erzählung und Betrachtung der Vergangenheit-mag man mir entgegenhalten-ist natürlich Bestandteil der Geschichte um die namenslose Frau, die ihre Erinnerungen als Teil der Handlung notiert.  Doch auch dieses System aus Rahmen- und Binnenhandlung habe ich schon mal angeprangert und ich bleibe dabei: Rahmenhandlungen mögen in der Literatur ein probates Stilmittel sein, im Film gibt es nur wenige Ausnahmen, in denen eine Rahmenhandlung dem Werk etwas hinzufügt außer Zeit. In „Die Wand“ ist dem auch so. Wir ahnen lediglich die Schwere der Zeit, die auf der Frau liegt. Ein wichtiger Faktor, wie man annehmen könnte. Doch ich behaupte, dass man diese Schwere auch bemerken würde, wenn man den Film ohne Rahmenhandlung erzählen würde. Was auch bedeuten würde, dass man ihn ohne Erzähler aus dem Hintergrund erzählen würde. Was auch bedeuten würde, dass kaum ein Wort gesprochen werden würde. Was auch bedeuten würde, dass man sich ein gutes Stück von der Buchvorlage entfernen müsste. Was anscheinend auch bedeuten würde, dass kein Produzent bei Verstand diesen Film umsetzen wollen würde?
Der Markt, und damit meine ich den Zuseher, möchte zwei Dinge von einer Literaturverfilmung. Er möchte in erster Linie, dass der Film dem Buch entspricht. Was auch immer das bedeuten mag. Am liebsten würde er die Bilder so, wie er sie sich selbst vorgestellt hat sehen und dabei dieselben Emotionen empfinden und zu denselben Gedanken initiiert werden. Schon bei der Formulierung fällt die Unerreichbarkeit dieser Vorgabe auf. Auf der anderen Seite will der Zuseher natürlich nach der Gewohnheit des Kinos unterhalten werden. Also keine Seiten umblättern bei schwachem Licht und dergleichen. Zusammen funktioniert das selten und der pauschalste Satz, den jeder Kinogänger von klein auf lernt ist dann: „Das Buch war besser.“ Geschätzte 99 Prozent aller Leser des Buches tätigen wohl diese Aussage nach Betrachten des dazugehörigen Filmes. Aber ein großer Teil der Leser geht ins Kino, da können sich die Filmemacher sicher sein. Also richtet man sich natürlich nach dem Buch. Filmische Freiheit und Besinnung auf die eigene Kreativität und auf die Möglichkeiten des Mediums müssen da hinten anstehen, weil es in erster Linie darum geht Wörter in einer möglichst einfachen Form zu Bildern zu machen. (Und die einfache Form ist immer die Form, die man bereits kennt.) „Die Wand“ ist ein äußerst handlungsarmer Roman und Pölsler hat sich nun dafür entschieden dem Zuseher und dem Buch damit gerecht zu werden, die inneren Monologe der Protagonisten wortwörtlich aus dem Buch zu nehmen und sie zu einer penetranten Voice-Over Narration werden zu lassen. Damit mag er der Vorlage gerecht werden und die meisten Zuseher gewinnen, aber dem Kino wird er nicht gerecht. (und das trotz der Schönheit seiner Bilder.)
Der Film versteckt sich förmlich hinter seiner Vorlage. Selbst an völlig unnötigen Stellen. Zum Beispiel betritt die Protagonisten in den ersten Minuten des Films ein leeres Zimmer. Dort sollten eigentlich ihre Cousine und deren Ehemann sein. Sie sind es aber nicht. Das leere Bett ist zu sehen und die Protagonistin wundert sich. Im selben Moment ist ihre Stimme zu hören, die erzählt, dass die beiden doch schon lange zurücksein hätten müssen und dass sie sich wunderte. Durch dieses gleichzeitige Erzählen der Handlung werden die Bilder selbst völlig überflüssig. Man mag argumentieren, dass die Erzählung nun mal Teil der Geschichte sei. Die Protagonistin schreibt ihre Erlebnisse und Gedanken nieder und betrachtet ihre vergangenen Jahre eben in einer Niederschrift. Klar, aber muss man sich dem Roman so versklaven, wenn dadurch die Kraft der filmischen Sprache verloren geht? Wenn die Protagonistin schwerbeladen einen Berg hinauf wandert und oben völlig erschöpft ankommt, dann ist das die Schönheit von filmischen Codes, die unsere Generation seit der Kindheit gelernt hat zu lesen: Wir verstehen, dass der Weg anstrengend war und die Frau erschöpft ist. In „Die Wand“ muss ihre Stimme das zusätzlich betonen: Der Weg habe vier Stunden gedauert. Sie sei nun völlig erschöpft. Wieder werden die Bilder obsolet. Wenn die Frau lächelt, muss man nicht hören, dass sie glücklich ist. Ein Rest von eigener Denkleistung ist nicht zu viel verlangt. Zumal sich eine gewisse Interpretationsfreiheit innerhalb des Stoffes sowieso ergibt. Aber welche Wucht hätte der Film entfalten können, hätte er den Zuseher in dieselbe Stille und Einsamkeit versetzt, wie die Protagonistin. (die Passagen mit der klassischen Musikuntermalung verraten das Bemühen die Langeweile zu vermeiden.) Eine Stille, die einen vor ein völlig neues Gedankenfeld gestellt hätte, die einen den Film vielleicht nicht wie das Buch hätte lesen lassen, aber dennoch im Sinne des Buches. In seiner erzählten Form lenkt der Film den Zuseher fast im Stile eines Hollywood-Films. Einzig die poetische und damit nicht für jeden sofort zugängliche Sprache der Autorin rettet vor dem totalen Abfall. Eigentlich wird diese Form der Narration alleine von der Stärke seiner Buchvorlage gerettet. In gewisser Weise ist dieser Film eben ein Werbespot für das Buch, ein verlängerter Trailer. Mit schönen Bildern untermalt, werden die wertvollsten Stellen vorgelesen. 
Die stärksten Szenen in „Die Wand“ gibt es immer dann, wenn der Voice-Over aussetzt. Es sind meistens die Szenen, in denen die Gewalt der Existenz offenbar wird, seltener die Einsamkeit und Isolation. Warum fehlt hier der Mut sich von der Vorlage zu lösen? Die Wörter von Haushofer sind hypnotisierend und schön, aber sie geben keine Möglichkeit zur filmischen Rezeption. Dabei ist die Thematik trotz aller Befürchtungen eine durchaus filmaffine. Diese unsichtbare Wand könnte aus einem Tarkovskiy-Film sein. „Stalker“ fällt einem sofort als Vergleich ein. Ein Film, der den Zuseher zum Teil völlig alleine lässt, der ihn nicht bei der Hand nimmt und der gerade deshalb ein Vielfaches mehr über das Menschsein zu sagen hat, als „Die Wand“. Kann man so etwas heute nicht mehr riskieren? Natürlich muss man abwägen für welches Publikum der Film gemacht ist. Nun ist „Die Wand“ aber kein Mainstream-Film geworden. Bereits in den ersten 30 Minuten haben drei (jüngere) Zuseher das Kino verlassen. Also warum nicht gleich den Mut fassen und versuchen sich mit den Mitteln des eigenen Mediums dem Stoff anzunähern? Paradoxerweise gelingt das dem Film an vielen Stellen. Die Bilder und das Sounddesign, das Schauspiel und die Locations sprechen eine kräftige, vielfach deutbare Sprache, die absolut im Sinne des Romans verständlich wäre. Nur leider kommt spätestens nach einigen Sekunden wieder diese Stimme ins Spiel. Einer meiner Begleiter im Kino meinte nach dem Film, dass kein Zuseher dieser Welt einen Film sehen wollen würde, in dem zwei Stunden lang kaum ein Wort gesprochen würde. Glaube ich nicht. Vielleicht würde man mehr Menschen verärgern und mehr Menschen würden nichts mit dem Stoff anzufangen wissen. Aber gleich viele Zuseher würden den Film sehen wollen und das ist doch, was zählt für den Geldgeber. Auf der anderen Seite, könnte man die innere Entwicklung von außen zeigen, man könnte Bilder finden, die den Seelenzustand der Protagonistin verdeutlichen, die ihre Einsamkeit und ihre Gemeinschaft mit den Tieren vorführen und würde dadurch ein freies Denken ermöglichen, in dem die Bilder eben nicht nur das bedeuten, was die Autorin geschrieben hatte, obwohl sie es durchaus immer noch bedeuten könnten. Die Metaphorik des Themas bliebe absolut verständlich, weil sie eine Bildmetaphorik ist. Alternativ könnte man die Erzählung zumindest minimieren. An einigen Stellen trägt sich auch zum tieferen Verständnis und zur besseren Reflektion bei. Etwa, als die Protagonistin sich mit dem Vergehen von Zeit beschäftigt. Allerdings ist genau dieses „Vergehen von Zeit“ doch ein filmisches Thema.
„Stalker“ von A.Tarkovskyi
Ich verteufle nicht im Allgemeinen die Verwendung eines Voice-Overs oder Literaturverfilmungen. Ich wundere mich nur über zwei Dinge: Erstens, dass die Entwicklung solcher Literaturverfilmungen abseits des technischen keinerlei Veränderungen durchlaufen hat im vergangenen halben Jahrhundert. Es gibt nach wie vor (übrigens auch im Theater) eine ganz schlimme Versklavung, ein verstecken hinter dem Text mit dem vorgehaltenen Argument der Vorlage gerecht zu werden. Der dramaturgische Denkanspruch besteht dann zumeist zu entscheiden welche Szenen oder Passagen der Rezipient nicht benötigt um zu verstehen und noch viel Wichtiger: Um sich nicht zu langweilen. Die Wirtschaft regiert eben den Film. Dagegen kann man wohl kaum etwas machen, aber im Falle von „Die Wand“, der immerhin von coop99 produziert wurde, denen man eine absolute Affinität zur Kreativität und Risikofreude nachsagen kann, muss man sich doch fragen, ob man nicht sowieso ein Nischenpublikum anspricht. Aber Wirtschaftlichkeit setzt eben auch voraus, dass den Zusehern zu einem Großteil der Film gefällt. (Stichworte: Mundpropaganda und DVD-Auswertung) So wird demnächst „Anna Karenina“ von Joe Wright anlaufen. Ein Regisseur, der sich darauf versteht seine unkreative Literaturtreue hinter einem Meer der spektakulären Bilder und Stimmungen zu verstecken. Das heißt nicht, dass er nicht zu Änderungen der Vorlage bereit wäre, sondern lediglich, dass er den Stoff nicht mit filmischen, sondern nur mit erzählerischen Gedanken fasst. Seine Spezialisierung auf die immer gleiche Art von Romanen, die sich mit einer „verbotenen“ Liebe beschäftigen, spricht schon Bände. („Atonement“ und „Pride and Prejudice hat er noch gemacht.) Und zweitens, dass man sich davon so gerne berauschen lässt. Natürlich sind die Narrationen der großen Schriftsteller oft unerreicht und egal in welchem Medium sie gezeigt werden faszinierend. Film hätte aber die Macht diese Narrationen in sein eigenes Medium transformieren und Bilder für die Worte zu finden. Dennoch stört es uns kaum, wenn das nicht geschieht. Es würde niemanden einfallen, dass man Zeit vergeude, wenn man einen Film beiwohnt, der eigentlich ein verkleidetes Buch ist. War ja ganz unterhaltsam. Da ist er wieder. Dieser Satz. Das mag ein Kampf gegen Windmühlen sein, aber zumindest bewusst kann man es sich machen. Ich finde, dass eine Art Kino, die ein halbes Jahrhundert sich den gleichen Stoffe auf die gleiche Art und Weise nähert, ist ein ziemlich totes Kino. Nur weil etwas funktioniert, heißt es nicht, dass es gut ist. Das ist wie eine Fußballmannschaft, die mit einer völlig destruktiven Taktik die Champions-League gewinnt. Aber was soll man dagegen sagen?
„Pride and Prejudice“ von J. Wright
Dann würde ich zumindest den Vorschlag machen diese unsinnige Vorspannbemerkung „nach einem Roman von…“ in „der Roman von…erzählt in Wörtern und Bildern“ umzuwandeln.

Gegen den Bericht vom roten Teppich

Link: Wer marschiert mit der Filmbranche?

Einen ganz wundervollen und aufrüttelnden Text gibt es derzeit auf critic.de von Frédéric Jaeger zu lesen. Er behandelt das Verhältnis zwischen Filmbranche und Filmkritik. Gleichzeitig diskutiert er den aktuellen Stand der Online-Filmpublikationen.

Das Thema bringt mich auch wieder zurück, zum eigentlichen Beginn dieses Blogs und der Frage, wo sie hinverschwindet, die Cinéphilie, die Freude am Kino, das Verständnis von Film als Kunst. Kann man darüber überhaupt neue Erkenntnisse gewinnen? Festzustellen ist lediglich, dass Film in der Wahrnehmung des „durchschnittlichen“ Zusehers zumeist keinen Kunstanspruch hat; es würde eigentlich die Aufgabe von Filmemachern und Schreibern sein jenen aufrecht zu erhalten. Es bleibt eine Schande, wie die wirklich wichtigen und bewegenden Filme, die ausdrucksstarken Filme in der Massenwahrnehmung untergehen. Wer sich nicht einliest, der wird kaum mitbekommen, was los ist auf dem Filmmarkt. Denn in den handelsüblichen Gazetten werden die großen Filme besprochen, die sowieso schon über das größte Werbebudget verfügen. Interessant ist das Kleid auf dem roten Teppich, ein Interview mit einem Star. Eine kurze Inhaltsangabe genügt schon, um zu den scheinbar wichtigeren Dingen zu kommen.

Nun stellen sich viele Kinogänger die Frage, ob sie Anspruch überhaupt brauchen, ob sie Schwere nicht lieber meiden würden. Das bleibt natürlich jedem selbst überlassen, aber Filme nur ob ihres Unterhaltungsaspektes zu betrachten, ist wie ein Auto nur in den ersten zwei Gängen zu fahren. Es bringt einen von A nach B und kann auch Freude bereiten (wenn man zum Beispiel die Musik aufdreht), aber man sieht lange nicht alles, was dieses Medium zu leisten im Stande ist. Das erschreckende bleibt immer, wie weit die Wahrnehmung des Kinos vor 40 Jahren schon gekommen war und wie sie sich in der Zwischenzeit wieder abgestumpft hat. Ein Medium auf dem Abstellgleis.

Und dennoch ein Medium der Überfüllung. Im Internet finden sich tausende sogenannter Filmblogs und Filmseiten, die sich anspruchsvoll und eigenwillig mit Film als Kunstform beschäftigen; die Filmfestivals sind überflutet mit zum Teil grandiosen, eigenwilligen Filmen, die Film hinterfragen, zelebrieren und vollkommen an die Grenzen bringen. Es herrscht eine eigentlich vitale Umgebung, aber je weiter das kritische Anspruchdenken und der reine Kommerz auseinanderdriften, desto sterbender ist Film. Denn Film lebt eben nicht von seinen Nischen. Film lebt von einer Kultur, einer sozialen Wahrnehmung und dem Teilen des Sehens.Diese gibt es außerhalb der Festivals praktisch nicht mehr.

Nur innerhalb der Filmbranche ist es genauso wie außen. Jeder möchte am liebsten selbst weiterkommen. Jeder liebt Film auf seine (DIE richtige Art, eine Falle ist hierbei die eigentliche Stärke des Films: Identifikation, die einen scheinbar direkt und isoliert anspricht); man verbrüdert und verbindet sich nur zum gegenteiligen Vorteil. Letztlich geht es immer um einzelne Personen. Und am Ende ist das System so gebaut, dass man als einzelne Person nur weiterkommt, wenn man gewissen Gesetzen gehorcht. Damit gräbt sich Film seit Jahrzehnten ein eigenes Grab, in welches er nie vollkommen reinfallen wird, aber immer schon mit einem Bein steht. Ein System zu gut zum Sterben, zu fragil zum Leben. Paradox, dass es ausgerechnet die größten Individualisten schaffen dem System am weitesten zu entkommen.

« Nous avons gagné en faisant admettre le principe qu’un film de Hitchcock, par exemple, est aussi important qu’un livre d’Aragon. Les auteurs de films, grâce à nous, sont entrés définitivement dans l’histoire de l’art. »

Jean-Luc Godard, Arts, 22 avril 1959

Jean-Luc Godard

Diesen Satz kann man als Kern der Autorentheorie verstehen. Ein Filmregisseur sei so bedeutend, wie ein Autor. Beide würden Kunst machen. Leider wird er häufiger auf die Machart von Filmen angewandt, die aus hierachischen Flüsterpostspielen besteht, in der sich die Dampfwalze Film nimmt, was sie kriegen kann. Dabei sollte sie einfach auf die Rezeption angewandt werden. Das Kinoerlebnis (oder von mir aus auch Laptoperlebnis ) würde gewinnen:

1. Wenn man den Regisseur eines Filmes zur Kenntnis nimmt und weiß, was er sonst so gedreht und gemacht hat, aus welchem Land und welchem politisch/sozialen Umfeld er kommt.

2.Wenn man den Film zeitlich und örtlichen einordnen kann. (Ein spanischer Film 1985 ist ein anderer Film, als ein spanischer Film 1995, ist ein anderer Film, als ein spanischer Film heute)

3. Wenn man versucht sich ein bisschen zu überlegen WIE etwas gefilmt wurde und auch daraus Schlüsse zieht. (die endlosen Diskussionen über Inhalte sind doch kaum haltbar, weil man ab einem gewissen Alter doch feststellen müsste, dass es immer die selben Diskussionen sind)

Das sind weder besonders aufwändige noch anspruchsvolle oder außergewöhnliche Möglichkeiten, um Film als Kunst wahrzunehmen. Man könnte erstaunt sein, wie weit am Rand der Wahrnehmung dann der rote Teppich zu finden ist. Vielleicht setzt dieser Blog den Hebel sehr naiv und weit unten an. Aber genau dort will und muss er sein.

 
“It’s dishonest to talk about films, since we’re already doing something useless which self-destroys itself.

– Marco Ferreri

Dillinger is Dead von Marco Ferreri


Wortlose Sequenzen Teil 3:Raging Bull von Martin Scorsese

„Tanz, Gefängnis, die Ästhetik“

Der neue Beitrag zum Thema wortlose Sequenzen beschäftigt sich mit „Raging Bull“ von Martin Scorsese. Die wortlose Sequenz ist in diesem Fall die berühmte Titelsequenz. In ihrem Zentrum steht vor allem die Musik: Es ist das Intermezzo der Oper „Cavalleria Rusticana“ von Giovanni Verga, welche auch in „The Godfather Part  3“ prominent verwendet wird.

Die Sequenz dauert mitsamt den Produzentenlogos 2 Minuten und 53 Sekunden. Sie besteht aus einer Einstellung und zeigt den Boxer Jake La Motta (gespielt von Robert De Niro) in Vorbereitung auf einen Kampf durch den Ring tänzeln und sich aufwärmen. Er trägt einen extravaganten Mantel mit Leopardenmuster und wirkt fast wie ein Tänzer. Die Sequenz läuft in Zeitlupe ab und ist-wie der gesamte Film von 1980- in körnigen Schwarz/Weiß Bildern gehalten. Unmittelbar nach dieser Sequenz sehen wir den alten Jake La Motta. Das Gegenteil, wenn man so möchte: Dick, schwerfällig und philosophierend. „Raging Bull“ markiert gewissermaßen den Höhepunkt des Schaffens von Martin Scorsese. Hier trifft sich seine amerikanisch-italienische, temporeiche Direktheit mit seinen existentialistischen Ideen; seine kinematographische Power mit seinem cineastischen Mut. Hier war Scorsese der Filmemacher, der er immer hätte sein sollen.
Die Ästhetik

Augenscheinlich ist das Schwarz und Weiß. Bis heute entstehen immer wieder Filme in Schwarz und Weiß, meistens wird das dann als Hommage an eine Zeit oder einen Stil verstanden; so rechtfertigt sich Anton Corbijn zu seinem Film „Control“ wie folgt: „ Es gibt praktisch nur schwarz/weiß Fotos von Joy Division.“, Haneke sieht die Zeit nach dem ersten Weltkrieg auch in schwarz/weiß und die Coen-Brüder finden, dass ein Film Noir eben in Schwarz und Weiß gehört. Natürlich (nur ein Nebeneffekt selbstverständlich) sieht das auch ziemlich gut aus. Ähnlich verhält es sich bei Scorsese und seinem Kameramann Michael Chapman. Allerdings hatte Jake La Motta in seiner Autobiografie, auf die sich der Film logischerweise stützt bereits bemerkt, dass er sich an sein Leben erinnere, wie an einen Schwarzweißfilm. Bedenkt man, dass um 1980 Sylvester Stallone mit Rocky das Boxerfilm-Genre beherrschte, kann man die Entscheidung von Scorsese für diese Ästhetik dennoch als mutig ansehen; sie gibt dem Film bis heute etwas klassisches, etwas hollywoodartiges. Die Zeitlupe wird meistens zur Erhöhung von Charakteren benutzt. Auch hier hat sie diesen Effekt, aber irgendwie hat sich auch etwas von „nicht vom Fleck kommen.“; es ist trotzdem die Ästhetik und Schönheit des Boxsports, die Scorsese zeigt. Die Körperlichkeit und Erhöhung der Sportler. Immer wieder schießt ein Blitzlicht aus der tobenden Menge. Dem ganzen haftet etwas Traumartiges bei. Mit einer einzigen Einstellung etabliert Scorsese die Ästhetik des Films, die Ästhetik seines Charakters und seines Berufes. Mehr noch lässt er eine tragische Komponente mitschwingen, etwas Schicksalhaftes. Die ganze Sequenz wirkt wie die Vergangenheit, wie etwas Vergessenes. Nebenbei läuft eine völlig gewöhnliche Titelsequenz. Die Ästhetik kommt auch vom Schauspiel; diese Körperlichkeit und Leichtigkeit. Und dann senkt De Niro doch wieder den Kopf und wirkt schwer. Besessenheit, Schuld, Gewalt und Freude. Alles ist spürbar in den tänzelnden Schritten, die nicht nur dieser Sequenz, sondern auch dem Boxsport seine Ästhetik verleihen.
Das Gefängnis
Die ganze Sequenz über wird das Bild von der Ringbegrenzung quer durchdrungen. Wir haben keinen freien Blick auf den Protagonisten. Einmal kommt er auf uns zu, es wirkt fast, als wäre es ihm möglich das Gefängnis des Bildes zu überwinden, aber dann dreht er doch wieder um. Man kann den Bildausschnitt als Metapher für die folgende Handlung des Filmes verstehen. Das innere Gefängnis des tragischen Helden Jake La Motta, wenn man so möchte. Der Titel „Raging Bull“ passt hier natürlich auch. Wie ein wilder Stier bewegt sich La Motta durch den Ring. Auf und ab. Aber er ist nicht frei. Eigentlich will La Motta verstanden werden. Aber da ist eine Grenze zwischen ihm und seiner Umwelt. Er ist mehr ein Ausstellungsobjekt, denn der Mensch, der er eigentlich sein möchte. Die metaphorische Behandlung des Filmtitels in der Eröffnungsszene ist ein beliebtes Stilmittel. Derzeit ist sie zum Beispiel bei Walter Salles in seiner Romanverfilmung „On the road“ zu sehen. Man sieht ein paar Füße über verschiedenartige Wege gehen. Dann stellt sich natürlich auch die Frage nach unserer eigenen Unfreiheit als Zuseher. Diese blinden, tobenden Menschenmassen, die La Motta eben nicht verstehen wollen und können; das Blitzlicht und das blinde Folgen dieses Helden. Denn darum geht es Scorsese auch: Die Verklärung eines Sportlers ins Heldentum. Der Druck, der damit einhergeht. Wo sich Sport und Film treffen, trieft es normalerweise vor Pathos. Scorsese kommentiert dieses Pathos in seiner Eröffnungssequenz. Ab der folgenden Szene ist davon kaum etwas zu spüren.
Die Oper
L’eclisse Eröffnungsszene
Die Szene ist gewissermaßen als Prolog zu verstehen. Die Wahl der Musik ist nicht zufällig. In „Cavalleria Rusticana“ geht es um Verrat, Glauben, Leidenschaften und den Fall eines Menschen. Sie wirkt herausgehoben, eben weil sie sich nur auf die Musik und die Bilder verlässt und nicht auf Worte. Auch Opern haben gewöhnlich einen Prolog. Dieses Stilmittel gibt dem ganzen Film also etwas opernhaftes. Man fühlt das Schicksal, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Die Musik übernimmt die Emotion und trägt die Bilder, die sie mit der Zeitlupenästhetik und dem stickigen Rauch zu untermalen scheinen. Solche Prologe gibt es natürlich häufiger in der Filmgeschichte. Streng genommen sind alle Titelsequenzen, die nur mit Musik untermalt sind als Äquivalent zu einem Prolog zu verstehen. Man kann ein konträres Gefühl installieren, wie Michelangelo Antonioni in „L’eclisse“ als er Mina den „L’eclisse Twist“ singen lässt, ein unheimlich fröhliches und befreiendes Lied, völlig entgegengesetzt der Eröffnungsszene und Thematik des Films. Sehr ähnlich zur Ästhetik von Scorsese verhalten sich erstaunlicherweise Lars von Triers letzte Arbeiten. Zum Beispiel in „Antichrist“ oder „Melancholia“ gibt es einen Prolog, der jeweils mit Opernmusik von Richard Wagner untermalt wird. Auch von Trier verwendet die Zeitlupe als Stilmittel der absoluten Erhöhung. Präsentiert er in „Antichrist“ damit aber den Auslöser der Geschichte, zeigt er in „Melancholia“ praktisch den gesamten folgenden Handlungsablauf in überstilisierten Bildern. Solche Sequenzen vor die eigentliche Handlung zu stellen, offenbart die Tendenz des Regisseurs als Geschichtenerzähler. Sie ermöglichen es dem Zuseher in die richtige Stimmung zu kommen oder eben genau das nicht. Paradoxerweise wirken sie dem folgenden Film nie fremd; sie stellen eine Tür oder ein freundliches Schild dar, welches zum Eintritt in den Film auffordert. Schön, wenn man dabei schon so viele essentielle Informationen transportieren kann, wie Martin Scorsese in „Raging Bull“.
Weiter wird es gehen mit „Professione:reporter“ von Michelangelo Antonioni

We need to talk about Kevin von Lynne Ramsay


Tilda Swinton; nicht immer leicht, nicht immer zugänglich. Sie ist anders, hat oft den Mut unschöne, unsympathische und kalte Frauen zu spielen. Man kennt sie als Sal, die starrsinnige Anführerin der Zivilisationsaussteiger aus Danny Boyles The Beach. Man kennt sie als korrupten Gegenpart zu George Clooney als Michael Clayton; aber auch für die Coen-Farce Burn after Reading war sie sich nicht zu schade. In I am love von Luca Guadagnino spielt sie eine Frau auf dem Weg zu sich selbst, verfilmte Literatur, aber statt sich der russischen Modellopferrolle hinzugeben, findet Swinton immer wieder auch dunkle Seiten in ihren Rollen. Schon äußerlich wirkt sie kühl und abweisend. Ihre großen Augen und ihre blasse Haut, ihre zierliche und doch erhabene Gestalt… Ehrlichgesagt fällt es nicht immer leicht das Schauspiel dieser anerkannten englischen Darstellerin zu bewundern, da sie einfach zu gut ist. Man ist schlicht zu sehr damit beschäftig ihre Rollen nicht zu mögen und vergisst darüber, dass diese nur gespielt sind. Jetzt ist sie wieder in einer Opferrolle zu sehen und zwar in We need to talk about Kevin von Lynne Ramsay. Um zwei Dinge gleich vorweg zu nehmen:
      
      1.  Dieser psychodelische Dramatrip in die Wahrnehmung einer gepeinigten Mutter und Ehefrau ist einer der herausragenden Filme des Jahres.
      2.  Swinton schafft wieder eine erstaunliche Ambivalenz zwischen Sympathie und Ablehnung;
Die Frage nach Schuld und Verantwortung ist eine der Fragen, die Ramsay aufwirft. Kevin ist der titelgebende Sohn von Eva, gespielt von Tilda Swinton. Er ist (untertrieben) ein schwieriges Kind mit einer ausgeprägten Neigung zur Gewalt. Und zwar schon-und hier kommt der Roman Polanski-Faktor mit in den Film-in einem Alter, in dem er es eigentlich noch nicht sein könnte. Als Kleinkind schreit er sobald er mit seiner Mutter alleine ist, dann verweigert er der Mutter den Ball zu ihr zurückzurollen und wirkt dabei merkwürdig provozierend. Ist das der tatsächliche Sohn des Teufels? Ist Kevin gewissermaßen Rosemary’s Baby im Hier und Jetzt? Die fleischgewordene Angst vor dem eigenen Kind, der Kampf mit sich selbst: Eva hält ihren Sohn merkwürdig steif in die Luft und versucht zu lächeln. Sie kämpft und man merkt ihr an wie schwer es fällt ihren Sohn zu lieben. Zwischendurch gibt es Licht, aber der große Schatten hängt über dem Film von den ersten Bildern an.
Und dieser Schatten ist rot. Alle Departments sprechen in dieser Farbe. Rot impliziert zunächst einmal Blut. Rot impliziert eigentlich auch Liebe. Gleich das erste Bild brennt sich ins Gedächtnis. Eva mitten in einer roteingefärbten Menge während der Tomatenschlacht in Buñol; es wirkt fast wie die letzte Ölung in rotgetränktem Tomatensaft. Ketchup, rote Kleider, rote Vasen, rote Farbe auf dem Frontfenster…Ramsay schafft gemeinsam mit Kameramann Seamus McGarvey (dessen Bilderpoesie schon in Atonement oder The Hours zur Sprache kam) ein Bildermeer, der Farben und Formen; fließende Übergänge und ein Sog aus Erinnerungen und einer distanzierten Gegenwart. Der Schnitt baut auf surreal anmutende Überschneidungen und dann gibt es sie doch wieder…die kühlen Bildern, die Distanz, in der Tilda Swinton so heimisch ist. Ramsay wirft vieles in ihren Topf. Einerseits schreit das Thema geradezu nach einem respektvollen Umgang und einer gewissen Natürlichkeit (Vermeidung des Begriffs Authentizität), andererseits ist es gerade die filmische, fast schon horrorfilmartige Überspitzung der Geschehnisse, die We need to talk about Kevin zu einem solchen Genuss macht.
Die Musik springt einen förmlich an. Der ausgewählte Soundtrack ist gegen den Inhalt gesetzt, fröhlich und befreiend. (Buddy Holly mit Everyday sei hier genannt) Aber die komponierten Töne von Johnny Greenwood unterstützen den bildgewordenen Albtraum, den man hier inszeniert hat. Polanski war mit seinen Psychothrillern sicherlich ein Vorbild. Es ist dieser Horror in den eigenen vier Wänden, der Horror, den man selbst (laut schreiend, natürlich) geboren hat. Aber Swinton ist eben kein reines Kind von Unschuld. Immer wieder klaffen Lücken auf in ihrer Erziehung. Oder ihr Ehemann, gespielt von John C. Reilly wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Hätte man etwas anders machen müssen in der Erziehung? Inwieweit kann eine Mutter überhaupt das Opfer sein? Rosemary ist irgendwann völlig isoliert, zwischen den Welten und weiß nicht mehr, was real ist und was imaginiert. Diese Frage stellt sich bei Eva nicht. Dennoch ist sie isoliert. Lange unklar bleibt, wieso genau sie derart von ihrem Umfeld angefeindet wird. Aber auch der eigene Gatte scheint keine Rettung zu sein. Manchmal wirkt er wie der Verbündete des Sohnes. Einzig die zweitgeborene Tochter scheint Abhilfe leisten zu können. Und doch gibt es da diese Momente der scheinbaren Schönheit, des scheinbaren Verzeihens. Momente der Menschlichkeit. Weil Ramsay und Swinton keine Künstler sind, die Inhalte fernab der Grauzone des Daseins zulassen. Will heißen, dass es Schwarz und Weiß nur in der Tagline geben kann.
Mehr noch ist We need to talk about Kevin ein Musterbeispiel für Perfektion in der subjektiven Darstellung einer Welt; die Wahrnehmung des Films entspricht zu einem großen Teil der Wahrnehmung von Eva. Wir öffnen Türen mit ihr gemeinsam und betrachten dieses Monster, das sie ihren Sohn nennen muss durch ihre Augen. Ein Point-of-View Film. So ist es dann auch möglich dem Rezipienten einen durchgehenden Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit zu geben. Eva lebt noch in der Vergangenheit. Alles andere wäre auch nicht möglich. Dennoch muss sie in der Realität existieren diese Frau. Man fühlt sich genauso bedroht von den Bildern wie Eva selbst. Wie würde man handeln? Trotz all dieser Subjektivität erlaubt die englische Regisseurin auch Reflektion und Abstand. In bester Haneke Manier werden wir einmal sogar scheinbar direkt angesprochen, warum wir uns immer diese Psychopathen im Kino ansehen müssen…
Dieser „Psychopath“, also Kevin wird gespielt von Ezra Miller (als Jugendlicher); er spielt ihn wie die Personifikation des Bösen, aber irgendwo hofft und will man so sehr-genau wie die Mutter-dass da irgendwo etwas „Gutes“ durchscheint; manchmal glaubt man es zu fühlen, zu sehen. Und das führt wieder zurück zur Frage nach der Schuld. Einer Frage, die wie viele Fragen in diesem Film nicht beantwortet werden will und kann. Lynne Ramsay steht über diesem Thema. Ihr Film will in erster Linie ein Film sein. Keine Abhandlung eines Themas, wie das gerade in Deutschland so häufig zu spüren ist. Dadurch entsteht ein formales und inhaltliches Meisterwerk, das sich nie in seinem Thema und auch nicht in seiner brillanten Ästhetik zu verlieren droht, weil sie äußere und innere Form aus einem Guss sind. Ihre schon im Casting unkonventionellen Entscheidungen (eine sehr, sehr ernste Rolle für John C.Reilly ) trifft Ramsay bis in die kleinsten Details der Inszenierung und so entsteht ein lebendiges und immer überraschendes Werk: Eine ziemlich absurde Weihnachtsfeier des Reisebüros, heitere Musik zu einer düsteren Halloween-Szene, ein liebevoller Blick in Momenten des größten Hasses… Einer dieser Filme, die einen zwingen nicht dem Impuls des Wegschauens zu folgen. Und so ist es auch mit Tilda Swinton. Man muss sie nicht mögen, man muss ihr nur zusehen.
Der nächste Film von Lynne Ramsay wird Jane got a gun heißen und spielend werden Natalie Portman und Michael Fassbender zu sehen sein. Eine Konstellation, die man sich schlechter hätte vorstellen können. 

Sous le sable von François Ozon


Eine Frau nimmt sich gemeinsam mit ihrem Ehemann eine Auszeit am Meer. Sie fahren in ihr kleines Haus dort. An einem Tag gehen sie baden. Sie wählen einen möglichst ruhigen, verlassenen Strand. Die Wellen und der Wind sind das einzige hörbare Geräusch. Der Mann möchte ins Wasser gehen. Er fragt seine Frau, ob sie ihn begleiten wolle. Sie verneint, sie sei müde und möchte sich noch ein bisschen ausruhen. Dann geht der Mann ins Meer. Wellen sind zu sehen. Die Frau, gespielt von Charlotte Rampling wacht auf und blickt sich um. Sie sieht ihren Mann nicht im Wasser, nicht am Strand. Erst denkt sie sich nichts, liest noch etwas in einem Buch. Dann Panik: Ihr Mann ist verschwunden.
Dies ist die Ausgangsposition für Sous le sable (Unter dem Sand) des beeindruckenden französischen Regisseurs  François Ozon. Dabei liefert er eine intensive Charakterstudie, die sich mit Verlust und Ängsten auseinandersetzt. Rampling brilliert als eine Frau, die beginnt daran zu zerbrechen, dass sie nicht um das Schicksal ihres Gatten weiß; oft hat sie die Augen nach unten geschlagen. So ist es sehr schwer in ihr zu lesen. An anderer Stelle wird statt einer Nahaufnahme der Blick auf ihren Hinterkopf gegeben. Dann ändert sie wieder schlagartig ihren Ausdruck, ihre Meinung, ihr Auftreten. Man fühlt förmlich die Anstrengung, wenn sie lächelt. Verlust ist eines der Hauptmotive des Regisseurs von Filmen wie 5×2 oder Le Temps qui reste. In Sous le sable wird diese Angst aber in ein psychologisches Spiel mit dem Zweifel an der Realität verkehrt. Ein Leugnen des Realen wenn man so will, das auch Martin Scorsese- nach Dennis Lehanes Buch- in Shutter Island erforscht hat. Doch statt sich wie der amerikanische Meisterregisseur in relativ plumpen Horroreffekten zu versuchen, besticht Ozon durch die Ruhe seiner Beobachtungen. Zudem hebt der dramaturgische Kniff, dass der Zuseher immer etwas weniger weiß, als die Protagonisten, das Niveau beträchtlich an. Manchmal springt Ozon einfach ein gutes Stück nach vorne in der Zeit und man muss den Wissensstand wieder aufholen; viel häufiger wird man aber selbst mit dem Zweifel an der Realität und Diegese des Films konfrontiert. In diesem Film spielen sich tatsächlich Dinge über und unter dem Sand ab; ein Fest der Mehrdeutigkeiten, welches mit einer Sicherheit inszeniert ist, dass es einem schon fast schwindlig wird.
Die surrealen Momente des Erinnerns und des Imaginierens sind nicht besonders innovativ. Allerdings ist die Art wie sie im Gesamtkonzept verwoben sind nahe an der Perfektion. Es gibt Augenblicke beim Betrachten dieses Films aus dem Jahr 2000, da weiß man nicht mehr, ob man sich selbst Dinge nur vorgestellt hat. Ein weiteres Thema der Filme von François Ozon ist das Erkunden menschlicher Abgründe in sexuellen Situationen. In einer bemerkenswerten Masturbationsszene sind viele Hände im Gesicht und am Körper von Charlotte Rampling zu sehen. Auch hier wird die Vorstellung wieder zur Realität, wenn auch nur für einige Augenblicke. Später ein Lachanfall: Ihr neuer Liebhaber Vincent rutscht auf ihr herum und ihr fällt auf, wie leicht er im Vergleich zu ihrem Ehemann ist. Ozon besitzt eine Beobachtungsgabe, die dort zu beginnen scheint, wo viele nicht mehr hinsehen können. In seinem Schaffen hat er nicht nur die dunklen Seiten des Daseins erkundet, sondern hat auch Komödie, wie Potiche oder gar Musicals wie 8 Femmes gedreht. Damit beweist er eine Vielseitigkeit, wie nur wenige Filmemacher sie zu besitzen scheinen.
Trotz der Geradlinigkeit des Filmes erlaubt er sich von Zeit zu Zeit spielerische Kunstgriffe. Zu Beginn des Films fährt der Ehemann, herrlich mehrdeutig gespielt von Bruno Crémer, mit seiner Hand über die Rinde eines Baumes. Die Schärfe bleibt dort für einige Sekunden auf der Rinde. Man könnte diese Einstellung als Betonung der Natur und des Lebendigen lesen. Ein unbeweglicher und alter Teil dieser Erde. Vielleicht ist es aber auch nur die Kruste einer Wahrnehmung, die zu brechen droht? Dann ertönt wieder die Musik von Philippe Rombi oder Portishead und man folgt dieser verlorenen Frau, man möchte eigentlich immer dieser Frau folgen, weil man sie so gerne verstehen würde und gleichzeitig-genau wie sie-gerne die Wahrheit wissen wollen würde oder eben lieber gar nicht wissen wollen würde. Dieses Jahr war mit Take Shelter von Jeff Nichols ein weiterer Film im Kino zu sehen, der sich mit Ängsten, Paranoia und dem Zweifel an der Realität auseinandersetzte. Wirkten die Schlussbilder in Take Shelter und Shutter Island wie ein Anhängsel, um den Zuseher zu irritieren, so ist das Schlussbild von Sous le sable von einer Poesie, die dem Kern des Realitätsverlusts deutlich näher zu kommen scheint. Denn Ozon wagt hier auch eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Erinnerns und der Macht von Bildern. Und es gelingt ihm tatsächlich dieses etwa in Kunstfilmen von Alain Resnais oder Chris Marker behandelte Thema, in eine für ein Massenpublikum taugliche Form zu bringen. Ein Film, der einen fesselt+ und nach dem Abspann gefesselt auf einem Stuhl sitzend zurücklässt.

Das Kinojahr 2012-3.Quartal


Das Kinojahr 2012 hat im dritten Quartal schon mal ordentlich angezogen und es bleibt zu hoffen, dass das alles entscheidende vierte Quartal das Jahr von einem durchschnittlichen Niveau auf ein gutes Niveau hievt.
Once upon a time in Anatolia bleibt der unangefochtene Spitzenreiter, der in Deutschland bzw. Österreich neugestarteten Filme des Jahres. Bei Nuri Bilge Ceylan spielen sich die entscheidenden Regungen und Gefühle jenseits des Inhalts und oft auch jenseits des Bildes ab. Seine klar von Michelangelo Antonioni und Andrei Tarkowski inspirierten Bilder samt oft autonomer Kameraführung, sein Gefühl für Gesichter, die Ruhe und Kraft seiner Bilder machen dieses Drama zu einem herausragenden Werk der Filmkunst. Dabei findet er selbst unter den trockensten Steppen Anatoliens noch eine Prise Humor über den die Charaktere selbst nicht wissen, ob er zum Lachen ist oder zum Weinen. Das Schauspiel wirkt trotz der übermächtigen, trostlosen Umgebung so tief, dass man fast von einem Ensemble-Drama sprechen muss. Ceylan beweist auch das Metaphorik durchaus ins Kino gehören kann. In einer langen Sequenz verfolgt er einen Apfel, der in einen Bach kullert und sich dort vom Wasser mitreißen lässt bis er an einer Engstelle, an der schon viele verfaulte Äpfel warten, hängenbleibt.

Die Premiere von Ceylans Kriminal-Meditation war in Cannes 2011. Der Sieger der goldenen Palme von Cannes 2012, Michael Hanekes Liebe läuft nun auch seit einiger Zeit in den deutschen Kinos. 
 Dabei behandelt er gewissermaßen ein Tabuthema, nämlich alte Menschen und das Sterben. Allerdings ist dieses Thema in den letzten Jahren doch vermehrt in Kinofilmen zum Gegenstand geworden, (erinnert sei beispielsweise an Wolke 9 von Andreas Dresen oder Away from her von Sarah Polley ) sodass man dem österreichischen Regisseur wohl kaum ein übergroßes Wagnis bei der Themenwahl bescheinigen könnte. Insbesondere, wenn man an das Zielpublikum der kleinen Kinos denkt. Da ist es eigentlich nur konsequent sich mit älteren Menschen zu beschäftigen. Die Unerbittlichkeit und Präzision eines Michael Haneke wurde allerdings nie zuvor erreicht. Man kann zeigen, wie eine Windel gewechselt wird oder man kann-wie Michael Haneke- beobachten wie eine Windel gewechselt wird und dabei die Dauer des Vorgangs zum Gegenstand seines Inhalts machen, denn erst durch die Dauer wird die Last und die Unerträglichkeit und gleichzeitig die Zärtlichkeit dieses Vorgangs bewusst. Das besondere an Liebe ist, dass die oft als „kühl“ verschriene Länge und Distanz der Einstellungen von Michael Haneke in diesem Fall sowohl eine Distanz des Zusehers zulässt und eine Reflektion, aber gleichzeitig auch eine emotionale Gewalt, die einen körperlich involviert. Diese Menschlichkeit wird nicht durch Sentimentalitäten erreicht, sondern durch Ambivalenz und Authentizität innerhalb der Charaktere. Es sind die Szenen, die scheinbar gar nichts bedeuten, wie das in der Nachbetrachtung herzzerreißende Bild von Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in der Straßenbahn nach dem Besuch eines Klavierkonzertes. Als kalkuliertes Wagnis sind die poetischen Szenen mit einer Taube und einige Traumsequenzen zu bezeichnen, die den Realismus unterbrechen und dadurch umso wirksamer erscheinen lassen. Jacques Audiard hatte dieses Stilmittel in Un prophete perfektioniert, wogegen Haneke damit schlicht und ergreifend noch tiefer in seine Charaktere eindringt. Und das ohne ihnen jemals zu nahe zu kommen.

Denn wo ist der Punkt, an dem Menschenwürde aufhört existent zu sein? Eine Frage mit der sich Liebe genauso beschäftigt, wie sich das Kino selbst damit beschäftigen muss. Menschenwürde, die auch in Shame von Steve McQueen ein Thema ist. In diesem Fall ist das „Tabuthema“ Sexsucht. (ein Wort, so tabu, dass es das Rechtschreibprogramm als Fehler markiert.) Ein Film, der durch die ungeheure Stilsicherheit seiner Bilder überzeugt. Hier ist alles aus einem Guss, die Kamerabewegungen, die Farben des Szenenbilds, die Musik. Der einzige Fremdkörper ist derjenige, der eigentlich wie gemahlen zu sein scheint für diese Welt, für dieses New York: Brandon, gespielt von Michael Fassbender. Er lässt sich treiben von einer Affäre in die Nächste und dabei geht es nur um einen Kick, obwohl er schon lange nichts mehr spürt. Wenn die entscheidenden Momente bei Once upon a time in Anatolia zwischen den Bildern liegen, so liegen sie in Shame direkt in den Gesichtszügen von Michael Fassbender. Dieses Abfallen der Lebenslust, diese Leere brennt sich in die Köpfe der Zuseher, sodass es einen Monate nachdem man den Film sehen konnte, noch kalt den Rücken runter läuft.

Neben Haneke machte im Jahrgang 2012 in Cannes vor allem Leos Carax auf sich aufmerksam. Sein Film Holy Motors ist ein wilder, absurder, gesellschaftskritischer Trip durch unsere (?) Gesellschaft. Man fühlt sich ein wenig wie der Zeuge des Wahnsinns. Doch dann holt einen der Film ein und man weiß nicht mehr wie einem geschieht. Sozialdrama und Fantasy-Epos in einem Film, tieftraurig und schreiend komisch, aber immer bizarr. Vor allem scheint dieser Trip ein Trip in die Freude am Kino zu sein. Carax bewegt sich wie ein Tier durch das Kino, er schleicht um die Sitze und wartet darauf uns genau das zu geben, was wir nicht erwarten. Ein Schauspieler lässt sich mit einer Limousine durch die Stadt fahren und spielt viele unterschiedliche Rollen innerhalb des Tages. Wie viele Personen muss man sein, um zu funktionieren? Und funktioniert man dann noch? Holy Motors ist ein Film, der unter seiner absurden Oberfläche philosophische Tiefen versteckt und der die sinnlosen Grenzen des narrativen Kinos offenlegt, um zu zeigen, was eigentlich auch möglich ist. Damit ist er sowohl eine Hommage an ein altes Kino, als auch ein Fingerzeig für ein neues Kino.


Deutlich bescheidener kommt da schon Martha Marcy May Marlene von Sean Durkin daher. Aber in einem gewissen Understatement und der Ruhe des Films liegt seine Stärke. Martha, gespielt von einer grandiosen Elizabeth Olsen gerät in den Bann einer merkwürdigen Sekte, um Anführer Patrick. (noch grandioser: John Hawkes) Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Glück und Unglück und schließlich auch immer mehr zwischen Realität und Imagination. Dieses Gefühl greift über die Leinwand hinaus und gibt dem Zuseher im Kino ein Gefühl des Unwohlseins, welches man noch lange nach dem Ende des Films mit sich trägt. 
Das gegenteilige Gefühl, nämlich das Gefühl des unendlichen Hypes begleitet normalerweise die Minuten nach dem Ende eines Christopher Nolan Films. Viel anders gestaltet sich das auch nicht mit dem Ende der Batman-Trilogie The Dark Knight Rises. Kritisch könnte man bemerken, dass Nolan trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten als Filmemacher auch mit dem dritten Teil nicht über gewöhnliche Blockbuster-Klischees hinwegspringen kann. So scheint er das Ende des Films um einige Minuten zu verpassen, den Actionanteil um einige Minuten zu überziehen und einige viele Male zu wenig Luft zu holen. Dennoch ist Christopher Nolan DER Blockbuster-Regisseur unserer Zeit, wenn man so möchte der Steven Spielberg seiner Generation. Im Gegensatz zu praktisch jedem anderen Superheldenfilm schafft Nolan eine kongruente Welt und verbindet einen akzeptablen Teil an Anspruch mit gut gemachter Unterhaltung. Besonders sein spürbares Augenmerk auf das Schaffen einer abgeschlossenen Trilogie muss ihm hoch angerechnet werden, insbesondere da wohl ca. ein Drittel der Zuseher Batman Begins nicht gesehen haben dürfte. Wer aber alle drei Teile gesehen hat und sich unkritisch auf die Welt einlassen kann, der hat ein Kinospektakel erlebt, dass sich nicht hinter den größten Mehrteilern der Geschichte zu verstecken braucht.

Technische Brillanz gibt es auch in Hugo von Martin Scorsese zu sehen. Jenseits der bestechenden 3D-Bilder, ist der Film (und deshalb funktioniert er auch so gut; völlig unabhängig von der Technik) ein Kinderfilm, der die Herzen von Erwachsenen höher schlagen lässt: „Der Film, den jeder gerne als Kind gesehen hätte.“ Diese Feststellung meint wohl so viel wie: „Der Film, der jeden wieder zum Kind werden lässt.“ Die Verbindung von Modernität und Klassik sowohl zum Thema des Films, als auch zum Thema seiner Form, als auch zum Thema der Filme im Film zu machen, ist ein großartiger Schritt eines Regisseurs, der vielleicht nicht mehr die ganz großen Wagnisse eingeht, aber dennoch weit davon entfernt ist einzurosten.

Zurück zu den Regungen und Gefühlen von Once upon a time in Anatolia. Diese spielen sich auch deshalb oft jenseits des Bildes ab, weil die Charaktere versuchen sie zu verstecken. Dieses Thema taucht in bemerkenswert vielen Filmen des Jahres 2012 auf: Die verdrängten und versteckten Gefühle. Brandon lässt sie in Shame höchst selten aus sich heraus, trotz seiner erdrückenden Einsamkeit. Der fürsorgliche Ehemann in Liebe tut einfach seine Pflicht. Damit schützt er sich vor der eigenen Verzweiflung, ob der Resignation seiner Frau. In Was bleibt von Hans-Christian Schmid zeigt die Figur des Lars Eidinger seine Gefühle nicht vor anderen, selbst in einem Blockbuster wie  The Dark Knight Rises muss die Hauptfigur Bruce Wayne seine wahren Emotionen vor seinem Butler Alfred verstecken. Aber was, wenn es gar keine Gefühle zu geben scheint, wie in Drive von Nicolas Winding Refn? Ein emotional abgestorbener Machotraum, der sezierend und gewalttätig seine Liebe zu seiner Nachbarin ausdrückt. Eine Mischung aus purem Trash und Kunstfilm, die zum Kultfilm avanciert.
Kult ist auch Woody Allen. Mit seinem To Rome with love erreicht er allerdings nu rein laues Niveau. Die Dokumentation Woody-A Documentary von Robert B. Weide macht das auch nicht viel besser. Ganz nett, ganz unterhaltsam, aber zum Kern des Menschen oder Regisseurs Woody Allen dringt man darin nicht vor. Genauso wenig tut man das bei Polanski- A Film Memoir, ein teilweise wahnsinnig gestellt wirkendes Interview mit dem polnischen Regisseur, das sich mit dessen außergewöhnlichen Leben und Schaffen beschäftigt. Trotzdem ist es eine gute Tendenz, dass solche Dokumentationen in die Kinos kommen. (wenn auch aus dem Internet gestreamed, wie bei der Vorführung in Augsburg.)
Hier mal die völlig subjektive Top15 2012 so far:
1. Once Upon a Time in Anatolia (Nuri Bilge Ceylan)
2. Liebe (Michael Haneke)
3. Shame  (Steve McQueen)
4. Holy Motors (Leos Carax)
5. Martha Marcy May Marlene (Sean Durkin)
6. The Dark Knight Rises (Christopher Nolan)
7. Hugo Cabret (Martin Scorsese)
8. Drive (Nicolas Winding Refn)
9. Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)
10. Stillleben (Sebastian Meise)
11. Young Adult (Jason Reitman)
12. Moonrise Kingdom  (Wes Anderson)
13. Was bleibt (Hans-Christian Schmid)
14. On the road (Walter Salles)
15. Barbara (Christian Petzold)
Die größte Enttäuschung des Jahres bleibt für mich bislang der hochgelobte Oscargewinner The Artist.
In den nächsten Wochen gibt es aber einiges, auf das man sich freuen kann:
Die Wand
Gnade
Miss Bala
Ha-shoter
Skyfall
Argo
Pieta
Cloud Atlas
Killing Them Softly
Dans la maison 
 

Was bleibt von Hans-Christian Schmid


Der 2012 Jahrgang der Berlinale war gewissermaßen ein Segen für die Augen der deutschen Kinolandschaft, denn mit Christian Petzold, Matthias Glasner und Hans-Christian Schmid konkurrierten gleich drei, der herausragenden Filmemacher des Landes, um den Goldenen Bären. Während Barbara von Christian Petzold schon kurz nach dem Filmfestival zu sehen war und Gnade von Matthias Glasner erst in einigen Wochen in die Kinos kommt (bin sehr sehr gespannt!), läuft nun also seit vergangenem Monat Was Bleibt von Hans-Christian Schmid.
In diesem in weiten Teilen an ein Kammerspiel erinnernden Drama geht es um das Zusammenkommen einer Familie, die eigentlich schön völlig auseinandergebrochen ist. Corinna Harfouch spielt eine depressive Mutter, die nach 30 Jahren ihre Tabletten absetzt. Auf der einen Seite wirkt die Familie von dem „Zustand“ der Mutter gebannt, eingenommen und gehemmt, auf der anderen Seite stellt sich nach und nach die Frage, ob die Mutter wirklich die Wurzel des Übels ist oder ob man hier Zeuge einer familiär bedingten Versammlung gescheiterter Existenzen ist. Lose Bruchstücke, die außer ihrer Verwandtschaft und der ein oder anderen gemeinsamen Erinnerung (bestehend aus musikalischen Momenten) eigentlich nichts gemein haben. Harfouch spielt die Mutter reduziert und doch stechen ihre Augen unter dem viel zu gleichfarbigen blauen Kostüm immer wieder durch die Wände. Sie wirkt instabil und hält sich schwankend aufrecht…bis sie bricht. Dabei ist sie ein Sinnbild für ihre Familie. Lars Eidinger verkörpert den Sohn, der in gescheiterter Ehe lebt, der sich selbst einen Schutzwall gebaut hat vor Emotionen und Anteilnahme, der aber innerlich zutiefst verletzt ist. Sein Bruder gespielt von Sebastian Zimmler zerbricht am Aufbau einer Zahnarztpraxis und am ewig großen Schatten seines Buchverleger-Vaters, gespielt von Ernst Stötzner, dessen Schritte die Last seines Lebens erahnen lassen. Abgründe so weit das Auge reicht.
Die Psychologie der Charaktere steht im Zentrum. Das ist aufgrund des beeindruckenden Schauspielensembles auch absolut in Ordnung und es macht Freude in den Gesichtern und Gesten der Spitze des deutschen Schauspiels zu lesen, gleichzeitig fühlt sich der Film aber häufig an wie ein Theaterstück; das liegt nicht zuletzt daran, dass man häufig das Gefühl hat die Charaktere würden sich so positionieren, dass sie ihre Szenen spielen können. Die einzelnen Szenen wirken daher auch sehr abgegrenzt. Nach dem Motto: Jetzt kommt die Szene, in der Lars Eidinger weint, jetzt kommt die Szene in der die Brüder streiten etc. Von Zeit zu Zeit wirkt es gar so, als ob sich die anderen Charaktere ähnlich einer Bühne „nach hinten spielen“, um Raum für den Dialog zu geben. Zum Beispiel, als der Vater die beiden Söhne alleine im Wald zurücklässt. 
Passend unpassend dazu auch der etablierte Kamerastil von Hans-Christian Schmid und seinem Kameramann Bogumil Godfrejow. Seine „dokumentarische“ Handkamera samt Zooms und Jump-Cuts wirkt in Was Bleibt (der Thematik geschuldet) seltsam steif. Die Dynamik und Freiheit des Stils, die zum Beispiel in Requiem oder Lichter zum Ausdruck gelangt, wirkt hier gebremst. Das liegt vor allem am Kammerspielcharakter in der ersten Hälfte des Films. Die kühlen, leeren Räume des Familienhauses schreien förmlich nach einer Ruhe in den Bildern, derer sich auch Schmid nicht vollends entziehen konnte. Er hat einen Kompromiss gewählt, der merkwürdig unausgegoren wirkt. So beobachtet man die auf der Terrasse sitzende Mutter in einem eigentlich ruhigen Bild, aber die Kamera wackelt penetrant. Dennoch zieht Schmid die beiläufige Spontanität seiner Bilder, die er gleich in der ersten Sequenz mit Lars Eidinger und seiner Frau etabliert nicht durch: Alles wirkt sehr wohl geframed und inszeniert. (Vielleicht sind die Schauspieler auch zu abgekocht?) Erst in der zweiten Hälfte lässt sich der Film dann mehr treiben und die Stärken des Drehbuchs und der Schauspieler kommen zum Vorschein. Die an die Ästhetik von Lars von Triers Antichrist erinnernden Waldszenen sind unberechenbar und frei, gewissermaßen ist die Natur eine Befreiung für die Charaktere und den Film.

Eine unheimliche Mixtur aus Drama und Spannung entsteht. Man möchte nicht mehr hinsehen. Was bleibt kann sich auf Erinnerungen beziehen, auf ein Erbe, aber auch auf den lapidaren Satz: Was bleibt einem anderes übrig? Das starke, Bernd Lange-typische Drehbuch mit Sogwirkung fesselt und lässt einem gleichzeitig die Möglichkeit zur Distanz. Zum Großteil fangen die Schauspieler die merkwürdig gestellten Szenen auf. Irgendwie habe ich mich trotzdem wie nach einem Theaterbesuch gefühlt. Aber es war kein schlechter Theaterbesuch.