Kurzfilm=Anti-Cinema? Part 2

Vor einigen Wochen hatte ich an dieser Stelle die Meinung vertreten, dass Kurzfilme und Langfilme nicht vergleichbar wären und daher die Qualitätsbestimmung eines jungen Regisseurs anhand von Kurzfilmen nicht gegeben sein kann. Dabei hatte ich mich vor allem auf Aussagen von Jean-Luc Godard und auf einen Artikel von Mike Jones berufen. (danke nochmal an Sebastian Wegscheider dafür)

Jean-Luc Godard

Nun habe ich in den vergangenen Wochen einen eigenen Kurfilm vorbereitet und gedreht. Ich hatte auch schon zuvor kleinere Kurzfilme gedreht, aber dieses Mal war der Aufwand und die vorhandenen Mittel doch um einiges größer. Daher möchte ich meine Aussagen hier noch einmal aus praktischer Sicht überdenken, weil sich bei der Wertschätzung des Kurzfilms als Sprungbrett zum Langfilm doch große Löcher auftun zwischen der praktischen Komponente des Filmemachers und der eher theoretischen Komponente des Rezipienten. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass Filmschulprofessoren, Kurzfilmfestivaljurys und Kinozuseher anhand eines Kurzfilmes kaum das Potenzial eines Regisseurs bzw. Drehbuchautors für die Produktion von Langspielfilmen erkennen können. Zu verschieden sind die Anforderungen, zu wenig Zeit hat man in eine „Art des Erzählens“ einzutauchen. Die Anforderungen an einen guten Kurzfilm sind fernab der technischen Umsetzung völlig unterschiedlich. Dramaturgie, Erzählstruktur und Etablierung von Charakteren und Orten sind an die Kürze der vorhandenen Zeit gebunden. Außerdem ist die Rezeptionssituation eine gänzlich andere, weil Kurzfilme meist im Rahmen von Zusammenstellungen präsentiert werden. Am Ende sieht man dann oft 15 Minuten Nachwuchsfilm und fragt sich wohin die investierte Zeit, die Gedanken und Emotionen, die man mit dem Projekt verbunden hat, verschwunden sind. Kurzfilme haben durchaus die Kraft einen wirklich zu begeistern oder mitzureißen, aber das funktioniert eher über eine geschickte inhaltliche Idee oder Pointe, oder gar über eine besonders ansprechenede visuelle Umsetzung. In kurz: Eigentlich ist Kurzfilm eine eigene Kunstgattung und sollte nicht mit Langspielfilmen verglichen werden.

Auf der praktischen Seite des Filmemachens jedoch muss ich meine Aussage revidieren. Kurzfilme bieten schlicht und ergreifend die Gelegenheit eine Geschichte zu erzählen und dabei einen möglichst hohen Standard zu erreichen. Je weniger Szenen/Einstellungen der Film hat, desto weniger Geld benötigt man, um einen möglichst gutes Ergebnis zu erhalten. Ist ja an sich logisch und sicherlich nichts neues, aber was bedeutet das konkret? Man kann sich in der Arbeit mit einer hohen Anzahl an Departments ausprobieren, hat die Möglichkeit sich (einigermaßen) anspruchsvolles Kamera- und Lichtequipment zu leihen, kann sich an einem geregelten Tagesablauf versuchen und lernt den Umgang mit Team und Schauspielern.Man kann viel zeit in eine vernünftige Vorbereitung legen, in der man sich auch an Kinofilmen orientiert. Bei einem langen Spielfilm würden diese Aspekte sicherlich vollends in die Hose gehen, währned sie bei einem Kurzfilm auffangbar und im Falle von Fehlern nicht so schwerwiegend sind. In der heutigen Zeit kann man sich nicht erlauben Gelder in einen langen Spielfilm zu investieren und dann mit Nachwuchsfehlern arbeiten zu müssen. Das war vielleicht noch in Zeiten von Godards À bout de souffle möglich, weil in dieser Zeit in Frankreich eine ganz andere Stimmung und Rezeption rund um das Kino von sich ging und weil die Nouvelle Vague als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung zu sehen war, die es heute so nicht gibt. Der Cineast ist tot, wenn man Kunst und Filme verbinden will, dann muss man Geldgebern und Produzenten etwas im Gegenzug anbieten. (etwa billige Produktionsbedingungen, wenige Drehtage, kleines Team o.Ä.) Wenn der französische Filmemacher Olivier Assayas sagt, dass er seine Hauptaufgabe darin sieht eine gewisse, dem Film entsprechende Atmopshäre am Set zu kreieren, dann kann man ihm damit nur beipflichten und dann muss man auch eingestehen, dass man sich in diesem Tätigkeitsfeld im Rahmen eines Kurzfilmes deutlich besser ausprobieren kann, als bei einem langen Film. Dass es junge Regisseure gibt, wie etwas Xavier Dolan, die trotzdem schon mit Anfang 20 erfolgreich längere Spielfilme drehen, ist die Ausnahme und hängt mit Zeitströmen und familiären Umfeldern der jeweiligen Filmemacher zusammen. Handlungstechnisch bewegt sich Dolan übrigens nicht fern von Kurzfilmen. Seine Inszenierung und seine besondere Beachtung von stilistischen Extravaganzen dehnt die Filme nur in die Länge und lässt sie dabei absolut unterhaltend bleiben.

Olivier Assayas
I killed my mother von Xavier Dolan

Dennoch möchte ich nochmal betonen, dass mir die pointierte und gehetzte Dramaturgie vieler Kurzfilme nach wie vor gegen den Strich geht. Dann kann man nämlich-wie Mike Jones findet-gleich Serien für das Internet machen. Zwischen Film und Serie kann man nämlich noch weit unterschieden. (trotz diverser kinoähnlicher amerikanischer Blockbusterserien wie zum Beispiel Boardwalk Empire ) Als Fazit bleibt also festzuhalten, dass Kurzfilme durchaus hilfreich sein können auf dem Weg zum sogenannten abendfüllenden Spielfilm. Aber nur, wenn das Wort „Film“ über das Wort „Kurz“ dominiert.

Postkartendramaturgie

Vor einigen Tagen habe ich mir den neuen Woody Allen Film „To Rome with Love“ angesehen. Ich hatte mich darauf eingestellt ihn gar nicht zu mögen, ihn förmlich zu hassen. Aber eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Trotz offensichtlicher Schwächen wird ein Filmemacher vom Format eines Woody Allen selten einen ganz schlechten Film machen, dafür riskiert er einfach zu wenig; er hat es auch nicht nötig zu riskieren. So ist es unterhaltsam, manchmal sehr nett sich den Streifen im Kino anzusehen. Die Stimmung war gut, es wurde viel gelacht. Was überraschenderweise nicht funktionierte war die Stadt-also Rom-im Film. Hatte man nach „Midnight in Paris“, „Vicky Christina Barcelona“, „Scoop“ (London) und natürlich in früheren New York-Filmen immer das Bedürfnis die jeweiligen Städte gleich nach dem Kino zu besuchen, so ließ mich Rom völlig kalt. Die polierten Bilder der Sehenswürdigkeiten wirkten diesmal einfach zu gezwungen, an manchen Stellen wirkte der Film wie ein Werbespot für eine Stadt, die der Regisseur nicht kennt. Bei Barcelona waren es eben nicht die Gaudi-Gebäude, die im Gedächtnis blieben, sondern die schmalen Gassen und die Charaktere, das Leben in der Stadt. Dieses hat in Rom nicht funktioniert, weil Woody Allen (nach eigener Aussage) die italienische Hauptstadt als etwas Zerstückeltes wahrgenommen hat und sich auf viele unterschiedliche Geschichten fokussierte. Ich glaube der wahre Grund, warum die Stadt nicht funktioniert, ist eine gewisse Müdigkeit von dieser Postkartendramaturgie, die nicht nur Woody Allen, sondern das ganze Kino beherrscht. Im Internet sehen wir ständig schöne Bilder von schönen Städten, im Fernsehen sehen wir ständig schöne Bilder von schönen Städten und im Kino sehen wir viel zu oft dieselben Bilder. Es spricht nichts dagegen einen Film in sagen wir Paris anzulegen. Paris ist eine Stadt viele Geschichten. Aber muss man denn immer den Eiffelturm sehen?
Postkartendramaturgie besteht aus 3 Punkten
Förderung und Produktionsbedingungen
Klischees
Postkartenbilder und die Stimmung der Stadt
        
      1. Förderung und Produktionsbedingungen
Dreharbeiten zu 360 am Ring in Wien
Natürlich bietet es sich an in gewissen Städten zu drehen. In den größten Städten des Landes herrschen häufig auch die besten Produktionsbedingungen vor. Es gibt Studios, Verleihe, Lagermöglichkeiten, Arbeiter usw. Filmemacher leben oft in diesen Städten und werden so natürlich auch davon inspiriert. Zudem ist es zur Mode geworden, dass Tourismusämter und Institutionen der Außendarstellung fördern, dass dort gedreht wird. Im Klartext: Es gibt Geld, um die Filme zu drehen. Rom wird sich einen Woody Allen Film einiges kosten lassen und Rom wird dem Filmteam gerade deshalb auch erlauben an schwierigen Drehorten, wie zum Beispiel in dieser Wohnung oberhalb der Spanischen Treppe zu drehen. In dem ebenfalls im Kino laufenden „360“ von Fernando Meirelles wird in einem Gespräch erläutert wie praktisch die Ringstraße in Wien doch ist. Dann gibt es eine Fahrt auf dem Ring, indem per Youtube-Ästhetik die Sehenswürdigkeiten entlang des Rings eingefangen werden. Das sieht dann wirklich so aus wie ein Tourismusvideo und hat nichts in diesem Film verloren. Förderung ist gut, solange sie sich aus der Dramaturgie hält. Es bringt ja auch nichts ein Coca-Cola Sponsoring zu bekommen, wenn die Bedingung von Coca-Cola ist, dass in einem Mittelalter-Film aus Cola Flaschen getrunken wird.
      
      2.       Klischees
Paris je t’aime-Vielleicht der Gipfel der Postkartendramaturgie?
Eigentlich spricht nichts dagegen einen Film in einer großen und bekannten Stadt zu drehen. Leider ergeben sich die gedrehten Filme aber oft den Klischees von Land und Leuten. Woody Allen selbst macht das seit Jahrzehnten mit einer Art Augenzwinkern, das ihn rettet. Seine Römer singen Oper unter der Dusche, sind streng katholisch, gestikulieren wie wild und lieben das Essen. Seine Spanier sind temperamentvoll, streiten viel und lieben das Leben. Allen ist halt ein Comedian, man muss es ihm verzeihen. Wie viele Österreicher haben eine sexuelle Störung in Filmen? Anderes Thema, aber diese Klischees hängen tatsächlich am jeweiligen Film und es gibt auch tolle Ausnahmen, die Städte und ihre Bewohner von anderen Perspektiven zeigen. Viel schlimmer sind die filmischen Klischees, denen man scheinbar folgen muss. Die Bilder, die dem Zuseher schon in den Kopf kommen, bevor  er ihn gesehen hat. Diese offensichtliche Frage: Wie Filme ich diese Stadt? Leider sieht das häufig sehr gleich aus. Diese grausamen Establishing-Shots, in denen dann eben der Eiffelturm zu sehen ist und man weiß: „Ah, das ist Paris.“. Wir Europäer tun uns unheimlich schwer den jeweiligen Ort mit zu erzählen. Im amerikanischen Kino passiert das wie von selbst. Es hat einfach eine gewisse Bedeutung, ob ein Charakter aus Texas kommt oder aus New York. Oft sind das auch Klischees, die bedient werden, aber es wirkt nicht so klischeehaft oder um es anders zu sagen: Im europäischen Kino, von den Schtis, über Rosenmüller-Filme bis zu Woody Allen gewinnen Locations fast ausschließlich in Komödien an Bedeutung. Manchmal sind es noch Coming-of-Age Filme nach dem Prinzip: Ich komme vom Land und bin jetzt endlich in der großen Stadt. Die Körperlichkeit amerikanischer Filme wird kaum erreicht. Man sieht einem Charakter fast an, woher er kommt in vielen Übersee-Produktionen. Wir können uns fast nur lustig machen über unterschiedliche Kulturen. In den seltensten Fällen setzt sich das europäische Kino ernsthaft damit auseinander, zumindest das westeuropäische Kino. Westeuropa produziert Wohlstandsfilme, die sich mit der Vergangenheit oder mit besonderen Charakteren beschäftigen und nicht mit geographisch-geschichtlichen Hintergründen. Diese werden-wenn überhaupt-als billig anmutende Backstory eingeführt. Frei nach dem Motto: Er kommt aus der ehemaligen DDR, es muss ihm schlecht gehen.
      3.       Postkartenbilder und die Stimmung der Stadt
Und dann sehen wir eben das Colosseum und den BigBen, die Manhattan-Bridge, die Wiener Oper, den Berliner Hauptbahnhof und den Triumphbogen. Man nehme einen Drehort, stelle die Charaktere davor und erfinde irgendeine halbwegs plausible Szene, die sich dort abspielen könnte. Die Leute erfreuen sich der schönen Bilder und achten nicht so sehr auf den Ort, schließlich ist das ja Kino und es soll schön groß und unterhaltsam sein. Die Dramaturgie solcher Filme ist höchst interessant, weil die Story lediglich als roter Faden zwischen den berühmten Orten dienen muss. Wenn man seinen Charakteren folgt, dann landet man vielleicht eher in der mexikanischen und marokkanischen Wüste, wie Alejandro Gonzales Iñárritu in „Babel“. Somit hat der Ort innerhalb der Postkartendramaturgie eine größere Bedeutung als die Charaktere. Es geht sogar noch weiter. Die Charaktere werden dem Ort angepasst, um die Stimmung der Stadt zu vermitteln. Es gibt dann immer den abenteuerlustigen Charakter, der sich einfach durch die Stadt treiben lässt, es gibt immer den Charakter, der das alles zum ersten Mal sieht und erlebt (so wie wir?) und es gibt den Einheimischen, der seine Sicht der Dinge-ähnlich einem Fremdenführer-schildert. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn man zehn solcher Filme im Jahr sieht, hat man schon fast die Hinreise zu einem dieser Orte bezahlt. Aber in unserer Gesellschaft sind Fotos von Dingen manchmal genauso wichtig, wie das tatsächliche Erlebnis und das haben die Filme schon lange Zeit vor Facebook gemerkt.
Kino ist nun mal ein Ort des Sehens und Staunens mag man dagegenhalten. Das stimmt, aber möchte man nicht neues und anderes sehen? Reicht es, wenn man immer von denselben Orten träumt, fremdgesteuert von den reichsten und bedeutendsten Städten und Ländern des Planeten? Das einzige, was man wohl dagegen tun kann, ist sich Filme aus anderen Kulturen anzusehen. Thailändische, chinesische, argentinische, afrikanische Filme. Es gibt auch viele europäische Filme, die einem kein Postkartengefühl geben. Dennoch ist die Postkartendramaturgie ein Missstand unseres Kinos. Bereist man eine fremde Stadt ist der erinnerungswürdigste Augenblick in den seltensten Fällen vor oder in der Nähe der großen Sehenswürdigkeiten. Es sind die Hotelzimmer, die kleinen Gassen, das verlassene Ufer am Fluss, der abgefuckte Park, an dem die wichtigen Dinge passieren. Dahin muss auch das Kino. Gerade hat Richard Linklater mit Julie Delpy und Ethan Hawke ein weiteres Sequel zu „Before Sunrise“ in Athen gedreht. Es heißt „Before Midnight“ und er wird (geschätzt) einer krassen Postkartendramaturgie folgen. Im ersten Teil, der in Wien spielte, funktionierte diese Dramaturgie. Weil man den sich treibenlassenden Charakteren einfach gefolgt ist. Im zweiten Teil „Before Sunset“ in Paris fühlt man sich schon deutlich mehr fremdgesteuert. Athen ist zumindest etwas ungewöhnlicher, man darf gespannt sein. Viel Förderung dürfte man ja im Moment auch nicht bekommen von Athen…

Holy Motors von Leos Carax

Alles ist möglich. Ein Film, wie die Schachtel Pralinen von Forrest Gump, der durch einen scheinbar unsichtbaren roten Faden, der nur auf der interpretatorischen Ebene zu existieren scheint, zusammengehalten wird. Bei Leos Carax regiert die völlige dramaturgische Freiheit. Seine Bilderströme sind assoziativ, seine Inszenierung ist eine Wundertüte. Holy Motors ist ein Film, der das Kino verehrt und gleichzeitig verurteilt. Die wilden, selbstreflexiven Sprünge, die sich der Film praktisch im Minutentakt erlaubt mögen für den ein oder anderen Zuseher zu viel des Guten sein, aber der in Cannes gefeierte Film des 51jährigen Franzosen ist einer der bedeutendsten Filme des Jahres. Insbesondere, weil es diesen roten Faden tatsächlich gibt.
Ähnlich wie in Cronenbergs Cosmopolis fährt der Hauptcharakter mit einer Limousine durch eine vielleicht gegenwärtige/vielleicht dystopische Welt, ähnlich wie bei Cronenberg übt der Film massive Gesellschafts- und Medienkritik, sobald man sich in dem Gewirr aus Begegnungen und Momentaufnahmen zurechtfinden kann. Das war es aber auch schon mit den Parallelen zwischen den beiden Filmen, denn Holy Motors  besitzt eine Humanität, Vitalität und Freiheit, die dem kühlen und bemüht wirkenden Robert Pattinson-ist-doch-cooler-als-ihr-dachtet-Vehikel des kanadischen Kultregisseurs völlig abgeht. Carax führt den Zuschauer in einen sich ständig drehenden Kreis, der Emotionen, indem man ab einem gewissen Zeitpunkt immer wieder von vorne angespannt erwartet, ob man gleich lachen, weinen oder nachdenken wird. Manchmal muss man alles gleichzeitig. In seiner surrealen Episodenstruktur erinnert der Film manchmal an Buñuels Das Gespenst der Freiheit, aber eigentlich erinnert der Film an nichts, was man bisher gesehen hat. 
In Carax‘ Filmographie gibt es zwei wiederkehrenden Charaktermotive:  
Den (total) verrückten Mann und die begehrenswerte, traurige Frau.  
Sein „verrückter Mann“ ist wie so oft Dennis Lavant, der in diesem Film in elf verschiedene Rollen schlüpft, die alle durch ein Masken- und Kostümsortiment im Inneren der Limousine zusammengehalten werden und durch die prinzipielle Idee des zerstückelten Schauspielers bzw. Menschen. Lavant besticht durch eine Körperlichkeit, die manchmal schier aus der Leinwand zu springen scheint. Holy Motors zwingt den Schauspieler förmlich dazu eine riesige Bandbreite an Facetten zu zeigen, die Struktur des Films erfordert völlig Auslieferung und Einfühlung, die mit einem Ruck aufgebrochen werden muss und in rasender Geschwindigkeit gewechselt werden muss. Es ist auch ein Film über das Wesen des Schauspielers, eine Parabel auf die Schauspielerei und in deren Zentrum steht mit Lavant ein Mann, dem keine Grenzen bekannt sind, der sich scheinbar mit geschlossenen Augen durch den Film tragen lässt und ein beeindruckendes Ergebnis abliefert. Die begehrenswerte Frau wird in Holy Motors von mehreren Schauspielerinnen dargestellt. Carax versteht es, wie kaum ein zweiter, Frauen zwar als das Objekt der Begierde zu installieren, aber ihnen durch eine einfühlsame, präzise Beobachtung einen eigenständigen Charakter zu geben. Seine Frauen haben Schwächen, aber in ihre Verletzlichkeit oder Naivität liegen oft ihre Reize. Er verliebt sich (im wahrsten Sinne) in seine Schauspielerinnen und erforscht ihre Gesichter und Körper nach einer Wahrheit, die er dann in einem destruktiven Anfall vernichten kann. Eva Mendes, Kylie Minogue, Edith Scob und eine wundervolle Elise Lhomeau tragen alle eine Trauer in sich, die sie begehrenswert macht. Gleichzeitig wird mit ihnen die Rolle der Frau thematisiert.
Den Film zu interpretieren halte ich für anmaßend. Man kann nur Eindrücke und Assoziationen schildern. Holy Motors beschäftigt sich mit der Welt in einer ständigen Beobachtungssituation, einer Welt, in der die Kameras verschwindend klein werden, aber wir uns ihrer Existenz immer bewusst sein müssen. Es geht um Schauspielerei, das Wesen des Schauspiels, der Wahnsinn in der Herausforderung unterschiedliche Rollen in kurzer Zeit zu spielen; genauso spielen alle Menschen diese Rollen. Sie wechseln und manchmal würde man sich wünschen, dass man eine Akte bekommen würde wie im Film, in der einem die Familie, Freunde und Geschäftspartner erklärt werden, bevor man sie jeden Tag sieht. Wir leben in einem Zeitalter der Bruchstücke, wie das zerstörte Puppenkabinett am Ende des Films, in einer Welt der ständigen Selbstmultiplizierung, wie in der Szene in der Lagerhalle. Es ist, als hätten wir mehrere Leben. Wir entfremden uns vor uns selbst und werden müde, wir handeln nach Mustern, fast automatisch und motorisiert. Unsere Emotionen werden auf Abruf geweckt und entsprechen bestimmten Vorstellungen. Insbesondere im Kino und darum geht es Leos Carax offensichtlich auch. Film als Medium, das Menschen ausstellt, auf der Suche nach Bildikonen. Carax bekämpft das Kino mit cineastischen Mitteln. Seine Stille ist immer die totale Stille, seine Musik trifft einen ins Mark. 
Dabei erlaubt sich der Regisseur immer wieder Ausflüge in den Wahnsinn. Einen Wahnsinn, der ihn am Leben zu halten scheint. Hier steht ein Filmemacher, der schreit: Ich bin frei. Fangt mich doch. Ihr bekommt mich nicht. Dass es noch Leute gibt, die diesen Wahnsinn fördern, ist von einer derartigen Wichtigkeit, dass man ihnen dankend die Füße küssen sollte. Das Kino war gut gefüllt, weil es eben immer noch bzw. gerade heute genug Leute gibt, die am Wahnsinn interessiert sind. Weil das Leben eben auch so ist, wie eine Schachtel Pralinen. Aber wie kann man gleichzeitig eine Hommage an das Kino liefern und einen Abgesang auf dessen Existenz? 
Der Regisseur bringt es auf den Punkt:
„Cinema is my country but it is not my business“